Pigi’s kleine Geschichten

von Marie Louise Lagger

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Wer ich bin ...

Portrait AutorinTja, das ist eine gute Frage. Wenn ich diese Frage beantworten könnte, wäre ich ein ganzes Stück weiser. Ich bin 48 Jahre alt, was kaum so bleiben wird, und wohne seit etwas über drei Jahren in Irland. Ich komme aus dem Schweizer Hochgebirge und habe somit einen unerschütterlichen starken Willen und Freiheitsdrang. Meine Mutter brachte mich nach den ersten sechs Monaten meines Lebens zum Arzt und sagte: „Entweder können sie das da – und sie zeigte auf ihr plärrendes Mädchen – abstellen, oder sie können sie zurückhaben. Sie haben sie auf die Welt gebracht, und nun sagen sie mir bitte augenblicklich, was ich da tun kann.“ Der Arzt konnte ihr keinen Rat geben, und meine Mutter ist immer noch ratlos. Ich werde mich wohl nie richtig anpassen können, und das ist vielleicht ein Grund, warum ich Irland so liebe. Ich kann hier leben wie ich will, und niemand macht mir Vorschriften.

Da ich mit 15 Jahren keine Ahnung hatte, was ich mit meinem Leben so anfangen sollte, besuchte ich für drei Jahre die Handelsschule, wo ich vor lauter Langeweile fast starb. Als ich 18 Jahre alt war, zog ich für neun Monate nach Paris und anschließend für dreieinhalb Jahre nach Florenz. Anschließend lebte ich zweieinhalb Jahre in Zermatt, bis mir das Matterhorn auf den Kopf fiel und ich nach Bern zog, wo ich die folgenden 18 Jahre wohnte. Daneben besaß ich ein kleines Ferienhäuschen im Emmental, das ich immer noch sehr vermisse.

Reif für die Insel

Als junge Frau (1980, 1981) war ich zweimal in Irland gewesen, und wenn ich auf meinen späteren Fernreisen nach Süd- und Mittelamerika, Asien und Afrika auch viel von der Welt sah, ging mir die grüne Insel nie aus dem Kopf. So kehrte ich nach langen Jahren für zwei Wochen nach Irland zurück. Das Land hatte sich immens verändert, und doch war etwas von dem geblieben, was ich so liebte. Und plötzlich packte mich 2005 wieder die Abenteuerlust. Ich war 44 Jahre alt und reif für die Insel. „So, lange genug brav gewesen“, sagte ich mir, „jetzt muss wieder einmal etwas geschehen.“ So nahm ich mir eine dreimonatige Auszeit und fuhr (nicht flog!) nach Irland.

Ich fühlte mich wohl, wie schon lange nicht mehr. Da ich seit 1998 ein bis zweimal im Jahr Urlaub in Westport gemacht hatte, kannte ich einige Einheimische. Langsam bildete sich ein kleiner Freundeskreis. Als ich mit wehem Herzen zurück nach Bern fuhr, traf mich zu dem Katzenjammer, dass der unbezahlte Urlaub zu Ende war, zwei Stunden nach meiner Ankunft ein weiterer Schlag: Wegen einer Umstrukturierung hatte ich meinen Arbeitsplatz verloren.

Was nun? Ich machte mich auf die Arbeitssuche, doch in der Schweiz war einfach nichts Interessantes zu finden, und für einen langweiligen Job fühlte ich mich zu alt. Bei einem früheren Irlandaufenthalt hatte ich nur so zum Spaß in Kylemore Abbey meinen Lebenslauf abgegeben. Kylemore Abbey, ein beeindruckendes Schloss in der Abgeschiedenheit Connemaras, das ein Kloster und bis vor kurzem ein von den Nonnen betriebenes internationales Mädchen-Internat beherbergte, ist eine beliebte Touristenattraktion. Und siehe da, an meinem letzten Tag bei meinem alten Arbeitgeber, es war der 12. Februar 2006, erhielt ich eine E-Mail aus Kylemore mit der Anfrage, ob ich nicht Lust hätte, dort im Craftshop zu arbeiten.

Nun saß dieser Wurm in meinem Hirn. Richtig Englisch zu lernen, war immer schon mein Wunsch gewesen. Ich flog noch einmal für vier Tage nach Irland, und am 17. März 2006 stand mein Entschluss fest. Das einzige Problem war, in nur sechs Wochen meinen gesamten Haushalt aufzulösen, sprich die Wohnung in Bern und mein Ferienhaus im Emmental. Nun ging der Kampf los. Unter ‘normalen Umständen’ hätte ich dafür sechs Monate gebraucht, denn die Mühlen der Bürokratie mahlen bekanntlich sehr langsam. Es lagen nicht nur Steine, sondern ganze Felsen auf meinem Weg. Irgendwie schaffte ich es, doch frage mich keiner wie.

Ich komme an

Es war der 25. April und ein strahlender Frühlingstag, als ich um 9 Uhr morgens in meinen vollgepackten Subaru stieg und mutterseelenallein Richtung Irland losfuhr: 600 kg Gepäck an Bord und ein flaues Gefühl im Magen. Ich war drei Tage unterwegs. In Westport eingetrudelt, war ich am Ende meiner Kräfte, überglücklich, und doch war mir etwas weinerlich zumute. Aber die Sonne schien, und die Bucht mit ihren 365 Inseln lag in einem goldenen Licht.

