Irisches Tagebuch 1995

Von Dingle nach Connemara

 

Sonnabend, 3. Juni 1995

ADirty old Town, © Hildegard Vogt-Kullmannlles hat geklappt: der Flieger war pünktlich und ein erst wenige Monate alter Nissan Micra wartet am Flugplatz auf uns. Nur wenige Meilen bis Limerick, die ‘schmutzige alte Stadt’ am Shannon. Wir passieren den Fluss, grau wie die Stadt, und sind zum ersten Mal im County Kerry, unterwegs nach Dingle. Hier im Süden sind die Straßen besser als in Connemara, wenngleich etwas langweiliger – ohne Sheep Ahead! und die berühmten Connemara Pot Holes, bei denen man so herrlich die Trefferquote zählen kann. Doch weiter die Dingle-Peninsula hoch, wird dies wohl anders sein.

Mit etwas Glück und Zufall, respektive dem phänomenalen Orientierungsvermögen meines Mädchens, haben wir unseren Zaunkönig bzw. An Dreoilín, wie sich unser Guesthouse nennt, fast auf Anhieb gefunden. Sehr nette Zimmer, von dem Loch in unserem Bettgestell einmal abgesehen, das wir mit Kissen stopfen.

Der Name ‘An Dreoilín’, engl. ‘The Wren’ und deutsch ‘Der Zaunkönig’, passt zu einem Guesthouse in Dingle, doch da die Stadt das Tor zur Corca Dhuibhne Gaeltacht ist, werden wir sie von nun an An Daingean nennen. An Daingean bedeutet ‘die Festung’ und ist berühmt für seine Wren Boys, maskierte Jugendliche in Fantasiekostümen, die am St. Stefansstag in einem mit Bändern geschmücktem Strauch einen Zaunkönig vor sich her tragen und mit viel Geschick komplizierte Stepptänze aufführen, bis sich die Hausfrau ihrer erbarmt:

Der Zaunkönig, der kleine Wicht
Saß Weihnachten im Ginster dicht,
Und ward gefangen,
Mit Spießen und Stangen.

Hausfrau, hast du Wein und Braten,
Spendier uns was, sei dir geraten!
Häng auf den Kessel, hol Eier und Fisch,
Gib uns ’nen Schilling, sonst geh’n wir nicht.

An DreoilinUnd so finden wir im Treppenhaus unseres Zaunkönigs eine wahre Galerie mit alten und uralten Fotos, auf denen die Wren Boys durch An Daingean ziehen.

Unser Landlord, der fear an tí, heißt Aodán und des weiteren folglich nicht Kennedy, sondern Ó Cinnéide. Seine Sprache klingt arg ‘vernuschelt’ für deutsche Ohren. Als wir ihn später mit der Dame des Hauses, der bean an tí, reden hören, haben wir den Eindruck, dass sich beide auf Gälisch unterhalten, doch so ganz sicher sind wir uns da nicht.

Voll ist es in dem Städtchen. Die etwa 1500 Einwohner scheinen sich vervielfacht zu haben, doch das liegt wohl am Bank Holiday Weekend. In einem musiklosen Pub stärken wir uns zunächst an der Bar mit Food, mein Mädchen, ihre Cousine und ich. Barfood, das geht heutzutage längst über Sandwichs hinaus, und mitunter gibt es das gleiche wie im Restaurant ein Stockwerk höher – nur etwas preiswerter und in viel interessanter Atmosphäre. Anschließend einen Pub mit Musik zu entern ist für uns gar nicht so einfach – wenn es draußen besonders gut klingt, bekommen wir keinen Fuß hinein. Also schließen wir einen Kompromiss und landen in einem Pub, in dem die Musik nicht ganz so berauschend ist – die Getränke schon eher.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Sonntag, 4. Juni 1995

Als ‘Early Birds’ sind wir die Ersten beim Frühstück, das zwischen 9.30 und 10.00 Uhr serviert wird. Irische Zeiten. Ein solides irisches Frühstück, von Aodán, dem Hausherrn, serviert und seiner Landlady nebenan in der Küche zubereitet. “Wojuwonn?” fragt er, was wir als ‘what do you want’ interpretieren. Und die Getränke? Mein Mädchen überredet mich zu Tee. Eine weise Entscheidung, ihre Cousine ist vom Kaffee weniger begeistert. Doch sanfte irische Musik aus einem Deckenlautsprecher tröstet darüber hinweg.

