Das Land der Träume

von Lord Dunsany

Aus seinem 1936 erschienenen Buch ‘My Ireland’,
übersetzt von Jürgen Kullmann

DGeheimer Garten bei Clifden, © 2014 Juergen Kullmannas wahre Irland ist ein Land der Träume. Der Träume wegen schicken wir Minister nach Polen und Ruritanien, der Träume wegen haben wir einen Minister für auswärtige Angelegenheiten und leisten uns eine Armee. Und wenn wir beim Spazierengehen nicht in die Sterne schauen oder am hellen Mittag nach ihnen suchen, blicken wir über unsere Schultern auf das zurück, was seit Ewigkeiten vergangen ist, spähen noch weiter zurück durch den Dunst und den Nebel der Zeit, um in dem Glanz, der unsere quicklebendigen Träume umgibt, hell und klar die Könige und Helden jener Tage zu sehen, die es nie gab, um an alledem Anteil zu haben.

Keine Nation soll uns unsere Mythen und Fabeln nehmen, keine beweisen, dass unsere Halbgötter nicht existierten: wir würden eher auf St. Patrick verzichten, so wie St. Patrick auf Schlangen verzichtete und sie verbannte. Und warum würden wir das? Weil St. Patrick real war und für sich selbst sorgen kann. Die irischen Schlangen hingegen haben nie gelebt, und so brauchen sie unsere Unterstützung. Sie brauchen diese, und sie sollen sie haben! In Stein gemeißelt oder auf Pergament, lange Schlangen mit den Kiefern von Krokodilen sind darauf unsere bevorzugte Gestalten.

In England sind die Männer stolz darauf, die Schwachen zu schützen, doch für uns ist das nicht ritterlich genug: wir schützen die nicht Existierenden. Solange ein Ire lebt um sie zu verteidigen, wird kein Phönix sterben, noch wird es ein Leprechaun oder eine Fee. Und was unsere vorgeschichtlichen Könige, Götter der Altvorderen und Halbgötter betrifft, so sind sie unserer Loyalität gewiss, und wir sind genauso wenig geneigt, einen von ihnen für irgendetwas Modernes in Stich zu lassen, wie wir es für die Entdeckung eines noch älteren irischen Halbgott täten.

Wenn die Vorfahren eines Mannes für James II gekämpft haben, drückt das der Familie einen politischen Stempel auf, wenn er jedoch ernst genommen werden will, muss er ein paar tiefer in die Vergangenheit reichende Neigungen vorweisen können und ein Interesse an Könige und Helden zeigen, die dieses Interesse brauchen, denn außer in unseren Liedern, Träumen und Diskussionen haben sie nie gelebt.

Was für eine Kolonie hat England schon gegründet, verglichen mit uns? Amerika wäre ein klägliches Beispiel. Da gibt es nichts, was einem Vergleich standhalten könnte: Amerika war bereits da, die Engländer mussten nur noch ihren Fuß darauf setzen und, nachdem sie es getan hatten, ein bisschen kämpfen und die rechtmäßigen Besitzer des Landes umbringen. Was ist das verglichen mit unserem Hy Brasil*, dem Kontinent im Atlantik? Das ist eine unserer Kolonien. Wir haben sie nicht nur entdeckt, nein, wir haben sie uns selbst ausgedacht und erfunden.

Wenn wir abgesehen von den vielen hundert Siegen, die unsere Halbgötter gewonnen haben, einen weiteren wollen, werden wir uns morgen einen singen. Und nichts, was Historiker von euren Taten berichten können, kann mit dem mithalten, was unsere Sänger von unseren erzählen werden. Historiker! Was können sie schon? Sie brauchen Material für ihre Arbeit, ohne dem läuft nichts. Unsere Sänger jedoch können uns verherrlichen, ohne dass wir irgendetwas getan hätten. Und sie machen daraus eine bessere Geschichte als irgendeiner von euren Historikern.

Also lasst uns Platz nehmen und vor unseren Türen unsere Pfeifen rauchen, lasst unsere Sänger von unseren Ruhmestaten berichten, und wir werden Napoleon nicht darum beneiden, sein Wappen an die Mauern Troyes geheftet zu haben, oder sonst irgendwo hin, wo er einen seiner mühsamen Siege errungen hat.

* Der Name bedeutet Ort des Friedens und Harmonie. Die Insel, auf der alle Pflanzen und Bäume Blüten tragen und alle Früchte und Steine Edelsteine sind, wurde der Sage nach von keltischen Mönchen im sechsten Jahrhundert entdeckt. Sie ist völlig von Nebel umschlossen und nur alle sieben Jahren an einem Tag sichtbar.

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Aus: Lord Dunsany, My Ireland, Kap. XXX (A Conversation in London), S. 267– 269, London 1936.
Ausgegraben und ins Deutsche übersetzt von Jürgen Kullmann