Irisches Tagebuch 1999

Am Ende des Jahrtausends II

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Sonnabend, 12. Juni 1999

Mein Mädchen, schon immer gut im Kartenlesen, hat sich beim Frühstück die No. 44 der ‘Discovery Series’ vorgenommen, und nach dieser Karte scheint ein Streckenabschnitt der vor mehr als 60 Jahren stillgelegten Bahnlinie von Galway nach Clifden gut begehbar und landschaftlich reizvoll zu sein.

Wir starten bei Lough Derryclare, wo die Bahn die Landstraße nach Clifden kreuzte, die heutige N 59. Vorbei am früheren Bahnwärterhaus, dem eigentlich nur die Fenster fehlen, ist die Trasse auf ihrem Damm über das Moor gut auszumachen, die erste halbe Meile frisch geschottert. Links der See, dahinter die kahlen, moosgrünen Berge der Twelve Bens. Die Luft ist mild, und dann und wann dringt etwas Sonne durch den Dunst.

Lough Derryclare, © P. GuilfoyleWir verlassen den Bahndamm, steigen zum See hinunter und merken erst jetzt, auf was für einem Untergrund die Züge fuhren: wir wippen über das Moor. Auf dieser wippenden Fläche dann eine Treckerspur. Ob der Trecker im Moor versunken ist und sich dieses über ihn geschlossen hat? Wir werden es nie erfahren. Am See liegen vier alte Autoreifen, die Felgen mit Styroporplatten ausgefüllt, deren Zweck uns ein Rätsel ist. “Wahrscheinlich von Elfen für uns als Sitzgelegenheit platziert”, meint mein Mädchen. Wir nehmen das Angebot an.

Weiter geht es. Hinter uns ein Geräusch, doch es ist kein Geisterzug nach Galway, sondern ein Bauer auf einem kleinen Schaufelbagger, der uns, als wir ihm das Viehgatter über dem Damm aufhalten, grüßend passiert. In der Schaufel seines Gefährts ein Hund. Der Hund schweigt, was recht ungewöhnlich für irische Hunde ist. Zweihundert Meter vor uns stoppt er, gibt dem Hund eine Order, und der jagt nun nicht mehr schweigend zum See hinunter, wo ein paar Kühe und vier Kälbchen weiden. Der Rest ist Routine: Die Kühe umkreisend treibt er sie kläffend zu seinem Herrn, der mit einem Eimer Kraftfutter auf sie wartet. Nur von der letzten Kuh, einer großen, schwarzen, scheint er nicht viel Respekt zu erheischen. Als er ihr zu nahe kommt, bleibt die Dame kurzerhand stehen und dreht sich um. “Immer sachte, mein Kleiner”, blökt sie, “sonst kriegst du einen Tritt von mir, dass du dich im See wiederfindest!” Unsicher ein ‘Aber-ich-bin-doch-hier-der-Boss’ bellend zieht sich der Hund zurück und die Kuh trottet weiter.

*  *  *

Es wird Abend. Eine Reihe von Autos steht auf dem Schotterstreifen vor der Kirche Our Lady of the Wayside, unserer Dame am Wegesrand. ‘Eine beeindruckend moderne katholische Kirche in grandioser Landschaft’, schreibt Tim Robinson, ‘erbaut von einem Clifdener Architekten an der Landstraße zwischen Kylemore und Leenaun.’ Geweiht wurde sie 1968, doch bereits 1835 gab es hier eine kleine Kapelle. In einem der Autos verharrt der Pastor, in den anderen warten seine Schäfchen auf das Startzeichen. Ein Glockenschlag, der Pastor steigt aus, die Autotüren öffnen sich, und die Herde folgt dem Hirten in die Kirche. Sehr groß ist diese Herde nicht.

Es folgt eine der irischen Schnellmessen, die meist ohne Musik und Gesang sind. Doch wir haben Insider-Informationen, nach denen das heute anders ist. Kommt er oder kommt er nicht? Er kommt! Die Messe hat bereits begonnen, da erscheint Johnnie in der Tür und hat, wie vorgestern Nacht auf der Heimfahrt von Leenaun versprochen, seinen Fiddlekasten unterm Arm. Er setzt sich in eine Bank neben ein Mädchen mit einem Holzkistchen zu ihren Füßen, aus dem sie nun eine Concertina holt.