Dusk at Dingle, © P. GuilfoyleWir machen einen Rundgang durch An Daingean. Bunte Häuser und vor allem eine lange Straße, die sich über den Hügel zieht, während unten an der Pier die Fischkutter vor Anker liegen. Unser Zaunkönig liegt nahe der Kreuzung bei der ‘Kleinen Brücke’, wo es links zum Conor Pass hoch und rechts zum Hafen hinunter geht. Noch ist es ruhig im Städtchen, an diesem sonnigen Pfingstsonntagmorgen. Die ersten Läden und Craftshops öffnen gerade. Als erstes erstehe ich eine Beschreibung des Lebens auf den Aran Inseln aus dem Jahre 1934. Der Autor ist Tom O’Flatherty, ein Bruder von Liam O’Flatherty, dem Verfasser des Romans über die Hungersnot von 1848. Wie sein Bruder hatte Tom zunächst viel für die russische Revolution übrig und wandte seine Sympathie später den Trotzkisten zu. Es gäbe da auch noch einen Film, The Men of Aran, erzählt uns die Verkäuferin, doch den kennen wir schon, er erinnert uns zu sehr an deutsche Blut-und-Boden-Filme aus der gleichen Zeit.

Am Nachmittag fahren wir entlang der Küste zum Blasket Heritage Centre nach Dún Chaoin oder Dunquin, wie es auf Englisch heißt. ‘Schmuckes Fort’, könnte man auf Deutsch sagen. Arg viel Verkehr auf der schmalen Straße, und besonders viele Coach-Tours. Es ist es das erste Mal, dass es nicht auf der Straße stehende Schafe oder Kühe sind, die den Verkehr stocken lassen. Das Blasket Heritage Centre selbst steht etwas deplaziert in der Landschaft, früher soll hier ein romantisches zerfallenes Cottage gestanden haben. Vielleicht hätte man das Besucherzentrum in Dún Chaoin errichten sollen, auch ohne Blickkontakt zu den Blasketinseln.

Die Große Blasketinsel, An Bhlascaod Mór, ist nicht nur eine geographische Insel: bis zu ihrer Räumung im Jahr 1952 war sie auch eine Sprachinsel, auf der ausschließlich Gälisch gesprochen wurde, erfährt man im Heritage Centre. Womöglich wüsste heute kaum noch jemand etwas von dem Leben auf der Insel, wären nicht zu Beginn des Jahrhunderts der Norweger Carl Marstrander und der Engländer Robin Flower – Bláithín, Blümchen, nannten ihn die Insulaner – dort gelandet um Gälisch zu lernen. Und weder Tomás Ó Criomhthain noch Muiris Ó Súilleabháin noch Peig Sayers hätten ihre Lebensgeschichten aufgeschrieben bzw. diktiert, mit denen sich heute viele Schüler im Gälischunterricht herumschlagen – oft nicht freiwillig, wie uns ein Mann aus Dublin verriet, der sich als Opfer fühlte. Doch zunächst einmal musste man die künftigen Literaten zum Schreiben bringen. So hielt Tomás Ó Criomhthain sein Leben und das der Inselbewohner für zu unbedeutend um zur Feder zu greifen, bis ihm Robin Flower die Autobiographie Maxim Gorkis zu lesen gab und einen Waterman-Füller schickte.

200 Einwohner hatte die Große Blasketinsel in ihrer ‘Blütezeit’ und die Literaturproduktion ging weiter, auch wenn nicht alles von gleicher Qualität war. Heute ist die Insel verlassen, doch mit dem, was erschienen ist, kann man ein halbes Bücherregal füllen. Vieles wurde ins Englische übersetzt und einiges später aus dem Englischen ins Deutsche. Das meiste davon sehen wir hier unter Glas, manches kann man auch im Craftshop des Heritage Centers kaufen.

