Irisches Tagebuch 1997

Briefe aus Tullycross

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Sonnabend, 14. Juni 1997

Bergwandern I
– Die Besteigung des Tully Mountain I*

Hill-Walk-Guides, diese netten kleinen Heftchen mit vagen Wegbeschreibungen und noch vageren Kartenskizzen, die ihre Autoren abends im Pub nach dem sechsten Pint Guinness zu Papier zu bringen pflegen, gibt es genug, und in einem von ihnen finden wir eine Wanderung über den Kamm des Tully Mountain. ‘Verlaufen in Irland’, fasste kürzlich ein Rezensent seine Besprechung eines solchen Wanderführers zusammen.

Diamond Hill, © P. GuilfoyleDer Weg beginnt laut unserem Hill Walker’s Guide of Mayo and Connemara kurz vor Ende der Straße, die vom Derryinver-Kai am Südhang des Tully Mountain die Renvyle-Halbinsel hochführt. Doch wo, um alles auf der Welt? Meine kleine Bergziege meint die Stelle gefunden zu haben und steigt souverän über das, was sie für den beschriebenen Weg hält, voran, derweil ihr Flachlandschaf etwas unsicher hinterher trottet. Auf einem Geröllfeld wird in Anbetracht des unbeholfenen Flachlandschafs eine Kurskorrektur vorgenommen und die Bergziege sucht einen Weg über nicht ganz so dramatische, wenngleich recht rutschige Grashänge. Über uns auf einer Kuppe ein Steinhaufen – ob man von dort schon zur anderen Bergseite hinuntersehen kann? Beim Näherkommen erweist sich der Steinhaufen als eine auf einem Plateau über Eck errichtete Mauer, hinter der es erst richtig aufwärts geht. Eine Schutzecke für Schäfer? Ein Gefechtsstand der Flying Columns im Black-and-Tan-Krieg? Oder ein Schlupfwinkel für Schwarzbrenner? Auf jeden Fall ein Windschutz für uns.

Wir rasten im Schutz der Mauer, lassen den Blick über den Ballynakill schweifen. Ein weiches Licht durchdringt einen Dunst, der Regen verheißt. Von der Fischfarm, auf der Frank arbeitet, macht sich ein Kutter zu einer Konstruktion auf, die wie ein in die Bucht gesetzter quadratischer Käfig aussieht. Wir wundern uns, wie hoch wir schon sind und wie hoch der Berg hinter uns noch ansteigt. Doch das täuscht an diesen baumlosen Hängen. 346 ft. ist der Tully nur hoch, also rund 1000 m. Da erkennt mein Mädchen unterhalb von uns die Andeutung eines Trampelpfads im Gelände. Wir beschließen die Gelegenheit zu nutzen, dem Tully Mountain für heute den Rücken zu kehren und zur Straße hinunter zu steigen.

Himmel, lästert man, warum gibt es hier nicht so schöne mit roten Punkten markierte Wanderwege wie beim Sauerländischen Gebirgsverein? Man blickt sich um ... und sieht einen Stein mit einem noch recht frischen roten Klecks. Man reibt sich die Augen – der rote Punkt ist immer noch da. Auch mein Mädchen sieht ihn. Da hat wohl eine Fee den Ausruf gehört und zum Farbeimer gegriffen! Fünfzig Meter weiter unten der nächste rote Fleck, dann wieder einer, immer zur Hangseite hin auf einen Stein oder Felsbrocken gemalt. Und so geht es weiter, bis wir unten an der Straße sind, an der Stelle, an der unser Weg hätte beginnen sollen.

Und nun, wo wir den Startpunkt kennen, könnten wir den Pfad in Gegenrichtung bergauf gehen. Ein andermal!

