Irisches Tagebuch 2012

Als Sligo ins Wasser fiel

 

Sonnabend, 2. Juni 2012

Nach einer langen Nacht mit Musik in der Bar des Renvyle House Hotels kommen wir erst gegen halb zehn aus den Federn. Es lohnt sich auch nicht eher, denn es regnet. Den ganzen Tag, auch in Clifden, so dass das

Clifden 200: Living History Project

Das ‘Clifden 200: Living History Project’ führt mit Straßentheater, Musik und Tanz zurück in jene Zeit, in der Clifden vor 200 Jahren als Marktort gegründet wurde. Kinder der Grundschulen von Clifden, Claddaghduff und der Kingstown National School haben mit der Dramaturgin Vegan Vine und der Künstlerin Shelly McDonnell fünf Wochen lang eine Performance einstudiert, in der sie die Geschichte der Stadt aufzeigen.

Ort: Clifden Town Square. Zeit: 3 pm. Eintritt: Frei.

ins Wasser fällt und die Kamera unverrichteter Dinge ins Cottage zurückkommt. Hauptthema in den Medien: Irland hat ‘YES’ gestimmt, Ja zum EU-Stabilitätspakt gesagt:

Renvyle Bay, © 2012 Juergen Kullmann

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Am Abend erreicht die Letterfrack Bogweek ihren Höhepunkt: Fiedler, Flötenspieler, Akkordeonisten und ein junger Mann mit einer Concertina treten in der Höhle des Barden auf. Gerard vom Paddy Coyne’s in Tully Cross ist weintrinkenderweise auch vor Ort. Gegen elf wandern wir über die Straße in Molly’s Bar und leisten Frank und Tony bis zum Anstimmen von ‘Sinne Fianna Fáil’ gegen ein Uhr in der Früh Gesellschaft.

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Sonntag, 3. Juni 2012

Der Regen hat sich nach Osten verzogen, aber der Himmel bleibt grau, ein grauer Vorhang in unterschiedlichen Schattierungen, der sich nun einen spaltbreit öffnet. Vorsichtig lugt die Sonne durch den Schlitz und beim Blick über die Schulter leuchtet die Kirche von Tully Cross auf, nur für einen Moment, nicht lang genug, um die Kamera aus dem Rucksack zu holen. Wir streben dem Derryinver Quay zu. Vor zwanzig Jahren wurde der Weg über das Moor den Cottage-Mietern als malerischer Wanderweg ans Herz gelegt, doch wurden die Tipps in den Folgejahren immer seltener aktualisiert und irgendwann verschwanden die Info-Mappen aus den Häusern. Der Pfad vor uns scheint kaum noch begangen zu werden, ist auf den ersten hundert Metern völlig zugewachsen, von der Straße her fast nicht zu finden. So haben wir ihn für uns allein und stellen fest, dass die Twelve Bens am Rande der Ebene auch unter vierzig Schattierungen von Grau nichts von ihrer Majestät eingebüßt haben.

Renvyle-Halbinsel, Irland, Connemara, © 2011 Juergen KullmannDer Derryinver-Kai hat wenig Malerisches an sich: eine Schiffsruine an Land, eine andere im Wasser und dazwischen zwei oder drei seetaugliche Gefährte. Ein verblichenes Plakat, auf dem eine lokale Theatergruppe ein Stück über Hunger und Auswanderung ankündigt, verstärkt die Tristesse. Ein Mann schippt mit einem Eimer Wasser aus einem Boot, während ein anderer an den Slip gerudert kommt und eine Plastikkiste mit zwei Fischen an Land trägt. Traurig sehen sie uns aus ihren toten Augen an. Ich glaube, ich mag heute Abend keinen Fisch.

Der Fischer holt sein Auto, bindet die Kiste mit dem Fang an die Stoßstange, fährt mit ihr im Schlepptau scheppernd zwanzig Meter weit zu einem Schuppen, knotet sie wieder ab und trägt sie hinein.

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Wir sind wieder ‘on the road’, wandern landeinwärts die schmale Straße entlang des Ballynakill Harbour zur Dawros-Brücke hoch, vorbei am Haus des ehemaligen Metzgers von Letterfrack, einem Schwager unserer Landlady. Er erspäht uns durch ein Fenster, winkt, kommt zur Tür und fordert uns die Auffahrt hinunterrufend auf, “for a cup of tea” ins Haus zu kommen. Ich habe eigentlich keine Lust, doch Weggucken geht nicht mehr und mein Mädchen meint, wir müssen.