Zurück nach An Daingean. Das Abendessen ist recht anstrengend, wenn man mit zwei cailíní, sprich Mädchen, an einem Tisch sitzt, denen es nicht nur nicht schmeckt, sondern die es mit ihren Mienen auch aller Welt kundtun. Also legen wir Servierten über die Mahlzeit und halten nach einem Pub mit Musik Ausschau.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Montag, 5. Juni 1995

Nach dem Frühstück wollen wir über einen alten Fußweg – auf unserer Karte als gestrichelte Linie eingezeichnet – auf den Conor-Pass. Die Passstraße, die von An Daingean aus nach Norden über die Halbinsel führt, entstand als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme während der Großen Hungersnot, als der alte Bóthar an Gadaí, der Weg der Banditen, zu einer öffentlichen Straße ausgebaut wurde. Kein Zuckerschlecken für die Arbeiter, doch die Touristen, die 150 Jahre später den Pass per Auto überqueren, haben eine grandiose Aussicht.

Wir wollen jedoch den Fußweg abseits der Straße nehmen. Solange er mit dem als Wanderweg empfohlenen Slí Chorca Dhuibhne, dem sogenannten Dingle Way, identisch ist, bereitet das Unternehmen keine Schwierigkeiten – abgesehen von gelegentlichem Moder, in dem wir mit unseren Schuhen versinken. Nach einer Weile zweigt der offizielle Weg rechts ab und nach einer weiteren halbe Meile scheitern wir kläglich an einem übermütigen Gebirgsbach, der unseren Weg kreuzt und ihn anschließend mitbenutzt. Was nun? Ohne Gummistiefel und mit eher schwachen Sprunggelenken ausgestattet, stapfen wir lieber zum Slí Chorca Dhuibhne zurück und gehen ihn weiter bis zur Straße von Abhainn an Scáil nach An Daingean. Erneut kreuzt ein Gebirgsbach unseren Weg, doch diesmal werfen respektive rollen wir einige Steinbrocken ins flache Wasser und auch unsere Dritte im Bunde (in ganz Irland bekannt für den fachgerechten Ab- und Wiederaufbau von Steinwällen, die sich ihr in den Weg stellen) kommt hinüber. Dann geht es zurück nach An Daingean.

Mit noch müden Beinen aber wieder trockenen Fußes fahren wir am Nachmittag mit dem Auto auf den Conor-Pass. Eine atemberaubende Landschaft! Auf der Passhöhe befindet sich ein großer Parkplatz, von dem aus man einen grandiosen Ausblick nach allen Seiten hat, vor allem, wenn man noch ein Stück den Hang hochsteigt: im Süden die Dingle Bay mit den Bergen von Kerry, im Norden die Brandon Bay und im Westen der Mount Brandon. Wolken fallen über den Berg, Dunstschleier ziehen vorbei, und dann und wann scheint die Sonne durch ein Wolkenloch und lässt unten im Tal alles grün aufleuchten.

Vielleicht eine halbe Meile weiter im Norden gibt es rechts der Straße unterhalb eines Wasserfalls eine weitere Haltemöglichkeit. Über Fels- und Gesteinsbrocken klettern mein Mädchen und ich den Hang zu einem kleinen See hoch, hinter dem sich eine Felswand aufbaut. Hier sitzen wir auf einem Stein und beobachten die Molche im Wasser. Loch an Pheidléar, heißt der See, was ich mit Hilfe meines Wörterbuchs als See des Hausierers übersetze. Ob in alten Zeiten zu aufdringliche Angehörige dieser Zunft hineingeworfen wurden? Oder ein Hausierer aus unerfüllter Liebe zur Tochter eines Ladenbesitzers in An Daingean ins Wasser ging? Dann müsste der Vogel, der dort über dem Wasser kreist, die Tochter sein. Gerne würden wir noch verweilen, doch im Auto wartet Gisela.