* Über die unendliche Geschichte der Besteigung des Tully Mountain werden wir in den kommenden Jahren weiterberichten [Anmerkung des Autors aus dem Jahr 2000]

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Sonntag, 15. Juni 1997

Bergwandern II

In den Bergen Südmayos, den Sheeffry Hills, führt ein Stück des Western Way über einen Hügel zum Lough Lugacolliwee:

Come over the hill, my bonnie Irish lass,
Come over the hill to your darling,
Red is the rose that in yonder garden grows,
And fair is the Lily of the Valley.

Komm über den Berg, mein hübsches irisches Mädchen,
Komm über den Berg zu deinem Liebsten,
Rot ist die Rose, die im fernen Garten wächst,
Und hell leuchtet die Lilie des Tales.

Doch entweder besaß dieses irische Mädchen wasserdichte Gummistiefel oder trug weder Schuhe noch Strümpfe. Nasse Schuhe und Socken hingegen, mit denen ein nicht ganz so irischer Bursche (nachdem sein Mädchen ihn bereits leichtfüßig von Stein zu Stein springend überquert hatte) in den Glenlaur River rutschte, sind zum Weiterwandern denkbar ungeeignet, und so fahren beide nach Leenaun zurück, setzen sich vor das dortige Cultural Centre, trinken einen Tee und essen ein Stück Kuchen.

* Lily of the Valley, wörtlich Lilie des Tales, nennt man im Englischen die Maiglöckchen.

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Montag, 16. Juni 1997

Bergwandern III

Durch den noch (?) kostenfreien Geheimeingang schleichen wir uns in den Wald von Kylemore ohne die ortsübliche ‘Admission Fee’ zu zahlen. Allerdings passieren wir dabei ein neu errichtetes Holzhäuschen – eine künftige Zahlstelle? Ob die Schwestern vom Orden der Heiligen Moneta hier eine neue Einnahmequelle auftun wollen?

Wir steigen seitlich der Abtei, die heute ein Mädcheninternat ist und ursprünglich ein Liebesschloss war, den Pilgerweg zur Statue hoch – der mit Abstand anstrengendste Teil der Wanderung. Dann geht es weiter über einen alten, im letzten Jahr* entdeckten Pfad, der in die Berge oberhalb von Kylemore Abbey führt. In keinem Wanderführer erwähnt und auf keiner Wanderkarte verzeichnet, ist er dann und wann mit einem roten Punkt markiert, so dass es kein Geheimnis bleibt, wo es lang geht. Vielleicht handelt es sich um Wegmarkierungen der örtlichen Schwarzbrenner-Kooperative, denn wenn man nach der Whiskeyprobe von seiner Destille den Berg hinunter muss, können solche Punkte recht hilfreich sein.

Ein fabelhafter Weg, er umrundet hoch über dem Tal den Doughrugah Mountain, bis wir auf der anderen Seite auf Lough Averagh und Lettergesh hinabblicken können. Hätten wir das Auto nicht bei Kylemore geparkt, würden wir nun versuchen hinabzusteigen, denn ein Pfad ist durchaus erkennbar, auch wenn es keine roten Markierungen mehr gibt. So aber machen wir uns auf den Rückweg.

*  *  *

Ein weiterer Abend in Kevin Barrys Hotelbar in Clifden. Nur wenige Touristen haben sich heute Nacht hierher verirrt und der Barmann hat nicht viel zu tun. Vielleicht war das Wetter zu gut und die Hausgäste haben sich müde gelaufen. Johnnie und Kieran machen Musik und haben eigene Gäste mitgebracht. Eine Familie aus Sussex in England: Vater, Mutter, drei Mädchen und ihre Großeltern. Scheinen mit Johnnie verwandt zu sein, und zwar über die Mutter. Ein Getuschel zwischen Johnnie und den Mädchen: sie ziehen ihre Schuhe aus, Johnnie greift zur Geige, Kieran fällt ein und drei Mädchen aus Sussex zeigen einer Handvoll Gästen und dem dazugekommenen Landlord, wie man Reels auf den Teppich legt, wenn man das Blut irischer Vorfahren in den Adern hat.

