Irisches Tagebuch 2004

Im dreizehnten Jahr

 

Prolog

Im dreizehnten Jahr nach Irland. Unter Berücksichtigung der Dubletten dürfte es die siebzehnte Irlandreise sein und die vierzehnte nach Tully Cross, womit der Statistik Genüge getan ist.

Im Gepäck zwei Nachrichten an Johnnie mit der Bitte sie weiterzuleiten. Debbie L. aus Fort Louis in Florida bittet ihn dringend mit seinen Memoiren fortzufahren, die, so schreibt sie, ‘ein Glücksfall für jedes local history museum und jede local library’ seien. Und John F. berichtet von jenseits des Großen Teichs von seinem Onkel Red McC., der mit Johnnies Clans verwandt sei. Ob sich Johnnie seiner erinnert? Ich werde ihn fragen.

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Sonnabend, 5. Juni 2004

Um vier in der Früh (irische Zeit) aufgestanden, haben wir gegen 18 Uhr noch nicht einmal Galway erreicht. Das neue, die Starts und Landungen überwachende Computersystem des Dubliner Flughafens wollte nicht, wie es sollte, und so verzögerte sich der Abflug in Düsseldorf um mehr als eine Stunde. Die Rushhour lässt grüßen.

Diesmal übergibt uns National Car Rental einen roten Citroen C2 und – wenngleich erst auf Nachfrage – die hinter die Windschutzscheibe gehörende Versicherungsplakette. Mit einer Zulassungsmarke kann der nette Mitarbeiter allerdings nicht dienen; statt dessen schiebt er einen von seinem Arbeitgeber abgestempelten Zettel in die Klarsichthülle, dem zu entnehmen ist, dass ‘die Zulassung beantragt sei und voraussichtlich in den nächsten sieben Tagen gewährt würde’. “That’s Irish”, meint er auf unsere zweifelnden Blicke hin, und würde der Polizei genügen.

Go West! Der gesamte Osten scheint in den Westen zu wollen, und so reihen wir uns in die Wagenkolonne auf der ‘langen Straße nach Galway’ ein. Bank Holiday Weekend, kein Wunder! Am Freitag wird gewählt und wir mustern die Gesichter auf den Plakaten am Straßenrand. Zur Wahl stehen die Vertreter in den Grafschafts- und Stadträten sowie die Abgeordneten für das Europäische Parlament; des weiteren stimmt man über ein Referendum ab, mit dem die Regierung das uneingeschränkte Recht eines jeden in Irland geborenen Kindes auf die irische Staatsbürgerschaft aus der Verfassung streichen will.

Ein finsteres, dunkelbärtiges Gesicht wirbt für die Sinn Féin. Wanted! Dead or Alive! hätte man als Unterschrift erwartet. Rote Schnapsnasen und -backen wollen für die Fianna Fáil in den Meath County Council und Avril Doyle, eine im Gegensatz zu den anderen Kandidaten sympathisch wirkende Frau, für die Fine Gael ins Europaparlament. Und dann ist da eine Partei, deren Kandidaten sich nicht im Bild zeigen, sondern nur ihre Telefonnummern angeben, meist plakatiert an Hauszufahrten. For Sale lautet der Name dieser Partei, und während im Osten ein Sherry Fitzgerald für sie kandidiert, hat man in Connemara Herrn Matt O’Sullivan aufgestellt.

So schleichen wir uns im Schritttempo durch Ballinasloe. Gegen halb acht (p.m.) sind wir in Galway, noch 50 Meilen oder anderthalb Stunden bis Tully Cross. Ein kurzer Zwischenstopp bei Molly’s Bar in Letterfrack, fünf Kilometer vor unserem ‘Port of Call’. Der junge Mann hinter dem Tresen, fast noch ein Schuljunge, verrät, dass es ‘music to-nite’ gibt. Mit Frank und Charlie.