Am Abend sind wir wieder im Ort und halten nach einem Pub mit Musik Ausschau. Im ersten, vielleicht 50 Yards von unserem Zaunkönig entfernt, machen zwei Burschen zwar gute Musik (besonders der mit der Uillinn Pipe, dem irischen Dudelsack), doch der Sänger singt hundserbärmlich. Gisela gibt auf und mein Mädchen überredet mich zu einem Spaziergang zum Hafen hinunter, wo sie in einem Pub nahe bei den Musikern – ein exzellenter älterer Fiedler und ein Gitarrist – zwei Hocker ergattert, derweil ich einen Paddy und ein Pint Guinness besorge. Gerade als wir hereinkommen, gesellen sich zu ihnen zwei Gäste. Einer der beiden packt eine Art Mandoline aus, während der andere den Gesangspart übernimmt. Und singen kann er tatsächlich, auch wenn ihm dann und wann der Text ausgeht. Er mag mehr die flotteren Lieder: als der Fiedler ihn zu Spencil Hill überreden will und die Melodie anspielt, ist ihm das Lied völlig unbekannt. Zum Trost stimmt er gemeinsam mit seinem Freund und einem weiteren auftauchenden Bekannten a cappella einen mehrstimmigen ‘fishing-working-song’ an. Weiter geht’s mit bekannten Saufliedern, die Stimmung, oder was man so nennt, steigt und ein paar teutonische Touristen wollen aller Welt zeigen, wie man sich echt irisch zu fühlen hat. Da unsere Gläser sowieso gerade leer sind, ziehen wir es vor zu gehen.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Dienstag, 6. Juni 1995

Wir setzen uns ins Auto und fahren über den Conor-Pass auf die Nordseite der Dingle-Halbinsel. Die Passhöhe zeigt sich grau und verhangen, jedoch nicht weniger eindrucksvoll als gestern. Unser erstes Ziel ist Caisleáin Ghriaire oder Castlegregory, doch mit Lady Gregory, der großen Dame des irischen Literatur-Revivals zu Beginn dieses Jahrhunderts, hat das Dorf wohl nichts zu tun.

Ein stilles Dörfchen, und wir machen uns zu Fuß nach Lough Gill, einem Naturschutzreservat, auf. Durch einen breiten Schilfgürtel, in dem sich zwei oder drei Boote verstecken, führt ein Steg ans offene Wasser. Drei Schwäne erheben sich von der Wasseroberfläche, und nach ihrer Anstrengung zu urteilen ist ihr Startgewicht beachtlich.

Später fahren wir durch eine Dünenlandschaft auf die Halbinsel von Caisleáin Ghriaire – vorbei an vielen hässlichen Caravan-Parks. Ein leichter Regen setzt ein und hält uns von einem Dünenspaziergang ab. Da der Regen eher zunimmt, beschließen wir nach Trá Lí zu fahren, was sich mit ‘Strand des Flusses Lí’ übersetzen lässt und auf Englisch schlicht Tralee heißt.

Tralee ist die Hauptstadt vom County Kerry und besitzt einen Flugplatz, der boshaften Zungen zufolge ausschließlich dazu dient, Dick Springs – seines Zeichens Vorsitzender der Labour Party, Außenminister und Tánaiste (stellvertretender Regierungschef) – nach Dublin und zurück zu bringen. Denn Dick ist ein ein ‘Kerryman’ aus Tralee.

Die ‘Kerrymen’ haben in den irischen Witzen den Part der Ostfriesen übernommen, wer von wem gelernt hat, bleibt offen. Ein kleines Beispiel:

Zollbeamter: Irgendwelche Pornographie in Ihrem Koffer, Sir?

Kerryman: Wie denn, was sollte ich wohl damit? Ich besitze nicht mal einen Pornographen um sie abzuspielen.

Zurück nach Tralee. Wir besichtigen nicht den Flugplatz, sondern besuchen die Ashe Memorial Hall, in der das hiesige Heritage Centre untergebracht ist. Im oberen Stockwerk geht es um die Geschichte Irlands vom Jahre 8000 v. Chr. an bis in die 50er Jahre. Ein paar problematische Stellen übergeht man dezent, zum Beispiel von welcher Seite Michael Collins umgebracht wurde. Im Untergeschoss eine Fahrt in kleinen Wägelchen durchs mittelalterliche Irland, nach der Art der Dublinia bei der Christ Church in Dublin, nur alles eine Nummer kleiner.