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Die Twelve Bens kuscheln sich für die Nacht in Dunst und Wolken, als wir mit Brigitte und Kalle über die Straße ins Angler’s Rest wandern. Die beider Waltroper haben sich aus ihrem Feriendomizil in Carna nach Tully Cross begeben, um Frank & Kieran einmal live in Irland zu erleben, nachdem sie sie vor fünf Jahren bei einem Konzert in Arnsberg kennengelernt hatten. Wahrscheinlich ist so ein irisches Juni-Holiday-Weekend nicht der beste Zeitpunkt dafür, doch was will man machen, am Mittwoch geht ihr Flieger nach Deutschland zurück.

Da die meisten Iren morgen frei haben, strömt alles in die Kneipen. Bald ist es rappelvoll, jeder redet mit jedem, und kaum schaffen es die beiden Musikanten, gegen den Lärmpegel anzusingen. Gegen halb zwölf wird das selbst dem hartgesottenen Waltroper Coyne-Fan-Club zuviel. Wir ziehen uns auf ein parting glass ins Cottage zurück, dann machen sich die beiden auf ihren Weg durch die Nacht nach Carna.

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Postscriptum: Eine Begegnung bleibt nachzutragen. Kurz bevor wir den Pub verließen, kämpfte sich der local postman zu uns durch. Ob wir uns an ihn erinnern? wollte er wissen. Er habe vor vielen Jahren im Paddy Coyne’s ein Foto von uns geschossen, werde es morgen heraussuchen und dort für uns hinterlegen.

Den das Foto-Shooting erinnern wir uns nicht, aber an eine Begegnung von vor etwa fünf Jahren, als uns auf dem Weg zum Derryinver Quay ein Auto überholte, stoppte, der Fahrer sich als local postman vorstellte und erzählte, er habe einige Jahre zuvor im Paddy Coyne’s ein Foto von uns geschossen, das er dort am nächsten Tag für uns hinterlegen werde.

Der nächsten Tage sind viele in Irland.

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Montag, 4. Juni 2012

BRenvyle-Halbinsel, Irland, Connemara, © 2011 Juergen Kullmannank Holiday, und es regnet. Wir wandern durch Westport. Der Summer Sale des Whyte House lässt noch auf sich warten – gut für die Urlaubskasse, denn die Normalpreise sind für mien Deern indiskutabel. Da kann sich der frock im Schaufenster noch so viel Mühe geben. Ein Galway-Aufkleber fürs Auto und zwei Ansichtskarten sind im Budget hingegen noch drin.

Reingefallen. Bei den Towers am Hafen wollten wir uns vor der Heimfahrt mit Tee und Cheese Cake stärken, doch das Restaurant ist verwaist und das nicht erst seit gestern, wie das hohe Gras zwischen den Bänken im Außenbereich zeigt. So bleibt es bei zwei Eis am Stiel, einem Caffee-to-go und einem Foto über die Clew Bay auf den Croagh Patrick. Die Rückfahrt führt durch das Tal von Delphi. Wir halten intensiv Ausschau, doch ein Orakel zeigt sich uns nicht.

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Dienstag, 5. Juni 2012

Leise nieselt der Regen, und glaubt man den Wetterfröschen von Met Éireann, wird sich daran in den kommenden Tagen nichts ändern. So verschieben wir den geplanten dreitägigen Ausflug ins Yeat’s County auf das nächste Jahr, womit der Irlandurlaub 2013 gesichert ist und der gegewärtige unter dem Titel Als Sligo ins Wasser fiel in die Annalen eingeht.

Renvyle Peninsula, © 2012 Juergen KullmannStatt dessen fahren wir nach Carna, im Rucksack ein Heftchen mit zehn Wanderungen über die Moore, das uns Brigitte und Kalle am Sonntag mitgebracht hatten. Doch regnet es in ihrer Connemara-Gaeltacht noch mehr als hinter unseren zwölf Bergen, so dass aus der Moorwanderung eine Autofahrt entlang der Küste wird, die mit dem Erwerb zweier Ansichtskarten im Souvenirladen von Glynsk ihren Abschluss findet.

Am Abend testen wir Paddy Coyne’s Küche – trotz der Bedenken, als sich der neue Koch in der Tür zeigte. “Ist das nicht …?” runzelte mien Deern ihre Stirn, denn kulinarische Katastrophen vergisst sie nie, egal wie lange sie zurückliegen. 1995 oder 1996 muss es gewesen sein, dass uns dieser Chef de Cuisine bei Veldon’s in Letterfrack ein grausam zugerichtetes Lammkotelett serviert hatte. Bis dahin hatten wir ihn nur als Aushilfskellner gekannt, später dann auch beim Strohdachdecken beobachtet.