*  *  *

Das bringt Stress und ein neuer Rekord im Cottageeinrichten bahnt sich an. Nur eine Stunde haben wir Zeit! Wir parken hinter dem Haus, der Schlüssel steckt wie immer an der Vordertür. Die Einkäufe vom Lidl aus Athlone werden durch ein Hinterfenster (Brian von gegenüber muss nicht unbedingt sehen, was wir alles nicht bei ihm kaufen) ins Cottage geschoben, und dann geht es los: über eine Stuhl-Tisch-Stuhl-Konstruktion (bei der sich der letzte Stuhl auf dem Tisch befindet) zum Dachboden hochgeklettert und unser in zwei Reisetaschen deponierter Privatbesitz heruntergehieft. Auspacken, einräumen, dekorieren, Bilder an die Wand – und nach einer Stunde hat sich ein Standard-Vermietungs-Cottage in ein PC (Personal Cottage) verwandelt. Das war’s, nun zurück nach Letterfrack ...

... wo in Molly’s Bar Frank und Charlie schon mit der Musik begonnen haben. Kieran ist auf einer Skandinavientour, erzählt Frank, wird aber in den nächsten Tagen zurückerwartet. Mein Mädchen arrangiert für Donnerstag, wenn ihre Familie für zwei Tage zu Besuch kommt, eine private Session in St. Anne’s. Sie solle alles ihm überlassen, meint Frank. Und das tut sie dann auch.

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Sonntag, 6. Juni 2004

A hard night’s day, um einen Beatlestitel umzukehren. Es ist es schon halb zehn, als wir aufstehen, das Full Irish Breakfast der Liebsten hilft beim Wachwerden. Das heißt, so ganz ‘full’ ist es nicht, da ohne Sausages und Black Pudding.

Eine Wanderung zum Tankstellenshop von Tully. In der guten alten Zeit, sprich vor zwölf Jahren, hatte er mehr zu bieten. Damals standen vor der Fleischtheke noch Kartons, aus denen Nägel, Schrauben und sonstiger Installationsbedarf verkauft wurde, und nun liegt nicht einmal ein ‘plug’ im Regal, um unsere deutsche Steckerleiste umzurüsten, an der die diesjährige Hauptinvestition hängt: ein portabler CD-Spieler mit zwei Computer-Lautsprechern. Auch gut, dann muss der für den Föhn mitgebrachte Adapter temporär zur Musikanlage wandern.

*  *  *

Das Wetter ist von einem leichten Nieselregen durchsetzt, zum Nachmittag wird es trockener. Zwei Kälbchen tummeln sich auf unseres Nachbarn Weide. Er versucht sie durch ein Gatter zu treiben, doch sie streben, als sie uns auf der Straße sehen, in die falsche Richtung. “Weitergehen!”, winkt Noel, wir würden sie ängstigen. Dabei steht Kalb gar nicht auf unserem Menüplan!

Zwischen Tully Cross und Mullaghgloss hängen an den Strommasten nur Wahlplakate der Sinn Féin, eine Pam Conroy kandidiert. Haben die anderen Parteien die Bauernschaft abgeschrieben? For sale steht schon seit Jahren an einem Cottage rechts der Straße, das immer mehr zerfällt. Die frühere Bewohnerin ruht auf dem Friedhof von Mullaghgloss, wo wir uns an der Mauer einen trockenen Sitzplatz suchen und darüber sinnieren, wo das Grab von Johnnies Bruder Paddy Coyne abgeblieben ist – bis wir mit Hilfe rudimentärer Gälischkenntnisse realisieren, dass wir fast direkt davor sitzen, vor einem imposanten, erst kürzlich errichteten Grabstein:

Go nDheanadh Dia Trócaire ar
Pádraic Ó Cadhain Marcus
Túrin Fheadha a Fuair Bás
9ad Lá ó Fómhair 2001
79 Blianna d’Aois.
Ar dheis Dé go raibh anam dílis.