Die Stimmung ist riesig, und es ist schon weit nach Mitternacht, als Johnnie Amhrán na bhFíann anstimmt, sich alle erheben und nach dem Ausklingen der Musik auf den Weg nach Hause machen.

* siehe 12. Juni 1996

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Dienstag, 17. Juni 1997

Hildegard an Gisela – 4th Letter From Home

Liebe Gisela – wir hatten jetzt ein paar schöne, sonnige Tage, sitzen am Strand und schauen in die Landschaft. Meinem ‘Hobby’ bin ich heute auch schon nachgegangen: Wäschewaschen in Connemara. Die Jeanshosen und Handtücher hängen auf der Leine und bekommen vom Rauch der Torffeuer das letzte Finish. Jürgen will sich ein Waschpulver mit dem Geruch patentieren lassen!

Nun ein paar wichtige Hinweise bezüglich Essen & Trinken sowie zur Musikszene. Sie gelten wahrscheinlich auch noch, wenn ihr im September hier seid.

Das Renvyle Inn hat einen neuen Koch, wir waren schon dreimal dort (1× Barfood und 2× im Restaurant). Unsere Wahl: Entenbrust in einer Kirsch-Brandy-Sauce, Salzwiesen-Lamm aus Inishbofin in Rosmarinsauce für mich (Jürgen meint, er würde seinesgleichen nicht essen) und ein anderes Mal ein wunderbares Steak mit Zwiebeln, Champignons und Chips in Lockenform. Letzteres unten in der Bar für nur £ 5.95 !!! Beim Lamm ist das Renvyle Inn sage & schreibe £ 3.00 billiger als Veldons! Und dabei viel besser, doch leider gibt es keine wechselnde Tageskarte. Das Restaurant im Obergeschoss ist inzwischen sehr gemütlich, mit Kamin usw. Kein Vergleich mehr zu unserem ersten Besuch.

Bisher fahren wir nur montags nach Clifden, wenn Johnnie und Kieran in Barrys Hotel spielen. In Clifden ist zur Zeit nicht viel los, ich glaube das liegt am schönen Wetter. Da sind die Touristen zu müde, nachdem sie auf der Skyroad den Sonnenuntergang besichtigt haben.

Frank und Kieran spielen freitags in Molly’s Bar und sonntags im Angler’s Rest; Frank und Charlie samstags im Renvyle Inn. Donnerstags sind die Coasters im Angler’s Rest, und morgen findet nach einigen Verzögerungen nun tatsächlich die Wiedereröffnung vom Paddy Conye’s statt. Der Guinness-Wagen war nämlich heute da, und wir haben uns gewundert, wie viele Fässer in so einen Pubkeller hineingehen.

Falls ihr euch im September nicht vertragen solltet, hier noch ein Tipp: An der N 59, kurz hinter Kylemore, bietet eine *** ein Bed & Breakfast an (Tel.: 41395). Mit Kamin und Homebaking; und Connemaras berühmtester ‘Fellow Drinker’ kann euch abends mit nach Clifden nehmen. Tschüss,

Hildegard”

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Mittwoch, 18. Juni 1997

Ag bualadh le Beartla – Ein Treffen mit Beartla

Für heute Nachmittag haben wir uns mit Beartla, unserem Irischlehrer von der VHS Dortmund, in seinem Heimatort An Cheathrú Rua verabredet. Er besucht für ein paar Tage seinen Clan, und wenn wir schon zur gleichen Zeit in Irland sind ...

So geht es nach dem Frühstück Richtung Maam Cross, dann rechts über eine der vielen Brücken, die noch heute ihr Selbstverständnis daraus schöpfen, dass der große Daniel O’Connell (1775–1847) sie auf seiner Campagne für die Emanzipation der Katholiken überquerte. Nach Südconnemara müssen wir, doch lassen wir ‘Das Rote Viertel’ An Cheathrú Rua zunächst seitlich liegen und fahren durch bis Spiddal – da soll es einen Craftshop geben, den wir noch nicht kennen.