Johnnie spannt den Bogen und die beiden legen los, keine Kirchenlieder, sondern traditionelle irische Weisen wie ‘Planxty Irwin’ von Turlough Carolan. Dann die Predigt: Er wolle bei der Musik bleiben, meint der Priester, ob jemand die Beatles kennen würde? Allgemeines Grinsen. Johnnie spielt das Lied an, und er predigt über ‘All You Need Is Love’. Nach der Kommunion wieder Musik: ‘Róisín Dubh’, ein Lied über jene kleine schwarze Rose, die lange Zeit ein Symbol für Irland war, das selbst nicht besungen werden durfte. Und das war es schon fast, doch Father *** stammt aus Clare und wünscht sich noch ein Lied aus seinem Heimatcounty, ehe er den Segen spricht: The Cliffs of Dooneen. “Nur wenn Sie singen”, entgegnet Johnnie, und der Priester stimmt an:

‘So fare thee well to Dooneen,
   fare thee well for a while,
And although we are parted
   by the raging sea wild,
Once again I will wander
   with my Irish colleen
Round the high rocky slopes
   of the cliffs of Dooneen.’

Oder unprosaisch auf deutsch:

‘Ein Lebewohl nach Dooneen,
   ein Lebewohl, für eine Weile,
Und trennt uns auch
   die wütende, wilde See,
Werde ich doch eines Tages wiederkommen
   und wandern mit meinem irischen Mädchen
Über die hohen, steinigen Hänge
   der Klippen von Dooneen.’

Wir drücken ihm die Daumen.

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Sonntag, 13. Juni 1999

Cloudy with sunny spells’, bewölkt mit zeitweiligen Aufheiterungen, hatte gestern Abend die Wetterfrau von RTÉ versprochen. Im Vertrauen darauf wandern wir den Kylemore River hinauf, rechts und links die Ausläufer des Benbaun. Nur wenige Meilen abseits der N 59, fühlt man sich in eine andere Zeit versetzt. Der Weg steigt entlang des Flusses den Talkessel hoch, der auf Irisch Gleann Corbad, Tal des Streitwagens, heißt. Womöglich die Wohnstätte eines keltischen Streitwagenbauers, schreibt W. B. Joyce in seinem dritten Band der Irish Names of Places. Vor uns samtgrüne Berghänge, über die aus einem Wolkenloch der Lichtkegel der Sonne wandert.

Cottage, © H. Vogt-KullmannIn der Ferne auf der gegenüberliegenden Bergseite ein Haus, scheinbar verlassen. Beim Näherkommen dringt Hundegebell zu uns herüber, auch wenn man keine Hunde sieht. Mein Mädchen glaubt einen Mann vor der Tür stehen zu sehen. Wenig später kommen wir zu einer Brücke, die über den schmaler gewordenen Fluss führt. Führte, denn eine Stütze ist weggebrochen und die Bodenplatte hängt halb im Wasser. Mit etwas Klettern über die im Flussbett liegenden Steinbrocken erreichen wir sie und gelangen auf die andere Seite des Kylemore River.

Der Weg geht bergan, das Hundegebell wird lauter. Da wir jedoch keine Hunde sehen, wandern wir weiter den Fluss hoch und passieren das Haus. Und in der Tat steht dort ein Mann vor seiner Tür, hat uns wohl schon seit einer halben Stunde beobachtet. Wie es scheint, führt der Weg in einem Bogen zum Haus und endet dort. Also setzen wir uns auf ein paar Steine, trinken einen Schluck Galway Spring Water und lassen den Blick über das Tal und in die Berge schweifen. Etwa 100 Meter oberhalb von uns ein kleiner Wasserfall, genau dort, wo der Weg die Kurve zum Haus nimmt.

Der Mann vor der Tür reckt sich, greift nach einem Stock und kommt mehrfach eine Pause einlegend den Weg herunter. Am Wasserfall bleibt er für eine Weile stehen, starrt gedankenverloren in den Teich, bevor er zögernd weitergeht und schließlich vor uns steht. Nicht weniger schüchtern als die drei Touristen, die belanglos in die Gegend schauen.

