Irisches Tagebuch 2003

Ar ais arís

 

Sonnabend, 21. Juni 2003

Am frühen Morgen beobachten wir einen Menschenauflauf vor der Maol Reidh Lodge. Ein abenteuerlich bunt gemischtes Völkchen steigt aus drei bei Hertz gemieteten Minibussen und belegt das Hotel für das Wochenende. Eine Gruppe aus Belgien, findet mein Mädchen heraus, Teilnehmer an einer keltischen Hochzeit bei der Ruine auf Crump Island. Ein Bootsmann fährt sie heute Nachmittag hinüber.

Map, © 1992 Renvyle Tourism
Kartenausschnitt, © 1992 Renvyle Tourism

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Wir sind leider nicht eingeladen und verbringen den Nachmittag am Glassilaunstrand. Das Wasser zieht sich bereits zurück, der Strand wird breiter, und bald kann man trockenen Fußes zur kleinen Insel hinüberlaufen. Ein dunkler Kopf taucht aus dem Wasser auf, taucht wieder ab und ist wieder da. Das Geheimnis von Roan Inish, kennt jemand noch den Film? Neulich hat hier jemand einen Delphin springen sehen.

Irische Kinder wagen sich ins vielleicht 15 Grad kalte Wasser, derweil wir uns den Sand in den Nacken blasen lassen.

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Sonntag, 22. Juni 2003

DEileen Ógie einsetzende Flut hat uns nicht über die Furt nach Omey Island gelassen, und so sitzen wir wieder vor dem Cottage. Die gerade noch dunklen Wolken haben sich verzogen und mein Mädchen bringt auf zwei Gläser verteilt den letzten Schluck Lebenswasser aus der Flasche auf dem Kaminsims. Eileen Óg (rechts) nutzt sie als Rücken-Lehne, derweil sie die dort aufgestellte Bildproduktion dieses Urlaubs interpretiert.

MaureenDie Flasche müsse dringend aufgefüllt werden, murrt sie. Maureen (links) habe ihr klar gemacht, dass es höchst leichtsinnig ist, sich an eine leere Flasche zu lehnen. Sie habe daraufhin eine Milchflasche aus der Küche holen wollen, jedoch erfahren, dass das noch viel gefährlicher ist. In Milch sei etwas Drehendes, habe Maureen erläutert, das würde sie vom Sims wirbeln. Nur Whiskey habe die richtige Konsistenz, und am besten sei Single Malt. Außerdem schütze die regelmäßige Einnahme ein braves Schaf vor der Maul- und Klauenseuche! Wenn dem so ist, werden wir uns wohl morgen in Galway um Nachschub kümmern müssen. Doch jetzt muss sich mein Mädchen erst einmal hübsch machen, denn heute Abend spielen Frank und Kieran bei Sammon’s.

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Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht und wir sind wieder im Cottage. Nicht nur Frank und Kieran waren drüben, sondern auch die ‘Indianerin’, die zur Mittsommernacht in Molly’s Bar neben uns saß und wir inzwischen auf nicht unter 50 schätzen. Diesmal nicht im Ethno-Look, sondern in Jeans.

Auch hier kennt man ihr Können, und so ging die verzweifelte Suche nach einer Bodhrán los. Schließlich fand sich eine in der Pubdekoration; zwar gab es keine Klöppel, doch wofür hat man die Fingerkuppen? Grandios! Natürlich wurde sie nicht entlassen, ehe sie nicht auch den Lonesome Boatman gesungen hatte. Sie will uns nächste Woche den Text schicken, auf Gälisch und Englisch – mal gespannt!

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Montag, 23. Juni 2003

Gaillimh arís. Wenn sich der Weinvorrat dem Ende zuneigt und die Flasche auf dem Kaminsims leer ist, wird es Zeit nach Galway zu fahren. Zum Lidl. Anschließend schlendern wir Hand in Hand in die Stadt, wobei zwei von zehn Passanten etwas anderes in der Hand haben – ein Musikinstrument. Denn wie jeder gläubige Muslim in Mekka gebetet haben muss, ehe er den Titel Hadschi tragen darf, muss jeder Folkmusiker, der etwas auf sich hält, einmal auf Galways Straßen gesungen haben.