Tralee selbst ist alles andere als schön und reizt auch nicht zum Shopping, doch der Besuch in der Ashe Memorial Hall hat sich gelohnt. Und so geht es am späten Nachmittag wieder zurück nach An Daingean, diesmal nicht über den Conor-Pass, sondern über die Hauptroute via Abhainn an Scáil – Fluss des Giganten, versuche ich zu übersetzen.

Nach dem Abendessen hocken wir in einem Pub unten am Hafen und der Sänger kann auch singen. Desgleichen ein Gast, der Ride On zum Besten gibt, und das freut besonders Gisela, die Besitzerin der größten Christy Moore Sammlung zwischen Ennepetal und Schwelm. Der Pubkeeper und seine Landlady sind ausgesprochen sympathisch, beide finden es offensichtlich lustig, wie bei uns der Geldbeutel von Order zu Order die Runde macht. Also bleiben wir, bis der Pub schließt.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Mittwoch, 7. Juni 1995

Der Vormittag zeigt sich wieder einmal grau und verhangen, vielleicht das richtige Wetter für die Große Blasketinsel! Unterwegs bestehe ich auf einem kurzer Stop in Ceann Trá um das dortige Postamt zu fotografieren. Ceann Trá, englisch Ventry, bedeutet wörtlich Kopf des Strandes, ein Name der passt, denn unterhalb des Ortes liegt der größte Sandstrand auf dieser Seite der Dingle-Halbinsel. In ihrer Autobiografie beschreibt Peig Sayers, wie sie als Schulmädchen mit ihrem Vater und der halben Bauernschaft von Baile Bhiocáire (Vikarsdorf) über den Clasach Pass zu einem Pferderennen nach Ceann Trá zog – ohne am Ende auch nur den Schweif eines Pferdes zu Gesicht bekommen zu haben, denn die ganze Expedition endete in einer am Strand aufgebauten Trinkbude.

Sunshower on Great Blasket, © Paul GuilfoyleMehr als 100 Jahre später fahren wir nun die Dingle-Bay entlang und versuchen den Fähranleger von Dún Chaoin zu finden. Und das erweist sich als nicht so einfach. Kurz vor dem Ort zeigt ein Schild nach links; wir folgen ihm, passieren eine alte Holztafel mit einer Werbung für die Blasket Island Ferry und sind nach zwei Meilen wieder auf der Straße, die wir zuvor verlassen hatten. Also zurück zu der Holztafel. Von einem Schotterplatz aus sehen wir einen steil nach unten führenden, betonierten Pfad, der bei dem Anleger am Fuß der Klippe endet. Was wir noch sehen, ist ein Schlauchboot, das zwei auf seiner Kante hockende Passagiere auf- und abhopsend zur Fähre bringt, die draußen zwischen den Felsen ankert. Beim Umsteigen aus dem Schlauchboot fällt eines der berucksackten Mädchen fast ins Wasser ... und wir stellen fest, dass wir eigentlich gar nicht auf die Große Blasketinsel wollen.

Also fahren wir weiter über Dún Chaoin nach Baile an Fhirtéaraigh, ein Ort, den man gleichfalls aus den Büchern der Blasket-Insulaner kennt. Im Dorfpub verzehren wir zu einem Pint Guinness ein Open Salmon Sandwich und zwei ‘Toasted Specials’, derweil mein Mädchen in einem Heft mit Sixteen Walks Through The Heritage Of Dingle Peninsula blättert. Nicht weit von hier soll es an einer Quelle einen Stein mit einem Motiv aus frühchristlicher Zeit geben. Um hinzugelangen, muss man 100 Yards weit auf einem kleinen Bach wandern, das heißt auf den aus dem Bachbett ragenden Kieselsteinen. Dass wir dabei hin und wieder mit dem einen oder anderen Fuß ins Wasser rutschen, versteht sich von selbst. Den historischen Stein finden wir zwar nicht, doch die Aussicht am Ende des Weges entschädigt dafür. Später entdecken wir noch die Ruine einer mittelalterlichen Kirche und beobachten fasziniert ein kleines Kälbchen, von dem uns der Bauer erzählt, es sei erst vor zwei Stunden geboren worden.