Geben wir ihm eine zweite Chance! Die Muscheln in einem Wein-Knoblauch-Sud sind exzellent, und der Dorsch als Hauptgang ist auch nicht übel. Das in geschmacksneutralem Salzwasser bissfest gekochte Gemüse (Möhren, gelbe Rüben, Erbsen) schmeckt nach nichts – das gehört sich so in der traditionellen irischen Küche. Wir outen uns als Touristen und ordern zwei Stückchen Butter hinzu.

Plötzlich steht der local postman vor uns – ohne das versprochene Foto. Er habe es einen ganzen Abend lang gesucht, entschuldigt er sich, werde aber weiter danach forschen und es bestimmt noch finden. “No problem”, beruhigen wir ihn. Fünf Jahre nach Beginn der Suche kommt es auf ein weiteres auch nicht mehr an.

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Mittwoch, 6. Juni 2012

Hildegard an Gisela – Letter from home

Liebe Gisela — Manche Dinge sind hier einfach nicht zu kriegen! Zum Beispiel einfaches, unliniertes Papier im Format DIN A5. Hellblau oder rosa schon, aber weiß nur liniert, optional auch mit Notenlinien oder Millimeterraster. Und so schreibe ich den Brief auf die Rückseite unseres Programms von der Bogweek, die am Sonntag zu Ende ging.

Doch zunächst einmal schöne Grüße aus dem Cottage No. 1. Bei der Anreise fanden wir keine neuen Improvements vor, es war aber auch nicht mehr Lack ab als üblich. Wir haben es uns (wie immer) gemütlich gemacht. Nach vierundzwanzig Irlandreisen in zwanzig Jahren sind wir etwas ruhiger geworden und müssen nicht mehr jeden Abend nach Clifden. Auch so gibt es genug zu erzählen.

Frühstück, hinterm Cottage, © 2012 Juergen KullmannSeit Wochenbeginn ist es draußen grau, kalt und feucht, auch wenn wir vor zehn Tagen bei sage und schreibe 27 °C hier angekommen sind – ein Wetter, bei dem ein feuchtes Cottage auch ohne Heizung warm und trocken wird. An den ersten drei Tagen haben wir hinter dem Cottage auf der Wiese gefrühstückt, dort steht jetzt ein Picknicktisch.

P. und C. singen und spielen wie in alten Zeiten, dazu noch an den gleichen Tagen und in den gleichen Pubs. C. hatte uns am vorletzten Sonnabend sein Girlfriend 2012 vorgestellt, ein Typ wie C.R., nur zehn Jahre älter. Also Mitte bis Ende 60. Seine Oberhemden spannen über dem Bauch bis sie fast platzen – ohne die Gitarre davor wäre es echt peinlich.

Im Paddy Coyne’s gibt es jetzt warme Mahlzeiten. Hardwaremäßig befindet sich die Küche im hinteren Teil von Brians ehemaligen Laden, zu dem es nun einen Durchgang gibt. Der Laden hat dicht gemacht. Eröffnet 1811, war er ein Stück Tullycross, der Dorfmittelpunkt neben der Kirche und dem Pub. Traurig, auch für Jürgen, der nun jeden Morgen zur Tankstelle von Tully muss, um sich den Irish Independent zu holen! Nun zu dem, was Paddy Coyne’s Küche fabriziert. Wir hatten uns darauf gefreut — bis wir den Koch sahen. Das ist der Typ, der uns vor Jahren (ich glaube, es war noch im letzten Jahrtausend) bei Veldon’s ganz grausige Lammkoteletts mit Pellkartoffeln und zwei Scheiben Zucchini serviert hatte. Du erinnerst dich? Dabei erzählte er, dass er auch beim jährlichen Neudecken der Strohdächer der Cottages mitzuwirken pflegte. Was er vermutlich besser beherrschte – oder auch nicht, wenn man sich manche Dächer hier anschaut.

Nach anderthalb Wochen Zögern hatten wir ihm gestern Abend dann doch noch eine Chance gegeben. Die Bewertung: Auch ein Koch in Irland ist lernfähig, denn so übel war es nicht, was er auf den Tisch brachte, abgesehen davon, dass das Gemüse wie ehedem ohne Butter gekocht und serviert wurde. Eine weitere Steigerung ist also möglich. Vielleicht schafft er es noch bis zu seiner Rente.