Irishman:  “Hello.”
Tourist: “Hello.”
Irishman: “How are ye?”
Tourist: “Not too bad. A nice day, isn’t it?”
Irishman: “It is.”
– Pause –
Tourist: “You’re living here alone?”
Irishman: “I am.”
Tourist: “A lonesome place. Often tourists coming up?”
Irishman: “Seldom.”
– Pause –
Tourist: “What’s your living?”
Irishman: “Sheep, many of them on the hills.”
Tourist: “Do you have electricity? Television? Radio?”
Irishman: “Not at all ... a radio.”
– Pause –
Irishman: “There’s a pool at the fall – 10 feet deep.” Mit der Hand weist er auf den Wasserfall vor uns.
Tourist: “Really?”
Irishman: “You’d like to take a look?”

Da wäre es unhöflich nein zu sagen; wir sind in der Überzahl, er wird uns schon nicht hineinwerfen. Wir schlendern mit ihm zum Wasserfall, der nur noch 100 m von seinem Haus entfernt liegt, und blicken dem Naturwunder Achtung gebietend in das Felsenbassin. Dann deuten wir an, dass wir uns wieder auf den Heimweg machen müssen.

Irishman:  “O yes ... of course ... but ... can you change the batteries of a radio ... I’ve got batteries.”

Er führt uns in seine dunkle Hütte. Rechts neben der Tür ein alter Dresser, an der Wand vor uns etwas schief stehend ein Propangasherd, links daneben ein zerschlissenes zweisitziges Sofa mit einer ebenso zerschlissenen Decke. Hoffentlich fordert er uns nicht zum Setzen auf. Gleich links vom Eingang unter dem Fenster ein alter Tisch mit hellgrüner Resopalplatte, darauf ein verstaubtes schwarzes Kofferradio mit abgebrochener Antenne.

Wir nehmen das Radio mit nach draußen, wo mehr Licht ist, und der vierzig bis fünfzig Jahre alte Hausherr folgt uns mit den Ersatzbatterien. Wir wischen die Spinnweben vom Radio und finden das Batteriefach. Die Batterien passen, und nach einigem Hin und Her nimmt das Radio seinen Dienst wieder auf. Noch ein Anliegen hat der Hausherr: Er kommt mit einem großen Wecker und bittet uns die Uhr zu stellen; als Armbanduhrenbesitzerin erledigt mein Mädchen diese Aufgabe souverän. So ganz falsch ging der Wecker gar nicht.

Schließlich verabschieden wir uns, doch unser Gastgeber lässt nicht locker, ehe nicht jeder als Lohn für die erwiesenen Dienstleistungen ein Plättchen Wrigley’s Spearmint akzeptiert hat.

Auf dem Heimweg kommt uns eine Idee: Wir sollten unserem Einsiedler ein Jahresabonnement des Irish Independent spendieren, mit Postzustellung. Dann hat er jeden Tag Besuch. Nur dem örtlichen Postzusteller sollten wir uns nicht outen.

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Montag, 14. Juni 1999

Es ist bereits nach zehn, als wir endlich aus den Federn kommen. Der Grund ist unschwer zu erraten: letzte Nacht spielten Frank & Kieran im Angler’s Rest, und da wir dazu nur über die Straße müssen, durften wir nicht fehlen. Meist treten die beiden hinten in der Lounge auf, dort, wo am meisten Platz ist, doch diesmal spielten sie in der Ecke neben dem Eingang – eine sehr viel nettere und intimere Atmosphäre. Dazu zwei ‘Gastsängerinnen’, die so fremd gar nicht waren: Kierans Frau Noreen und Franks Tochter Caroline. 21 Jahre jung und noch jünger aussehend, hat sie eine recht gute Stimme. Dad’s Liebling, wie Frank zugibt, und wie er gleichfalls zugibt, wickelt sie ihn um den Finger. ‘A Woman’s Heart’, ist ihr Hit der Saison.