Am Nachmittag fahren wir mit dem Auto an den nicht weit entfernten Strand von Cuan Ard na Caithne, ‘Smerwick Harbour’ könnte man auch sagen, klingt aber nicht so schön. Ein Horde Kinder tobt am Wasser. Da ruft ein Mädchen etwas von einem ‘Lift to Ballyferriter’ – und im Guinness Buch der Rekorde ist nachzutragen, wie viele Kinder in einen VW Polo passen.

Gegen Abend geht es nach An Daingean zurück. Im abendlichen Gegenlicht mache ich von der Klippe bei Dún Chaoin aus ein Foto von der Großen Blasketinsel. Eine Silhouette im Meer, seit mehr als 40 Jahren verlassen, doch die Reste des Dorfes erkennt man auch jetzt noch.

Nach dem Abendessen sind in einem kleinen Pub an der Kleinen Brücke ‘Songs’ angekündigt. Da die Sänger offensichtlich ausbleiben, müssen Wirt und Wirtin selbst ran und machen ihre Sache besser, als manch ein ‘regulärer’ Sänger: die Wirtin in einer Ecke des Pubs mit gälischen Balladen und der Wirt auf seinem Stuhl hinter dem Zapfhahn mit Auswandererliedern:

By the rents were getting higher,
And we could no longer stay,
So farewell unto ye bonny, bonny
Sliabh Gallion braes.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Donnerstag, 8. Juni 1995

Im letzten Jahrhundert besuchte Königin Victoria die Seen von Killarney. Kein Grund, es ihr gleich zu tun, doch da wir schon einmal im Süden sind, wagen auch wir uns ins Mekka des Irland-Tourismus.

Etwa 50 km sind es von An Daingean nach Killarney oder Cill Áirne, der ‘Kirche bei den Schlehen’. Wir fahren über schmale Straßen, genießen die Aussicht auf die Dingle Bay und den Ring of Kerry. Killarney selbst sollte man meiden: Straßenzüge mit aneinandergereihten Hotelburgen, laut und rummelig. Zum ersten Mal sehen wir die südirischen Sidecars. Die Passagiere sitzen Rücken an Rücken seitlich zur Fahrtrichtung, was den Vorteil haben soll, dass man im Falle des Umkippens noch schnell vom Wagen springen kann. Hier in Killarney dienen sie vor allem dazu, die Hotelgäste zu den Seen hochzukutschieren.

Upper Killarney Lake, © Paul GuilfoyleMuckross House, Muckross Gardens und das, was wir von den Seen zu sehen bekommen, ist in der Tat beeindruckend: das grüne Irland aus dem Bilderbuch. Doch leider herrscht kein Bilderbuchwetter, so dass aus Bilderbuchfotos nichts wird. Muckross House wurde 1843 im Tudorstil erbaut und liegt in einer 4000 ha großen Parklandschaft mit wundervollen Gärten, die sich bis ans Seeufer erstrecken. Aus einem für 30 pc erhältlichen Heftchen haben wir uns den sogenannten ‘kleinen Weg’ herausgesucht, der über eine Landzunge zwischen zwei Seen zu einem Cottage führt, in dem sich ein Café-Shop befinden soll. Doch bei den 4½ km, die der Weg lang sein soll, muss ein Leprechaun die ‘km’ dahintergemogelt haben, uns kommt die Strecke eher wie 4½ Meilen vor. Der Café-Shop hingegen existiert tatsächlich, auch wenn er nicht übermäßig gemütlich ist. Für den Rückweg hat uns mein Mädchen einen kürzeren Weg ausgedacht, und kürzer wäre er wohl auch gewesen, wenn wir ihn gefunden hätten. So jedoch wandern wir eine Straße entlang.