Und da sitzen, hocken und stehen sie, in der Shop Street, High Street, Quay Street bis hinunter zum Spanish Arch, dem Spanischen Torbogen. Nicht nur Folker, sondern auch Studenten der klassischen Musik, hier ein Mädchen mit einem Cello. Dazwischen ein Alleinunterhalter mit musizierenden Puppen und ein zur Salzsäule erstarrter Pantomime. Wirft man ihm eine Münze vor die Füße, löst er sich aus seiner Erstarrung und setzt auf seinem Sockel zu einem obskuren, fast dämonischen Tanz an, bis seine Bewegungen einer auslaufenden Spieluhr gleich langsamer und langsamer werden und er in sich verharrt, darauf wartend, dass der nächste Passant eine Münze wirft.

CoverGalway, das ist auch die Stadt der Buchhandlungen, eine neue ist schräg gegenüber Easons dazugekommen. Und alle scheinen seit Sonnabend nur einen Titel im Programm zu haben: Harry Potter and the Order of Phoenix. 120.000 Exemplare hatte Easons, Irlands große Buchhandelskette, die sich vor einiger Zeit Fred Hanna’s Bookshop in Dublins Nassau Street einverleibt hatte, für den Start geordert und am ersten Verkaufstag 8.000 unter die Iren gebracht. So findet man in den Auslagen nichts als Harry Potter und Harry Potter und stolpert nach dem Betreten der Läden über die aufgetürmten Stapel.

Kennys BookmarkHabe ich alle Buchhandlungen geschrieben? Nein, nicht alle, alle bis auf eine. Denn da gibt es eine in der Sráid Ard, KENNYS steht über der Tür, die sich der Eroberung durch den Zauberlehrling erfolgreich widersetzt. Keine Harry-Potter-Werbung im Schaufenster, nicht ein einziges Buch, statt dessen William Butler Yeats in allen Lebenslagen. Und während der andächtige Besucher an den Regalen vorbeiwandelt und den Laden durch die Galerie zur Middle Street verlässt, stößt sein Blick auf nicht ein einziges Buch über Harrys Abenteuer mit dem Phoenixorden.

Wir gehen zum Kai hinunter, über den Corrib an der Claddagh Hall (Music Every Night) vorbei zur Galway Bay Promenade. Vielleicht sollten die schäbigen Reihenhäuser, zu deren Bau das alte Dorf Claddagh plattgemacht wurde, unter Denkmalschutz gestellt werden, um damit zu zeigen, welchen Wert die Politik auf das Kulturerbe der Stadt legte. Nun stehen wir am Wasser, rechts voraus der Leuchtturm von Salthill, vor uns die Bucht, die Araninseln, und dann kommt Amerika.

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Dienstag, 24. Juni 2003

Als wir bei unserem Versuch, von Lough Fee aus den etwas über 300 Meter hohen Gipfel des Binn Mhór zu erklimmen, fast im Moor versinken, geben wir auf und fahren weiter nach Leenaun. Vor dem Cultural Centre zu sitzen, ein Stück Cheese Cake zu essen, auf den Fjord zu blicken, über andere Touristen zu lästern und die gute alte sowie bessere neue Zeit zu philosophieren, hat auch etwas für sich.

Vergleicht man das Dorf mit einem mehr als 100 Jahre alten historischen Foto, so hat es sich wenig verändert, abgesehen davon, dass es bunter geworden ist, was sich bei einem Schwarz-Weiß-Bild natürlich schlecht beurteilen lässt. Und der Straßenbelag sah vor einem Jahrhundert wohl auch etwas anders aus, eher so wie Film The Field.