Zu heute: Es ist Montag und wir fahren nach Louisburgh. Über den Ursprung des Ortsnamens schweigen sich die Faltblätter des Tourist Office aus, vielleicht einer der vielen Orte, an denen die Truppen des französischen Königs Louis zur Unterstützung der aufständischen Iren landeten. Eine Allianz, die abgesehen von verlorenen und stolz besungenen Schlachten, nie zu etwas führte. In einer früheren Kirche das Granuaile Interpretive Centre. Über diese Dame, oft genug als Piratenkönigin des 16. Jahrhunderts abgetan, wurde schon viel geschrieben, vor allem jedoch Anne Chambers in ihrem hervorragend recherchierten Buch ‘Granuaile – The Life and Time of Grace O’Malley’.

GranuailleIR£ 2.50 kostet der Eintritt pro Nase. Der einzige und arg dunkle Ausstellungsraum enttäuscht: eine Reihe von Tafeln und Fotos, ein paar aufgestellte Figuren. Eine nette Boshaftigkeit am Ausgang: Auf einer Doppeltafel links eine alte Zeichnung, Granuaile resp. Gráinne Ní Mháille trifft Königin Elisabeth I, und rechts daneben ein neueres Foto, auf dem 400 Jahre später die irische Staatspräsidentin Mary Robinson, gleichfalls aus Mayo, Königin Elisabeth II trifft. Auf beiden Bildern wirkt die Irin eindeutig überlegen. Zum Abschluss gibt es einen Videofilm über ‘Die Zeit und das Leben der Grace O’Malley’, und für den hat sich das Eintrittsgeld dann doch noch gelohnt.

Wir verlassen Louisburgh, ein ruhiges, sympathisches Städtchen, in dem sich alles Wesentliche um die Hauptkreuzung gruppiert. Für einen Strandbesuch ist es zu windig, und so machen wir eine Pilgerfahrt am Croagh Patrick vorbei zur Abteiruine von Murrisk, die wir bislang nur im strömenden Regen sahen. Wie anders ist doch der Eindruck bei Sonnenschein. Warm leuchtet das alte Gemäuer, umgeben von einem alten Friedhof mit Gras, Moos und Unkraut zwischen den Gräbern, grün schimmernd unter schräg einfallender Sonne. Nach vielen Jahren mache ich endlich meine Fotos.

Am späten Nachmittag geht es wieder nach Hause, doch nicht ohne in Westport anzuhalten, denn der Café Dock am Hafen ist eine Empfehlung wert. Ganz besonders sein warmer Ziegenkäsesalat!

*  *  *

Was gibt es sonst noch vom Tage zu berichten? Unsere Glückssträhne ist gerissen, denn am Abend beim Weekly Lotto in der Central Bar* gewinnen wir nichts.

* Siehe 15. Juni 1998

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Dienstag, 15. Juni 1999

Der erste durchgängig graue Tag auf der Renvylehalbinsel – aber kein Regen. Bisher sind die Regenandrohungen des irischen Fernsehens, und von denen gab es in den letzten Tagen genug, nicht eingetreten. Im Tankstellenladen von Tully treffen wir eine Schwester von Johnnie; sie verspricht uns ihre alten Knochen befragend, dass der Sommer zum Wochenende zurückkehrt. Le cunamh Dé, so Gott denn will!

Und so trödeln wir über unsere Halbinsel. Auf der Lettergesh Road treibt Brian seine Kühe vor sich her, doch selbst mit Kühen ist er schneller als wir. Dann biegen wir ab in Richtung Meer, blicken über die graue, heute etwas raue See. Am Ende des Weges ein wackliger Zaun, der an einigen Stellen ins Leere hängt, dahinter eine Abbruchkante und zehn Meter unter uns das Meer. Jahr für Jahr rückt es näher, wann es wohl das Haus erreicht, das zwanzig Meter hinter dieser Kante liegt? Ein Ruderer mit hochgeklapptem Außenborder hat arge Mühe, den Renvyle-Kai anzulaufen, kommt nur im Schneckentempo voran. Ist ihm der Motor ausgefallen, oder treibt er sein tägliches Jogging?