Gleich neben dem großen Parkplatz am Muckross House hat man in einem Freilichtmuseum typische Bauernhäuser der Jahrhundertwende rekonstruiert. Zunächst gelangt man zu einem kleinen Hof, der typisch für bäuerliche Anwesen von maximal 8 ha war. Wohn- und Wirtschaftsräume sind aneinandergebaut und bilden eine durchgehende Zeile. Der Besitzer lebte von der Milchwirtschaft und vom Kartoffelanbau. Wir betreten das Wohnhaus. Am Torffeuer sitzt eine Bäuerin, die uns die Frage nach dem bastable oven beantworten kann, der in so vielen Geschichten auftaucht und den wir bisher in noch keinem Wörterbuch gefunden haben. Es handelt sich um einen schwarzen eisernen Topf mit Deckel, der an einer Kette über dem Torffeuer hängt und in dem sich, wovon wir uns überzeugen dürfen, ein hervorragendes Brot backen lässt. Doch Torf wurde – und wird – nicht nur als Brennmaterial verwendet, auch das Strohdach ruht auf Torfsoden.

Wir verlassen den Hof und gelangen zu einem echten Cottage. Nur die Häuser der Landarbeiter wurden im ländlichen Irland Cottage genannt, heute sind es eher die Ferienhäuser der Touristen. Auf dem Feld dahinter pflügt ein Bauer mit seinem Pferd den Acker, derweil wir eine Farm der nächst höheren Kategorie betreten, einen Besitz von etwa 16 bis 20 ha, auf dem zumeist Milchwirtschaft betrieben wurde. Die in einer Reihe angeordneten Nebengebäude liegen parallel zum Wohnhaus, der dazwischenliegende Platz dient als Hof. Ein Gehöfttyp, der vor allem für Munster typisch war.

Schließlich kommen wir zu einem Großen Hof. Solche Anwesen von bis zu 40 ha gab es in Leinster und Munster und in einigen Gegenden Connaughs. Wohn- und Nebengebäude sind im Rechteck um den Hof angeordnet. Neben der Milch- und Kartoffelwirtschaft wurde hier auch Getreide angebaut. Im Haus kocht man indes nicht mehr über dem offenen Torffeuer, sondern auf einem massiven, schwarzen Eisenherd, der jedoch, wie uns die vom Tourist Board angestellte Bäuerin verrät, hundsmiserabel heizt.

Am späten Nachmittag fahren wir nach An Daingean zurück. Mit müden Füßen hocken wir am Abend in der Lounge eines Pubs, den Musikanten gegenüber. Der Rest der Lounge wird von einer Horde junger Mädchen in Anspruch genommen, und nach vielen Anläufen gelingt es den Musikern vier von ihnen zu einem Set Dance zu überreden, den sie gekonnt und in einem Wahnsinnstempo auf die Fichtendielen legen. Sie scheinen noch etwas vorzuhaben, denn eine von ihnen, die an unserem Tisch sitzt, schaut laufend auf die Uhr und schüttet in einer Art Sturztrunk die dritte Flasche Bulmers in sich hinein. Dann verlässt die Bande fluchtartig den Pub. Auch wir gehen, haben es jedoch weniger eilig.

Zum Beginn der Reise

 
sheep

Freitag, 9. Juni 1995

Für unseren letzten Tag auf der Dingle-Halbinsel haben wir uns nicht viel vorgenommen – doch eigentlich nehmen wir uns nie viel vor. Wir fahren von An Daingean aus nach Osten und besuchen Minard Castle an der Dingle Bay. Der Himmel zeigt sich düster und verhangen, mit einem großen, blauen Wolkenloch nördlich von uns. Da der Wind von Norden kommt, so meint man, wird dieses Wolkenloch bald über uns sein und sich ein sensationelles Foto auf den Film bannen lassen. Und die Wolkendecke bewegt sich in der Tat recht zügig voran – doch irgendwie um das Wolkenloch herum! Durchaus nicht ungewöhnlich, das machen die Wolken in Irland immer so, wenn unter ihnen ein Fotograf lauert. Nach einstündigem Warten und zwei oder drei Verzweiflungsfotos – dann und wann taucht ein winziger Sonnenzipfel auf – fahren wir weiter die Küste entlang auf die Halbinsel von Inch, die durchaus größer als ein Inch beziehungsweise ein Zoll ist. Auf der Karte wirkt sie wie eine lange, weit in die Bucht ragenden Sandbank, und das ist sie wohl auch.