Der Chef des Kulturzentrums, das neben einer Ausstellung über die Bedeutung von Schafen und Wolle – in die wir für die geforderten vier Euro noch nie haben jemand gehen sehen – im wesentlichen aus einem Craftshop mit Selbstbedienungsrestaurant besteht, kommt vor die Tür und fragt, ob wir wieder da seien. Was wir nicht verleugnen, the same procedure as every year.

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Mittwoch, 25. Juni 2003

ZPlakatumindest einen längeren Ausflug wollen wir noch machen, ehe es am Wochenende wieder nach Deutschland geht. Wir fahren nach Cong, wo man aggressiver als in Leenaun mit seiner filmischen Vergangenheit umgeht. Mehr als fünfzig Jahre ist es her, dass John Ford hier mit John Wayne und Maureen O’Hara den Quiet Man verbrochen hat, und noch immer sieht man in jedem zweiten Laden Plakate, Bücher, Videos und jetzt auch DVDs. Derweil Leenaun ‘seinen’ Film schon nach einem Jahrzehnt vergessen zu haben scheint.

Zeit muss man sich in Irland nehmen, auch zum Fotografieren. Nach zwölf Jahren sehen wir Ashford Castle, einst im Besitz der Familie Guinness, zum ersten Mal in der Sonne. Grauer Granit, eckig, kantig, gewaltig – mein Mädchen fühlt sich an Edinburgh erinnert. Hinein kommt man nur als resident, und die Übernachtungspreise dürften zu den höchsten Irlands zählen. Allerdings kommen jetzt auch Nicht-Insider ohne admission fee auf das Gelände. Die Eintritt kassierenden Wachen an der Ausfahrt neben der Abbey sind verschwunden, und man muss sich nicht mehr über den Friedhof und den dahinterliegenden Wald einschleichen. Was das immer ein schöner Wanderweg* war.

Die Fotos sind gemacht, und da sich auch das Restaurant von Ashford Castle non-residents gegenüber verschließt, wandern wir zum Lunch ins Dorf zurück und stärken uns in der Wohnstube des Quiet Man Coffee Shop. Je nach Belag vier bis fünf Euro für ein Toasted Sandwich erinnern zwar an Schlosspreise, doch dafür ist die Unterhaltung durch eine Vierjährige, die mit ihren Großeltern am Tisch gegenüber Platz genommen hat, gratis.

Wie man ihr Kleid findet? will sie wissen, nachdem sie ihre Bestellung (Sandwich und ein Glas Milch mit Orangensaft) aufgegeben hat. “The most beautiful summer dress ever was seen”, antwortet die Kellnerin, was die Kleine so zufrieden stellt, dass sie bereit ist auf den Orangensaft in der Milch zu verzichten. “You’re the nicest young lady we have had here since years”, meint die Wirtin später beim Abschied. “Yes !!!”, lautet die selbstbewusste Antwort.

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Wir sind wieder daheim und sitzen vor dem Cottage. Gerade habe ich für unser Dessert (Tropical Fruit Meringue) Brians letzten Topf Sahne gekauft, da kommt der Koch vom Maol Reidh Hotel in voller Montur aus dem Nebeneingang geschlichen und rennt in den Laden. Zu spät! Sein Hotelgast muss sich mit Obstsalat ohne Sahne zufrieden geben.

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Ein paar Notizen von einem Sonnenuntergangsabend. Wir gehen den ‘Rentner-Walk’, wie Rainer vom Rainbow House einmal sagte: hinter der Brücke von Tully zu Pier hinunter und auf der anderen Seite des Flüsschens zur Straße zurück. Die Ruinen dreier Feldsteinhäuser stehen malerisch in der Abendsonne, weniger malerisch die meisten bewohnten Häuser. Doch es gibt Ausnahmen, und so passt ***’s Farm (habe den Namen vergessen), ein bereits mehrfach mit dem Teleobjektiv von der Straße aus fotografiertes pinkfarbenes Anwesen, auch aus der Nähe betrachtet in die Landschaft.