Wir gehen den Weg ein Stück zurück und biegen an der Ocean Lodge (Zimmer frei) auf den Friedhofsweg ab. Von den vier greisen Bäumen mit ihrem gemeinsamen Dach sind die beiden mittleren den Winterstürmen zum Opfer gefallen, einsam und verlassen stehen die verbliebenen zwei da. Dann kommt linkerhand der Friedhof, sein Hauptweg ist frisch geschottert, und wir stoßen wieder auf die Lettergesh Road und wandern heimwärts.

*  *  *

Am Abend auf ein Stündchen ins Paddy Coyne’s. Jameson scheint nicht die am häufigsten verlangte Whiskeysorte zu sein: Noel, seines Zeichens Beerdigungsunternehmer und Bruder des Pubbesitzers, muss die Flasche erst aus einem Regal kramen. Er kostet 5pc mehr als der Powers, ist dafür etwas weicher.

Wir sitzen im vorderen Teil der Bar auf der Bank gegenüber dem Kamin, darin statt eines Feuers leere Coladosen. An den Wänden verblichene Dokumente und Schwarz-Weiß-Fotos aus vergangenen Tagen, auf einem ein Hochzeitspaar. Der selige Paddy Coyne und seine Frau? Sie soll das Regiment geführt und ihren Mann zum Dorfkönig gemacht haben; nach ihrem Tod ging’s mit Paddy bergab. God bless their souls.

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Mittwoch, 16. Juni 1999

Nach zehn Tagen in Connemara fahren wir zum ersten Mal nach Galway. Vor einem Jahr hat mein Mädchen dort in einem handtuchschmalen Trödelladen zwei Seifenschalen gesehen, die sie nun nach hinlänglicher Bedenkzeit erwerben möchte.

Doch die City von Galway ist eine einzige Baustelle. Im letzten Jahr wurde eine Reihe von Straßen gesperrt und zur Fußgängerzone erklärt. Jetzt wird gebuddelt und gepflastert, an allen Stellen gleichzeitig, ehe auch der letzte Bürokrat in Brüssel merkt, dass Irland kein Entwicklungsland mehr ist und die EU-Zuschüsse streicht. Und natürlich rechtzeitig zur Jahrtausendwende, die, wie uns Mathematiker versichern, gar keine ist.

Letzteres ist den Theatermachern auch nicht bekannt, und so verspricht uns das Galway Townhall Theatre das ‘Letzte Lachen des Jahrhunderts’: Moll, ein Stück von John B. Keane, dem literarischen Pubkeeper aus Listowel im County Kerry. Dem können wir uns nicht entziehen und erwerben zwei Karten für den kommenden Dienstagabend.

Heute Abend hingegen gibt es Musik, und zwar bei Lowry’s in Clifden. Im ‘Damenpub’, wie wir immer sagen, da er in unseren irischen Anfangstagen von zwei netten älteren Damen geführt zu werden schien. Inzwischen sind wir uns da nicht mehr ganz so sicher. Frank und Charlie musizieren, und so werde ich bei Charlie mit seinen nie grau werdenden Haaren endlich die CD los, die wir aus den mehr als zehn Jahren alten Tonbandkassetten der Renvyle Comhaltas Group zusammengestellt hatten. Frank bekam sein Exemplar schon neulich in Leenaun.

*  *  *

Nachts um eins auf dem Weg nach Hause. Blaulicht dort, wo die N 59 ihren scharfen Knick nach rechts macht, während es geradeaus weiter nach Cleggan geht. Die Garda kontrolliert, kein Entkommen möglich. Doch die irischen ‘Wächter des Friedens’ tun uns nichts: am mangelhaften Englisch als Touristen erkannt, dürfen wir ohne weitere Nachfragen passieren. Und ohne pusten zu müssen. Doch God save our friend ***, sollte er heute Nacht aus Clifden heimkehren, denn für solche Kontrollen holt man üblicherweise die Polizei aus Westport, der im Gegensatz zur hiesigen nicht bekannt ist, dass er mit sechs Pint ganz besonders sicher Auto fährt – 15 Meilen pro Stunde. Dafür darf sich dann die Clifdener Polizei um die Westporter Heimkehrer kümmern.

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Donnerstag, 17. Juni 1999

Den ‘Killary-Harbour-Weg’ einmal ganz anders! Denn diesmal starten wir unsere Expedition an der Mündung, die wir bei den früheren Anläufen aus der Gegenrichtung nie erreicht hatten.