Life is eternal, love will remain
In God’s own name we will met again

Oder auf Deutsch:

Möge Gott seine Gnade legen auf
Pádraic Ó Cadhain Marcus
Gestorben am
9. Tag des Oktobers 2001
79 Jahre alt
Möge seine treue Seele zur Rechten Gottes sein

Leben ist ewig, Liebe wird bleiben
In Gottes Namen werden wir uns wieder treffen

*  *  *

Vor dem Cottage in der Abendsonne. Der Mieter von No. 2 kommt vorbei, zwei süße Mädchen im Schlepptau, die noch im Vorschulalter sind. Sie seien ‘eigentlich’ Dubliner, erzählt er, wohnten aber in Wexford. Dann fällt sein Blick auf das Wörterbuch, mit dessen Hilfe ich die obige gälische Grabinschrift (was hieß noch mal trócaire?) analysiere. Er liebe die Sprache, erklärt er, und sie sei wieder im Aufschwung. Der erste Dubliner, der Irisch mag! Da weiß man, was demnächst auf seine Mädels zukommt: sich vor den Hausaufgaben in der ersten Landessprache zu drücken, gilt nicht.

Heute Abend wollen sie zur Bogweek nach Letterfrack, verrät er, Anne habe ihnen eine Babysitterin organisiert. Wir machen es uns einfacher und gehen zu Sammon’s. Frank will versuchen, Johnnie zum Mitkommen zu überreden.

*  *  *

Kurz vor zehn huschen wir über die Straße. Frank und Charlie bauen Verstärker und Lautsprecher auf, Johnnie sitzt an einen Pfosten gelehnt mit einem Pint Guinness in der Hand an der Bar. Im Herbst wird er 84. Ich gebe ihm die Mails zweier Verehrerinnen, die im Internet seine Erinnerungen gelesen haben und um eine Fortsetzung bitten. Er fürchte sich ein wenig vor dem Internet, grinst er, warum, das könne er aber nicht verraten. Also denken wir es uns und schweigen.

Noch ein paar Erinnerungen an den Abend: Die Stimmung steigt von Viertelstunde zu Viertelstunde, derweil die Musik vom schunkelnden Dublin In The Rare Old Times zu Rebelsongs übergeht. Patrick Sammon, seine Margaret starb im letzten Herbst, begrüßt uns mit Handschlag, dann laden uns eine Tríona und ein Tony aus Dublin zu Tonys 50sten in ihren Wohnwagen nach Lettergesh ein. Am Ende weiß man nicht mehr, wer welches Guinness bezahlt hat, und Johnnie sitzt mit seiner Fiddle zwischen Frank und Charlie. The Patriot’s Game, Amhrán na bhFíann und dann ist Schluss.

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Montag, 7. Juni 2004

Der Tag geht zu Neige. Ich sitze mit Kladde und Bleistift vor dem Kaminfeuer und versuche, die im Laufe des Tages notierten Stichwörter zu beleben, was weniger Mühe macht, als einen zusammenhängenden Bericht zu schreiben.

 
Zwei Mädel von nebenan

Es ist arg früh, als mich mein Mädchen aus dem Bett wirft, dass sie ausgeschlafen hat, reicht als Argument. Ich trete vor die Cottagetür. Die Lütten von nebenan sind schon putzmunter, haben ihre Puppen an die Feldsteinmauer gesetzt, versorgen sie mit dem Frühstück und genießen es, sich dabei beobachten zu lassen. Sind wir nicht hübsch? In ihren langen Rüschenkleidern im Folklorestil könnten sie im ‘Geheimen Garten’ auftreten.

Ein kurzer Blick zur Seite – guckt der Mann an der Tür überhaupt noch? – und dann ein besonders elegantes Dahinschreiten mit dem Puppenfrühstück in der Hand. Ob sie ihre Schutzbefohlenen auf Gälisch anreden: Ba mhaith liom breacfeasta, a ghrá? Dem Herrn Papa würd’s freuen.

 
Parkgebühren in Clifden

Clifden hat ein weiteres Stück seiner Unschuld verloren und kassiert an der Main und Market Street Parkgebühren. Ein Euro für jede Stunde, zwischen 11.30 und 18.00 Uhr und von April bis Oktober. Wir merken das erst, nachdem wir bereits eine Stunde schwarz geparkt haben, ziehen dann aber doch noch einen Parkschein für die zweite Stunde aus dem Automaten.