Wir sind an der Pier, an die sich nur selten Touristen verirren. Ein massives Bollwerk aus grau-braunen Steinquadern stellt sich gegen die heute friedliche See, warm schimmernd in der Abendsonne. Die Fischer kehren heim.

* siehe: 24. Juni 1997

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Donnerstag, 26. Juni 2003

CoverEinen ganzen Tag lang Regen, gut für das lokale Business, denn dann wandern die Touristen nicht durch die Landschaft, sondern in die Läden, Pubs und Restaurants. Im Second-Hand-Bookshop zu Clifden – habe den vagen Verdacht, dass der Inhaber ein Deutscher ist – erwerbe ich Alec Guinness’ Autobiographie Blessings in Disguise. Auch er kam, wie man in dem Buch nachlesen kann, einst nach Connemara. Segen in Verkleidung, kann man den Titel übersetzen, so wie der heutige Regen einer für den Buchhändler ist, denn sonst wären abgereist, ohne noch einmal in seinen Laden zu kommen.

Doch am stolzesten ist mein Mädchen auf ihren Erwerb. Versuch einer Beschreibung: Man denke sich eine russische Bärenfellmütze mit rotem Stern, ersetze als Bärenfreund das Fell durch einen synthetischen Pelz und den roten Stern durch eine bronzene irische Harfe mit einem Stück Connemara-Marmor. Mütze und Harfe in verschiedenen Läden gekauft und kombiniert.

Am Abend gabeln uns die Lübecker im Paddy Coyne’s auf. Sie wollen die Mütze auch sehen, ich hole sie aus dem Cottage.

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Freitag, 27. Juni 2003

Und wieder ist ein letzter Urlaubstag angebrochen, denn morgen geht es nach Deutschland zurück, womit der Sonnabend nicht mehr als Urlaubstag zählt. Was also anfangen mit diesem sonnigen Junitag des Jahres Zweitausendunddrei? Wie wäre es mit einer Killary Cruise, oder einem Tag am Renvyle-Strand? Was wir heute verschieben, wird erst in elf Monaten wieder möglich.

Renvyle CastleWir entscheiden uns für keines von beiden, sondern für einen Spaziergang über die Spitze unserer Halbinsel. Das Auto lassen wir vor der Ruine des alten Wehrturms stehen und wandern Richtung Tully Mountain. Arg instabil wirken die noch stehenden Mauern aus dem 13. Jahrhundert. Hat Virginia vom Old Castle House keine Angst, dass ihr der Turm beim nächsten Sturm aufs Dach fällt? Die Wäsche an einer Leine zwischen ihrem Haus und der Ruine flattert im Wind.

Weiter geht’s. Auf einem Hügel zwischen uns und dem Meer liegt der Friedhof, vor uns der Hang des Tully Mountain mit langen, sich den Berg hochziehenden Mauern, die Felder im Handtuchformat bilden. Dann schwenkt der Weg nach rechts zum Meer ab.

Vor einem unbewohnten Haus, an dem schon vor einem Jahr ein Schild FOR SALE hing, gesellt sich ein noch nicht erwachsener, fuchsköpfiger Hund zu uns. Mein Mädchen schaut in ein Fenster und sagt “keine Heizung!” “Geisterhaus”, bellt der Hund, er habe hier neulich die ‘schwarze Bestie’ verjagt. Dann springt er auf und macht Jagd auf einen der schwarz-weißen Flugdrachen, zieht sich jedoch schnell wieder zurück. Nicht, dass die Elster ihn noch für ein junges Kaninchen hält.

Wir brechen wieder auf und finden einen bislang unentdeckten Weg die Abbruchkante zum Strand der Kieselsteine hinunter.

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Am Nachmittag wandern wir nach Mullaghgloss, uns von Johnnie und Margaret zu verabschieden. Seán aus East Anglia ist zu Besuch. Gesprächsthema: die Preise in Irland, England und Deutschland. God bless ye all bis zum nächsten Jahr!

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Reiseberichte Irland: Connemara 2003
© 2004 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 01.02.2007