Wir parken das Auto neben der Fischfarm und dem Hostel, in dem vor gut fünfzig Jahren ein Österreicher namens Wittgenstein ein halbes Jahr lang philosophierte. Zu welchen Erkenntnissen er dabei kam, wissen wir nicht. Das Gebäude sieht etwas heruntergekommen aus, auch wenn Board Fáilte eine Gedenkplatte hat anbringen lassen. Verstärkt wird der schmuddelige Eindruck durch einen rostigen Kahn mit penetrantem Fischgeruch.

Da wir den Pfad, der entlang des Fjords ins Landesinnere führen soll, auf Anhieb nicht finden, klettern wir über einen Zaun und stiefeln querfeldein, bis wir schließlich auf ihn stoßen. Eine alte Famine Road, hat mein Mädchen gelesen, eine jener Straßen, die während der Großen Hungersnot als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gebaut wurden, ob man sie nun brauchte oder nicht. Doch darf man den Begriff ‘Straße’ nicht wörtlich nehmen. Bei dieser handelt es sich um einen bis zu zwei Meter breiten Pfad am Berghang, von den gröbsten Gesteinsbrocken befreit und soweit erforderlich zum Wasser hin durch Feldsteine abgestützt. Mitunter ist auch alles weggebrochen und es geht über schmale Trampelpfade weiter. Dennoch, an einigen Stellen deuten Steinaufschüttungen auf Reparaturversuche in jüngster Zeit hin. Vorboten einer neuen Hungersnot, oder war Board Fáilte hier? Allzu verhungert sehen die beiden uns entgegenkommenden Gestalten jedenfalls nicht aus.

Zunächst unten am Wasser und dann immer höher am Hang folgt der Weg den Biegungen des Fjords. Nur wenige Wolken stehen am blauen Himmel, das Tal zeigt sich fast schattenlos. Am anderen Ufer die kahlen, grau-grünen Berge Mayos, völlig unbesiedelt, nicht eine Mauer, die sich die steilen Hänge hochzieht – und kein einziges Schaf. Wie anders auf der Südseite: gerade blökt eines auf uns herab. Nach vielleicht einer Stunde machen wir den Felsvorsprung aus, den wir im vergangenen Jahr von Osten kommend erreicht hatten, eine Plattform über dem Wasser. Die lange angezweifelte Existenz eines für uns Flachlandabenteurer begehbaren Weges von der Mündung bis zur N 59 bei Leenaun ist bewiesen – wenn das kein Grund zum Rasten ist! Der Ort selbst liegt hinter einer der nächsten Biegungen zu Füßen der Teufelsmutter, deren Gipfel bereits erkennbar ist.

Unter uns gleitet ein Segelboot ohne Segel in Richtung Meer. Wir wundern uns, dass man den Außenborder nicht hört. Wassersport gibt es hier kaum; wegen der vielen Untiefen muss man die Westküste schon genau kennen. Granuaile aus dem 16. Jahrhundert kannte sie, ganz im Gegensatz zu den Handelskapitänen ihrer Majestät. Und so ging deren Fracht nicht selten an den Clan der O’Malleys, und die Kaufleute in Galway hatten das Nachsehen.

Wir sind nicht allein auf unserem sonnigen Felsplateau: an einen Stein gelehnt sitzt ein junger Mann mit einem Zeichenblock. Zeichnen kann ich nicht, aber ich schreibe ein wenig in mein Tagebuch. Nach eine Weile bricht der junge Mann auf, und nach einer weiteren Weile machen auch wir uns auf den Heimweg.

*  *  *

Am Abend im Paddy Coyne’s. Hervorragende Musik und ein furioser Bodhran-Spieler. Der Pub ist rappelvoll, kaum jemand lauscht den Musikern. Da taucht plötzlich ein Brautpaar auf, die Braut in Weiß, der Bräutigam und sein ‘Zeremonienmeister’ im Frack. Sie wirbeln durch die Gäste, wollen sich mit mir fotografieren lassen, wofür ich mit einem Pint Smithwicks, das ich nicht mag, entlohnt werde. Mein Mädchen hat da mehr Glück: sie bekommt einen Smithwicks-Gutschein und schafft es, ihn an der Bar gegen ein Pint Guinness einzulösen. Wie es scheint, wird die Hochzeit von Smithwicks gesponsert.