Ein netter Café-Shop an einem wunderschönen Sandstrand, der auch – oder gerade – bei diesem Wetter seinen Reiz hat. Und da sitze ich im Freien bei einer Tasse Tee, blicke auf den fast menschenleeren Strand und das Meer, und halte in diesem Buche fest, was wir am 8. Juni 1995 bedeutendes taten, derweil mein Mädchen Ansichtskarten schreibt – vermutlich das bedeutendste an diesem Tag. Und da der Café-Shop so nett ist und auch einen Crafshop integriert hat, erwerbe ich noch rasch die Letters of an Irish TD des Herrn Keane aus Listowel. Ein TD, das ist ein Teachta Dála, ein irischer Parlamentsabgeordneter.

Bergauf und bergab geht es über schöne, jedoch schmale und kurvige Straßen auf die Nordseite der Dingle-Halbinsel und dann weiter die Nordküste entlang gen Westen zum Brandon Point. Doch zunächst einmal fahren wir die Pier des kleinen Dörfchens Brandon an, wo wir windgeschützt auf einer Bank vor der Pier-Bar hockend zwei Fischern zuschauen, wie sie auf einem total verrosteten Schiff ihre Netze ordnen, derweil uns Cousine Gisela fotografiert.

Brandon Co Kerry, © Paul GuilfoyleWeiter geht es, über das letzte schmale Straßenstück den nördlichen Ausläufer des Mount Brandon hoch, der, wenn ich mich nicht irre, der höchste Berg der Dingle-Halbinsel ist. Srón Bhroin, Nase des Brandon, heißt dieser Aussichtspunkt auf Irisch. Sehr viel prosaischer und passender, als der englische Begriff Brandon Point. Am Ende der Straße gibt es einen kleinen Platz, an dem man sein Auto stehen lassen kann. Durch ein Gatter hindurch kommt man dann noch ein wenig höher den Berg hinauf. Gisela macht den Anfang, eine Weile später tun wir es ihr gleich und treffen sie oben. Die Aussicht ist grandios, doch es wird derartig stürmisch, dass wir Angst bekommen dem Brandon von der Nase gepustet zu werden. Also steigen wir wieder zum Auto hinunter.

Den Rückweg nehmen wir über den Conor Pass, ein weiteres und für dieses Jahr zum letzten Mal. Auf der Passhöhe wird der Sturm so heftig, dass einem nach dem Aussteigen der Atem wegbleibt. Dennoch mache ich aus dem Windschatten des Autos heraus noch ein Foto.

Abends in An Daingean sitzen wir wieder im Pub und lauschen Tony Small & Co. Co, das sind ein Fiedler und ein Flötist, derweil Tony, der Mann mit der Wollmütze, singt und Gitarre spielt – alles ohne Mikrofon und Verstärker. Wir sitzen auf etwas unbequemen Höckerchen direkt neben den Musikern, und als Tony ‘The Town I Loved So Well’, Phil Coulters berühmten Derry Song anstimmt, wird es leise im Pub:

Now the music’s gone but they carry on
For their spirit’s been bruised, never broken.
They will not forget, but their hearts are set
On tomorrow and peace once again.
For what’s done is done and what’s won is won,
And what’s lost is lost and gone forever.
I can only pray, for a bright, brand new day
In the town I loved so well.

John Hume* hätte mitgesungen.

* John Hume, Vorsitzender der nordirischen Social Democratic Labour Party (SDLP), bekam drei Jahre später den Friedensnobelpreis. Er stammt aus Derry und Tony sang sein Lieblingslied.

 
sheep sheep

top down


Reiseberichte Irland: Dingle Peninsula 1995
© 1999 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 28.04.2006