Sofern kein Großeinkauf beim SuperValu ansteht, werden wir künftig oben an der Kirche parken. Unser Großeinkauf von heute (in Anbetracht des am Mittwochabend erwarteten Besuchs): Zwölf Dosen Guinness ‘mit Klack’, € 1,85 pro Dose. Mr. Veldon in Letterfrack wollte 2,19 dafür haben.

 
Warten auf Godot

Godot tritt in vielerlei Gestalt auf, als Mensch, als Ereignis, ist irgendwie da, aber nicht greifbar, erscheint am Horizont und verschwindet gleich wieder, ist plötzlich ganz nah und dann wieder fern.

Wir warten auf Anne, wollen endlich den Umschlag mit 1.050 € Cottagemiete loswerden, ehe er uns noch abhanden kommt. Es ist später Nachmittag und wir sitzen vor dem Cottage. Ich schreibe immer mal wieder eine Zeile in dieses Buch und mein Mädchen liest ‘Die Frau im Moor’. Da stoppt Annes Wagen vor Brians Shop und sie huscht hinein. Jetzt haben wir sie, wenn sie rauskommt, muss sie uns sehen! Sie kommt aus dem Laden, wir winken, sie winkt zurück, ruft etwas, was wie ‘will be back in a few minutes’ klingt und macht sich von dannen.

Zwanzig Minuten später naht erneut ihr silberner Yaris, Baujahr ’99. Ein Winken aus dem offenen Fenster und weg ist sie.

Eine Dreiviertelstunde später. Anne, geb. Godot, naht aus der Gegenrichtung. Kein Bremsen, kein Zu-uns-herüberschauen, der Blick stur geradeaus gerichtet und schon ist sie in ihrem Silberpfeil vorbei. “Absicht”, meint mein Mädchen, “die will das Geld auch nicht bei sich herumliegen haben. Die kreuzt hier erst auf, wenn sie aus irgendeinem Grund nach Clifden muss, um es dann bei der Bank of Ireland einzahlen zu können.”

 
Ireland meets Scotland

... and France, bleibt hinzufügen. Wir sitzen immer noch vor dem Cottage, Irish Folkmusic dringt durch die Tür und das Küchenfenster. Doch war da nicht ein Ton, der nicht dazugehört? Ich gehe ins Haus und schalte den CD-Spieler ab. Von irgendwoher hört man einen Piper. Aus dem Radio eines der an der Kirche parkenden Autos?

Ich versuche die Musik zu orten, gehe in Richtung Kirche, komme an Noels Haus vorbei – und sehe vor den Cottages an der Ecke einen Piper in Zivil mit seiner Bagpipe hin und her schreiten, das Massaker von Glencoe beklagend. Dann legt er an Tempo zu, aus dem Klagelied wird ‘Scotland the Brave’, mit dem Bonnie Prince Charlies Gefolgsleute gegen England in die Schlacht zogen. Hätten sie seinerzeit so bravourös gekämpft, wie dieser Piper hier und heute spielt, säßen jetzt die Stuarts in London auf dem Thron. Dann packt er seinen Dudelsack in eines der parkenden Autos, ein paar älteren Herrschaften steigen in die zwei Wagen und fahren Richtung Kylemore. Ich erkenne französische Nummernschilder.

Diamond Hill from Derryinver Quay, © Paul GuilfoyleFrüher Abend. Wir schlendern zum Derryinver-Kai hinunter, um später über das Moor zurückzuwandern. Zwischen Ebbe und Flut, es ist fast windstill, das Wasser spiegelglatt. Ein buntes Boot liegt zwischen Herzmuschelschalen im Schlick, weiter hinten am Kai ein rostiger Kahn und daneben das Ausflugsboot von Ocean’s Alive, das heute nicht mehr ausfährt. Wir sitzen auf einem Mäuerchen, doch die Windstille lockt auch die Midges an. Komm, Mädchen, lass uns gehen!