Die Band spielt ein wenig schräg den Hochzeitsmarsch, dann ist das Brautpaar verschwunden – ab in den nächsten Pub.

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Freitag, 18. Juni 1999

Für Gisela ist es der letzte Tag auf Renvyle. Es ging ihr in den letzten Tagen nicht gut; sie hatte es an der Galle und musste Dr. Nee konsultieren. Zwei Tage war Cousine krank, nun trinkt sie wieder, Gott sei Dank  ...

Letterfrack Industrial School, © 1995 Juergen KullmannWir besuchen die Furniture Exhibition in Letterfrack, eine Ausstellung von Möbeln, entworfen und angefertigt von Studenten des dort ansässigen Kollegs. Offensichtlich sind die wichtigsten Möbelstücke eines irischen Haushalts ‘Drinks Cabinets’, denn bei achtzig Prozent aller Exponate handelt es sich um trickreiche Unterbringungsmöglichkeiten für alkoholische Getränke vom Single Malt bis zum selbstgebrannten Poitín. Besonders trickreich und pfiffig die Methoden sie zu öffnen: solange man dies schafft, ist man nüchtern genug um weiterzutrinken. Qualität und Verarbeitung sind exzellent – Connemara West sollte die Cottages von den jungen Leuten ausstatten lassen!

Es wird Nachmittag und wir strolchen durch Clifden. So voll wie noch nie ist die Stadt, und so parken wir nach einer Ehrenrunde durch den Ort oben an der Kirche. Im Celtic Shop an der Main Street erwerbe ich eine CD mit Liedern über das Leben der legendären Gráinne Ní Mháille respektive Grace O’Malley von der Clew Bay – für drei Pfund weniger, als man in Westport dafür hatte haben wollten! Schließlich noch eine Stippvisite zur Wildlachsräucherei unseres Bretonen. Es gibt sie noch, wir ordern schon einmal für den kommenden Freitag.

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Es wird Nacht und wir sitzen am Tresen der Pier Bar in Cleggan.

Music to-nite
by
Frank & Kieran Coyne

stand auf einer Schiefertafel am Eingang, womit der Grund unseres Hierseins erklärt ist. Der Kamin brennt, die Heizung läuft auf vollen Touren. Anders als die meisten Iren scheinen Fischer leicht zu frieren, vor Staub und wackligen Barhockern hingegen keine Angst zu haben. Wie es aussieht, sind wir die einzigen Touristen. Ob die beiden obskuren Gestalten, die da hinter uns tuscheln, Whiskeyschmuggler sind? Das Telefon an der Bar klingelt, der eine macht sich auf und davon. Eine Warnung vor der Garda? ... Was für ein herrliches Stück Ohnsorg-Theater könnte man daraus machen.

Ein Séamus taucht auf, gesellt sich zu uns. Er komme aus Molly’s Bar in Letterfrack, erzählt er, dort gebe es zwar auch Musik, doch alles “machinery, only machinery”. Dann verrät er, dass Frank und Kieran, die gerade ihre Instrumente stimmen, Brüder sind. Na so was! Eine Mischung aus Folk und Country ist angesagt, letzteres weniger unser Fall. Doch kurz vor Mitternacht verlassen die Geister irischer Rebellen ihre Gräber und begeben sich in die Pier Bar zu Cleggan: Eine ortsansässige Lady schließt sich in ihren ‘special requests’ den Flying Columns des Unabhängigkeitskampfes von 1920 an, will dann nach Boulavogue, wo ein Father Murphy vor 200 Jahren die aufständischen Bauern gegen ihre Landlords anführte, um schließlich bei den Flüssen, die auch in Zeiten der Unterdrückung frei fließen, kräftig mitzusingen.

Kurz nach Mitternacht fahren wir heim, auch wenn die Instrumente noch nicht eingepackt sind. Denn Gisela muss morgen früh nach Shannon.

 
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Reiseberichte Irland: Connemara 1999
© 2001 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 19.07.2006