Rein in den Laden. Mein Mädchen sieht einen Pullover, der Pullover gefällt ihr – ach geh’n wir erst mal einen Happen essen, meint sie. Das tun wir, in einem Pub an der Hauptstraße. So besonders schmeckt es uns nicht, doch dafür hört man unverständliches gälisches Geplauder um sich. Viel haben wir wohl nicht gelernt. Schließlich kommen wir zurück in den Laden – und der Pullover ist weg. Da man schon mal da ist, kauft man einen anderen, der, so redet man uns ein, sowieso viel schöner ist.

 
Die Käuferin nämlichen Pullovers fährt fort:

Aber ärgern tu ich mich darüber nicht!!! Doch nun geht es endlich weiter nach Carraroe, sorry, ‘An Cheathrú Rua’, denn mein Liebster besteht auf gälischer Schreibweise. Wir parken dort, wo wir schon im letzten Jahr unser Auto abgestellt hatten und mein Schatz es später nicht wiederfand. Das hat er, glaube ich, in seinem Tagebuch unterschlagen! Es ist der Pub, in dem wir auch Beartla treffen wollen. Da wir noch etwas früh dran sind, wandern einmal durch die inzwischen nicht schöner gewordene Stadt und warten dann bei einem Guinness auf unseren Irischlehrer. Ob er wohl kommt? Er hat es ja wirklich nicht leicht mit uns gehabt, und so ganz zuverlässig bei Zeitangaben sind die Iren auch nicht.

Doch kurz nach fünf betritt ein leicht geröteter (hat er einen Dauerlauf hinter sich?) Beartla den Pub, der sich An Chistin, ‘Die Küche’ nennt. Er schafft es an der Theke ein Guinness mitgehen zu lassen und setzt sich zu uns. Nach zunächst eher schüchterner Begrüßung (irgendwie ist der Junge ja mehr als nur einen Tacken jünger als wir) quatschen wir über Gott und die Welt, über Kunst und Irland, Clifden und Bochum, den Job, den Urlaub und das Wetter. Die Zeit vergeht, eine weitere Runde Guinness wird geordert, und schließlich müssen wir aufbrechen. Beide Seiten sind ganz gerührt. – So, genug geschrieben, ich muss mich um mein Guinness kümmern ...

 
... und der Chronist fährt fort:

Wir laden Beartla zum Essen ein. Bedrückt schaut er aus der Wäsche: Mama hätte schon gekocht, und da er nur ein paar Tage daheim sei ... ‘Tuigeann muid’, wir verstehen! Doch bis nach Hause bringen wir ihn noch, parken unten an der Straße und bleiben noch eine Weile im Auto sitzen, weil es noch soviel zu erzählen gibt.

Da kommt ein Junge dem Haus, läuft bis ans Tor, schaut zu uns hinunter und rennt wieder ins Haus zurück. Die Türöffnung füllt sich, wir müssen das achte Weltwunder sein:

“Guck mal, das sind sie, denen Beartla in Deutschland Irisch beibringt.”

Wir setzen die Unterhaltung fort, bis Beartla feststellt, nun müsse er aber wirklich ... Und derweil wir weiterfahren, spielt sich oben in der Küche die folgende Szene ab:

“War’n se das, Junge?”

“Ja, das war’n se Mom. Haben mich zum Essen eingeladen, aber ...”

“Hätt’ se doch mitgebracht, Junge, wir haben uns hier die Nasen am Fenster plattgedrückt”

Da Beartla genau dies nicht tat, kehren wir kurz vor acht auf unserem Heimweg bei den ‘Joyces of Recess’ ein. Sieht verdammt nach Lammkottelet aus, was da auf den Teller kommt, und ich erwähne die süßen kleinen Lämmer von Inishbofin. Doch mein Mädchen meint, mit denen habe das Ganze überhaupt nichts zu tun, oder ob ich etwa glauben würde, dass ein Jägerschnitzel ...? Das überzeugt, und die Mintsauce tut das ihre dazu.