Zwar hatte ich bereits einen kleinen Freundeskreis und wurde liebevoll empfangen, doch darf man als Zugereiste nicht erwarten, von den ‘Locals’ als eine der ihren akzeptiert zu werden. Es braucht Jahre, um sich in eine fremde Kultur einzuleben, und auch dann wird man für die Einheimischen auf Lebzeiten ‘die Schweizerin’, ‘der Deutsche’ oder was auch sonst immer bleiben.

Ich hatte mir eingebildet, fließend Englisch zu sprechen, doch das war eine Fehleinschätzung, wie sich bald herausstellte. Ich legte eine perfekte sprachliche Bauchlandung hin. Da das Englisch der Iren sehr spezielle Eigenarten hat und überaus bilderreich ist, passierte es mir oft, dass ich absolut nicht wusste, wovon die Leute redeten. Noch heute ergeht es mir manchmal so. Erzählte jemand einen Witz, so lachte ich – wenn überhaupt – eine halbe Stunde später. ‘Englisch lernen in drei Monaten’ ist leider nur ein schönes Märchen, das sich gut verkauft. Zur Zeit arbeite im Kundendienst einer amerikanischen Firma, die Ausstellungsmaterial herstellt. Da ich technisch völlig unbegabt bin, stand ich oft mit staunenden Augen da und wusste nicht, worum es überhaupt ging. All diese technischen Ausdrücke, alle diese Schrauben und Zargen usw.! Es war eine knallharte Zeit, aber dann hatte ich den Durchbruch geschafft.

Mein Start in Irland

Die ersten drei Monate wohnte ich nicht bei Westport, sondern hauste 80 km weiter südlich in Kylemore Abbey mit meinen 600 Kilogramm Gepäck in einer – kein Tippfehler! – 5 m² großen Zelle. Der Arbeitslohn betrug 8 Euro die Stunde. Die Anlage liegt in der wild-romantischen Gegend Connemaras, weit und breit nichts als Schafe, und von einem Mobile-Empfang konnte ich nur träumen. Wäre in dieser Zeit der dritte Weltkrieg ausgebrochen, so hätte ich es nicht erfahren.

Kylemore Abbey Irland, © 1993 Juergen KullmannSchloss Kylemore ist ein Märchenschloss im Tudorstil, erbaut vom Kaufmann Mitchell Henry für seine Frau Margaret, die jedoch 1875 nur drei Jahre nach Fertigstellung des Schlosses während einer Ägyptenreise starb. Mitchell Henry überlebte seine Frau um fast vierzig Jahre und liegt nun zusammen mit ihr in einem Mausoleum nahe dem Schloss begraben. 1920 erwarb es der Orden der Benediktinerinnen und richtete dort ein internationales Mädcheninternat ein. Später kamen die Touristen, und heute findet man vor dem Schloss einen riesigen Parkplatz, ein großes Selbstbedienungsrestaurant zur Abspeisung der unzähligen Coach-Tours, die hier täglich vorfahren, und einen der besten Craftshops des Landes.

Ich arbeitete in der Boutique des Craftshop. Die Arbeit war anstrengend (täglich acht Stunden auf den Beinen), machte mir jedoch auch viel Spaß. Die Menschen waren einfach herrlich. Nach drei Monaten in Kylemore fand ich Arbeit in einer Kleiderfabrik (Import/Export zwischen China und Irland). Die Fabrik befand sich in Westport, und so zog ich zurück in die Zivilisation. Auch hier verdiente ich zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig. Ich hatte eine kleine Zweizimmer-Wohnung in einem sehr schönen Haus mit großem Garten und Blick auf die Clew Bay gemietet. Dann wurde das Haus leider zum Verkauf ausgeschrieben, und ich zog in das um, in dem ich jetzt wohne. Schließlich fand ich nach sechs Monaten in der Kleiderfabrik meinen jetzigen Arbeitsplatz und bin trotz aller Anfangsschwierigkeiten zufrieden.

Ausblick

Irgendwo habe ich einmal gelesen: Die größte Sünde ist ein ungelebtes Leben. Es braucht viel Lebensmut und Selbstvertrauen, seine Träume zu leben. Wer jedoch immer nur träumt, dessen Träume werden mit der Zeit schal und lösen sich schließlich auf. Zurück bleibt eine Verbitterung und Enttäuschung über sich selbst.

So möchte ich eines Tages, wenn die Zeit reif dafür ist, als eine zufriedene alte Frau diese Welt verlassen, und dies mit einem schelmischen Augenzwinkern und einem stillen Lächeln. Ich will in meinen alten Tagen sagen können: „Ich habe gelebt.“ Das ist der wahre Grund, warum ich den Mut aufgebracht habe, diesen Schritt und andere zu wagen.

*  *  *

Nun aber lege ich los und beginne sie aufzuschreiben, Pigi’s kleine Geschichten, wie ich sie genannt habe. Pigi (sprich Pitschi) kommt von Pigeon Point. Es ist dies die alte Küstenwache in Westport, wo ich so oft meinen Urlaub verbracht hatte und an der ich sehr hänge.

 
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© 2009 Marie Louise Lagger / Lektorat JK