Da nahen zwei Autos mit französischen Kennzeichen, ältere Herrschaften steigen aus. Die kennen wir doch?! Jemand öffnet den Kofferraum eines der Wagen, hängt sich eine schottische Bagpipe um, und ein einsamer Piper wandert melancholisch-klagende Melodien über das Meer schickend den Kai hinauf und hinab. Natürlich habe ich keine Kamera zur Hand!

Wen ruft er herbei? Die französischen Truppen, die 1690 die irischen Aufständischen im Kampf gegen Wilhelm von Oranien unterstützten, um dann doch zu scheitern?

An raibh tú i gCill Ala nó Caisleán a’Bharraigh?
An bhfaca tú campaí ag na Francaigh? ...

Warst du in Killala oder Castlebar?
Sahst du die Lager der Franzosen? ...

Ein Boot naht, doch es ist nicht die französische Armada, sondern ein irischer Fischer, bei dem die Feinschmecker Spider Crabs geordert hatten.

Das erfahren wir von einem Mitglied der Reisegruppe, einer Dame, die ein geradezu perfektes Englisch spricht. Vielleicht weil sie, wie sie betont, keine Französin sondern Bretonin ist. Kelten aller Länder vereinigt euch! Der Piper sei ein Meister seines Fachs, erzählt sie, was wir nur zu gerne glauben. Doch jetzt verhandelt der mit dem Fischer, und wir wandern nach Tully Cross zurück.

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Dienstag, 8. Juni 2004

Wir haben unser Frühstück gerade beendet, da steht Anne Jack vor der Tür. Den Geldumschlag werden wir los, unser Präsent auch, und dann berichten wir vom gestrigen Erlebnis mit dem Dudelsackspieler.

Die Gruppe kommt schon seit 30 Jahren, erfahren wir, wenn auch nicht in jedem Jahr, und immer mietet sie die beiden Cottages unten an der Ecke. Ihr Heimatort ist Partnerstadt von Westport, und auf dem Weg nach dort pflegen sie hier Station zu machen. Einige müssten schon um die 70, wenn nicht gar 80 sein, schätzt Anne, drei seien mittlerweile verstorben. Dass einer von ihnen Dudelsack spielt, habe sie nicht gewusst!

*  *  *

Das Wetter ist etwas durchwachsen, und so beginnen wir den Tag mit einem Besuch im Craftshop von Kylemore, wo die Liebste eine rote (auch wenn sie Oxford Blue heißt) original-englische Jacke aus gewachster Baumwolle ersteht. Eines jener Modelle, die – careful handling provided – ein Leben lang hält, womit weiteren verregneten Sommern in Irland nichts mehr entgegensteht.

Noch ein paar Notizen von diesem Tag: Von Kylemore aus zum alten Kalkofen am (kostenfreien) Hintereingang des Connemara National Park gewandert, dort von einer Schauer überrascht zum Auto zurückgegangen und zum Lunchen nach Veldon’s gefahren. 3,40 Euro kostet das Guinness in diesem Jahr. Am Nachmittag malt mein Mädchen ein Bild und ich schreibe in dieses Heft. Gegen Abend ziehen wir uns auf ein Pint, aus dem dann zwei (oder gar drei?) werden, nach St. Anne’s zurück.

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Mittwoch/Donnerstag, 9./10. Juni 2004

Hildegard an Gisela – Letter From Home

Liebe Gisela – Nun ist unsere erste Urlaubswoche bald rum und die Normalität hat Einzug ins Cottage gehalten. Den Kurzbesuch meiner Familie haben wir erfolgreich gemanagt, auch wenn ich vor und während des Besuchs etwas gestresst war. Gut, dass sie gleich in der ersten Woche kamen, sonst hätte der Vor-Stress noch länger gedauert! Dabei liegt alles nur an mir selbst und meinem Hang, mich für alles – einschließlich des Wetters – verantwortlich zu fühlen.