*  *  *

Kurz vor zehn sind wir daheim und wagen uns noch kurz in den Wiedereröffnungs-Trubel vom Paddy Coyne’s. Eigentlich mögen wir ein derartiges Gedränge nicht, doch man muss sein Ansehen wahren. Schrecklich, wenn man morgen nicht mitreden kann! Mit viel Mühe zwängen wir uns in den Pub, trinken ein Anstandsguinness, schütteln den Sussex-Engländern vom Montag sowie einem sehr angeheiterten Noel und dem fiddelnden Johnnie die Hand. Das war’s dann für heute.

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Donnerstag, 19. Juni 1997

Der magische Hügel

Wie es aussieht, werden wir die irische Sonne heute nur in ihren flüssigen Form genießen können, und so packt mein Mädchen nach dem Frühstück den mitgebrachten Seidenmal-Rahmen aus, damit dieser keine Depressionen bekommt, weil er in Irland nicht benutzt wird. Immerhin hatten wir ihn erst vor zwei Wochen auf ein transportfreudiges Maß zurechtgesägt.

Am Nachmittag fahren wir ein Stück nach Letterfrack hinunter, lassen das Auto an der Brücke über den Dawros River stehen, der die Renvyle-Halbinsel vom Festland trennt. Auf einem der vielen Hügel links von der Straße, auf die kein Weg führt, glaubte mein Mädchen kürzlich eine Bank stehen gesehen zu haben, doch wo, das weiß sie nicht mehr.

Wir steigen den regennassen, glitschigen Hügel hoch und sie hat Recht: kein Weg weit und breit, der zu ihr führt, und doch steht da eine Bank. Der Himmel ist verhangen, ein paar Regentropfen fallen, und wir setzen uns.

Es ist nicht der Hügel von Tara, doch die Magie des Ortes umfängt uns. Kaum sitzen wir, da sehen wir in den Bogs oberhalb von Mullaghgloss und Lettergesh eine rote und eine gelbe Gestalt wandern. Das können nur wir sein, denn außer uns gibt es auf Renvyle kein rot-gelbes Duo. Ob wir in die Vergangenheit blicken, uns sehen, wie wir vorgestern Abend einen Spaziergang übers Moor gemacht haben? Doch dazu gehen die Wanderer in die falsche Richtung. Dann kommt die Erleuchtung: wir sehen uns, wie wir im nächsten Jahr übers Moor wandern, immer noch in den gleichen roten und gelben Jacken. Besser das Geld fürs Herkommen als für neue Jacken ausgeben!

Bei unserem nächsten Besuch auf dem Hügel ist die Bank verschwunden.

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Freitag, 20. Juni 1997

Die Lange Straße durchs Moor

Gerry Kelly at O’Hara Farm, © 1993 Juergen KullmannNachdem wir uns in Clifden Geld aus dem Automaten gezogen haben, fahren wir zu Dan O’Hara’s Heritage Farm, der Rekonstruktion eines acht Morgen kleinen Bauernhofs aus der Zeit vor der Großen Hungersnot, etwa 6 km südlich der Stadt oberhalb der N 59 an einem Berghang gelegen. Das Projekt wurde 1992 in Angriff genommen, anno ’93 waren wir schon einmal hier. In einer Kate oben am Berg hatte uns ein netter junger Mann namens Gerry Kelly im Torffeuer herumstochernd vom Leben vor mehr als 150 Jahren erzählt, sich fotografieren lassen (natürlich bekam er später ein Foto zugeschickt) und uns anschließend neben dem Häuschen mit der berühmten schwarzen Sau von Connemara bekannt gemacht, die hier ihr Rentendasein fristete. Wir kannten sie bis dato nicht und haben nie wieder von ihr gehört.