Eine Tuete gruener WindAlso, unser Cottage war am Mittwochabend perfekt hergerichtet. Zum Glück hat jetzt auch das Doppelstockbett im Kinderzimmer die schönen Rüschenbezüge mit roten Rosen, die du vom Schlafzimmer her kennst. Jürgen hatte Katharina das Buch ‘Eine Tüte grüner Wind’ aufs Kopfkissen gelegt, ich eine Schüssel mit Gummibärchen dekorativ auf die Kommode gestellt. Die Fenster waren geputzt, das Torffeuer prasselte im Kamin, der Kühlschrank war rappelvoll mit Lebensmitteln und Guinness, und ich hatte selbst den Kauf einer rote Nelke nicht gescheut, um sie mit am Wegesrand gepflückten Margariten in eine leere Grappaflasche auf den Sofatisch zu stellen.

Die Vogts trafen pünktlich gegen halb fünf ein, vier Stunden braucht man von Kerry Airport. Ich hatte mehr geschätzt, vielleicht fährt Klaus aber auch flotter als wir. Mein Chili-con-Carne putzten sie gut weg, anschließend machten wir uns einen gemütlichen Abend am Torffeuer, derweil die Zahl der Guinnessdosen im Kühlschrank dahinschmolz und der Level der Whiskeyflasche auf dem Kaminsims sank. Katharina schlief anschließend mit Oma im Kinderzimmer (Oma unten, sie oben), Brigitte und Klaus hatten sich gegenüber in der Maol Reidh Lodge einquartiert.

*  *  *

Donnerstag. Was tun mit Kurzzeitbesuchern aus Deutschland, die, gestern erst angekommen, morgen in aller Herrgottsfrühe wieder fort müssen? Leider war es (wofür ich mich persönlich verantwortlich fühlte) arg wolkig und stürmisch, so dass wir nach dem Frühstück zum Shoppen nach Clifden fuhren – einkaufen tut der Seele gut! Mutter erstand ein gerahmtes Cottagefoto und finanzierte den Lunch zu sechst im Derryclare (100 Euro). Später dann, auf dem höchsten Punkt der Sky Road, kam die Sonne durch und tauchte die Bucht in ein wunderbares Licht – nur musste man sich vorsehen nicht ins Meer gepustet zu werden. Als Brigitte und Klaus vor zwei Jahren hier waren, war es windstill, doch dafür sah man nichts. Man kann nicht alles haben! Auf dem Heimweg im Avoca-Shop vor Letterfrack erstand Brigitte schließlich die Jacke, nach der sie erfolglos sämtliche Clifdener Läden durchforstet hatte.

So, was hatten wir, was fehlt uns noch? Wir hatten irische Sonne, irischen Wind, irisches Städtchen, irisches Restaurant, irische Souvenirs und irische Wollwaren. Stimmt, der irische Regen fehlt! Kein Problem, den holen wir uns am späten Nachmittag beim Spaziergang am Renvyle-Strand. Und noch etwas fehlt, der Höhepunkt des Tages. Doch dazu muss ich etwas ausholen.

Da ich bekannterweise für alles und somit auch dafür verantwortlich bin, dass sich unser Besuch bei schlechtem Wetter nicht langweilt, hatte ich am Samstagabend bei Molly’s Frank angesprochen, ihm die Sachlage (Familienbesuch mit 74-jähriger Mutter, die noch nie in Irland war) erklärt und gefragt, ob er nicht Lust hätte, am Donnerstag im Paddy Coyne’s für uns Musik zu machen. Oder ob er schon einen anderen Auftritt habe, zu dem wir kommen könnten? Nee, meinte er, er hätte die Woche über keine Termine, da er früh aus den Federn müsse. Strommasten für das ESB aufstellen! Aber ich solle ihm die Sache mal überlassen, er würde das schon hinkriegen. Da Kieran in Spanien sei, werde er Johnnie fragen, ob er mit seiner Fiddle mitkommt.