Und vier Jahre später? Ein Riesenparkplatz vor der Anlage, gleich dahinter ein Craftshop mit Preisen, die gesalzen sind. So nimmt man für die Songs and Ballads Popular in Ireland, die in jedem anderen Laden IR£ 1.95 kosten, IR£ 2.95 pro Heft. Und einmal durchs Gelände zu laufen, schlägt mit IR£ 3.50 pro Nase zu Buche. Wir verzichten. Die schwarze Sau ist wahrscheinlich ohnehin in die ewigen Grunzgründe eingegangen, die vermutlich – nomen est omen – bei Loch Muc* liegen.

Was nun? Mein Mädchen studiert die Karte. Von Beal Átha na Bá an der Mannin Bay (s. Discovery Series 44) führt quer durch die weite Moorlandschaft eine lange Straße zur Cashel Bay, nicht bedeutend genug, um vom irischen Staat eine Nummer bekommen zu haben. Seltsam, dass wir sie noch nicht kennen, doch das soll sich nun ändern. Eine schmale, einsame Straße durch sanft hügeliges Moorgebiet – dass sie nicht an der Küste entlangführt, schützt sie vor Touristen. Wir sind auch welche, stellt mein Mädchen fest, doch pssst, vielleicht merkt die Straße es nicht! Ein klappriges Gefährt mit einem nicht weniger klapprig wirkenden Bauern am Steuer kommt uns entgegen, ansonsten sind wir allein auf weiter Flur.

Hinter einer Brücke lassen wir das Auto stehen und folgen einem Trampelpfad ins Moor, bis dieser seine Konturen verliert, immer feuchter wird und uns zur Rückkehr zum Auto veranlasst. Weiter geht es durch die überwältigende Moorlandschaft mit den grauverhangenen Bergen der Twelve Bens in der Ferne. Nach einer Weile biegen wir auf einen Schotterweg ab, der zu Lough Fada, dem ‘Langen See’, führt. Allein mit uns und einer Lerche lassen wir uns auf einem Bootsrand nieder. Hier also hat Eugene Adams, wie er kürzlich in einem seiner ‘Letters From Home’ schrieb, einen ganzen Tag lang seine Angel ins Wasser gehalten und zufrieden mit sich und der Welt nichts gefangen.

Die Fische werden ebenso zufrieden gewesen sein, und gleichermaßen zufrieden brechen wir auf und fahren die ganze Strecke durchs Bogland zurück, anstatt den kürzeren Weg über Clifden zu nehmen.

* * *

Am Abend in Molly’s Bar. In ‘unserer Ecke’ sitzt in einen alten Mantel von undefinierbarem Grau und ein Kopftuch gehüllt Nora und lächelt uns an. Sie muss schon sehr alt sein, doch wie alt, das wissen wir nicht. Immer, wenn die Coynes hier sind, ist auch Nora da. Mit dabei sind ihre Schwiegertochter und ihr Sohn Tom, der jetzt gerade an der Bar steht. Wie immer, wenn Nora da ist, singt Frank ‘Molly Malone’ und Nora lächelt selig. Es sei vielleicht das letzte Mal meint sie, doch Frank erwidert, sie würde uns noch alle überleben. Sie müsse schließlich noch ihren Hundertsten feiern.

Das erste Mal sind wir Nora 1992 begegnet, als sie im völlig überfüllten Angler’s Rest mit Sohn und Schwiegertochter zusammenrückte um Platz für uns zu machen. Sie fragte unsere Mitreisende, ob wir aus Dublin kämen – die Dubliner müssen wohl ein selten gebrochenes Englisch sprechen. Doch ob Nora uns Jahr für Jahr wiedererkennt, oder jeden so freundlich anlächelt, bleibt ihr Geheimnis. Sinne Fianna Fáil ..., Frank stimmt die Nationalhymne an und auch Noras Lippen bewegen sich. Der Tag klingt aus.

* Schweinesee bei Salrock südlich des Killary Harbour.

 
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Reiseberichte Irland: Connemara, Galway und Mayo 1997
© 2000 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 16.05.2006