Am Tag darauf trafen wir Johnnie im Angler’s Rest. Er war bereits informiert, grinste und meinte: “I will play for your mother!” Ich bin mir sicher, ich hätte ein Dutzend Brüder und Schwestern ankarren können – ohne jede Wirkung. Habe ich aber eine Mutter vorzuweisen, kommt Bewegung in die Sache. Schließlich war Johnnies Mutter, folgt man seinen Worten, die größte Irin aller Zeiten!

Ergo marschierten wir am Donnerstagabend frisch gewaschen und gestriegelt ins Paddy Coyne’s und belagerten ab halb zehn den kleinen runden Tisch in St. Anne’s, gespannt wie Gitarrenseiten, ob auch alles klappen würde. Der Pub gefiel Brigitte und Klaus auf Anhieb. Mutter staunte und Katharina war riesig stolz dabei zu sein, harrend der Dinge, die da kommen sollten.

Johnnie Coyne, © 2004 Jürgen KullmannKurz vor zehn rückten Frank und Johnnie an und wir stellten ihnen die Vogtsche Sippe vor. Johnnie, mit dem Selbstbewusstsein seiner fast 84 Jahre, setzte sich gleich in die Mitte unseres Kreises. Dann ging’s los, Johnnie auf der Fiddle, Frank Gitarre und Gesang, ohne Mikro und Verstärker. Und wir mittendrin, der Anlass der ganzen Aktion! Noel an der Bar hörte ebenso andächtig zu wie ein paar weitere Gäste und stieß ein “schsch, schsch” in den Raum, als zwei Pubnasen neben ihm bei ‘Only Our Rivers Run Free’ laut zu quatschen begannen. Schließlich kam auch noch Patrick Sammon vom Pub next door, und ich konnte Jürgen sogar überreden, sich zum ersten Mal in seinem Leben öffentlich auf der Mundharmonika zu produzieren. ‘Róisín Dubh’, spielte er, und ‘Shoals of Herrings’. Klang sehr gut!

Johnnie Coyne, © 2004 Jürgen KullmannMeine Familie präsentierte sich glänzend. Brigitte schäkerte die ganze Zeit über mit Johnnie, er ist aber auch ein Charmeur! Katharina bestaunte mit großen Kulleraugen die Musiker und ihre Instrumente (Frank spielte zwischendurch auch Banjo und Tinwhistle). Das Kind hat, das muss hier einmal gesagt werden, das große irische Urlaubsexamen mit Bravour bestanden! Mutter beobachtete alles, wobei ich nicht so recht weiß, was sie dachte und wie sie es fand.

Um Mitternacht war Schluss. Ich bin mir sicher, Brigitte und Klaus hatten dergleichen noch nie erlebt! Und ich bin ganz stolz auf mich und Jürgen und Frank und Johnnie. Schade, dass du nicht dabei warst, dann könnten wir unsere Eindrücke jetzt austauschen und diskutieren. Toll, wie Frank sich auf die Idee eingelassen hatte, auch wenn er am nächsten Morgen früh rausmusste. Jürgen meint, er ist genau so eitel wie ich. Doch jetzt mache ich bei aller Eitelkeit Schluss.

Tschüss, Hildegard”

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Freitag, 11. Juni 2004

Ein paar Notizen vom Tag. Eine Stippvisite nach Leenaun steht auf dem Programm – das Dorf sieht immer noch wie im Film The Field aus. Ansonsten ist Wahltag in Irland: Wahlen zum Europaparlament, den City- und County Councils sowie die Abstimmung über das Staatsbürgerschaftsreferendum. Alles auf einen Streich! Quäkend fährt ein Lautsprecherwagen durchs Dorf und fordert uns auf, ‘Welby for No. 1’ zu wählen. Vermutlich geht es um den Galway County Council, doch ganz sicher bin ich mir nicht.

Früh hatte der Tag begonnen, mit einem Frühstück für unsere Gäste, die um sechs (a.m. !!!) abreisten, um ihren Flieger in Kerry nicht zu verpassen. Und so geht er auch recht früh zu Ende.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2004
© 2005 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 02.02.2007