Am Sonntag sind wir den Bogway gegangen und beim Ex-Butcher vorbeigekommen. Das Haus mit den vielen An- und Aufbauten sieht nicht mehr so proper aus wie ehedem. Er winkte uns rein, wir sollten einen Tee mit ihm trinken. Ich glaube, er langweilt sich, auch wenn in einem der Anbauten eine seiner Töchter wohnt. Seit geschätzt zehn Jahren in Rente, ist im vor fünf Jahren die Frau gestorben, eine Schwester von Anne Jack. Sie ging in alten Zeiten mit Maggie Bingo spielen, vergaß aber (was ich wiederum nie vergaß) ihr Versprechen, mich mal mitzunehmen und in die Kunst des Bingospielens einzuweisen. Vielleicht hat sie dafür jetzt ein paar hundert Jahre Fegefeuer mehr abzusitzen. Sie sah ein bisschen aus wie Tante Else bei schlechter Laune.

Die Tochter der beiden backt ein ganz hervorragendes Brown Bread, das er uns zum Tee servierte. Als wir auf der Suche nach einem Gesprächsthema verrieten, dass wir irische Musik mögen, lief er fort, kletterte eine steile Stiege hoch und schleppte einen Stapel zerkratzter alter Schallplatten herbei, die Jürgen verzweifelt zu bewundern versuchte.

So viel für heute. Ich hoffe, auch dein Urlaub war schön und du hast dich gut erholt. Wenn man an neuen, unbekannten Orten Urlaub macht, begegnet man nur selten sich selbst. Doch hier, nach mehr als zwanzig Aufenthalten, begegnen wir hier immer wieder unserer eigenen Geschichte. Das ist schon etwas komisch.

Tschüüs und viele Grüße von
Hildegard + Jürgen”

Der Chronist fährt fort

Cleggan Peninsula, © 2012 Juergen KullmannAuf neuen Pfaden! Auch nach zwanzig Jahren gibt es hier noch Wege, über die unsere Füße noch nicht gelaufen sind. Zum Beispiel den, der auf der Cleggan-Halbinsel südlich des verträumten Lough Anilaun den Hügel hochführt, vorbei an einem kleinen Wasserfall und silbern glänzenden, versteinert wirkenden Bäumen aus einer anderen Zeit. Nicht weit oberhalb davon auf einer Wiese ein weißes Feenpferd – Ait Éile, ein anderer Ort in einer anderen Welt. Ein kleiner Frosch hüpft durch das Gras, der Leprechaun des Grabens, wie es im Irischen heißt. Solange er sich nicht bewegt, ist er von einem Blatt nicht zu unterscheiden. Take care and God bless ye, kleiner Leprechaun!

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Wir sind zurück, haben aus Clifden 300 g gefrorene Crab Claws mitgebracht. Auf dem Weg dorthin passierten wir die Baustelle der Start- und Landebahn für eine angedachte Flugverbindung nach Inishbofin. Vier Jahre ist es her, dass sie eingerichtet wurde, und seit drei Jahren tut sich hier nichts mehr. Kein Schild weist darauf hin, um was es geht oder ging: ein solider Zaun mit einer noch nicht asphaltierten Einfahrt auf das Gelände, dahinter eine geschotterte Fläche, die nach Parkplätzen aussieht, und drumherum menschenleere Heide. Über allem singt eine Lerche – es wird sie nicht stören, dass hier vermutlich nie etwas von Menschenhand konstruiertes starten oder landen wird. Die O’Hallorans, die die Fähre zwischen Inishbofin und Cleggan betreiben, wohl auch nicht.

Zurück zu unseren Crab Claws. Aufgetaut und in Knoblauchbutter geschwenkt werden sie in Begleitung eines Kartoffelsalats zu einem Dinner der Extraklasse.

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Der Alte Wehrturm am Renvyle Head steht immer noch malerisch im Abendlicht, auch wenn vor herabfallenden Steinen gewarnt wird. Im Old Castle B&B am Fuße des Turms scheint man der Stärke der verbliebenen Mauern zu trauen. Dem Turm gegenüber steht die Sonne mehrere Handbreit über dem Meer und beginnt unter einen warmen Schleier zu schlüpfen. Auf den aus dem Wasser ragenden flachen Felsen genießt eine Möwenschar ihre warmen Strahlen.

Renvyle Graveyard, © 2012 Juergen KullmannWir wandern die Straße zum Friedhof hoch, statten Charlie einen Besuch ab. Auf einer Kuppe um die Ruine der Kirche der sieben Töchter ist er der malerischste Ort auf Renvyle Head. Im Westen und Norden schimmert hinter abfallenden, sanften grünen Hügeln das Meer, und im Süden erhebt sich der stille, karge Hang des Tully Mountain. Vor drei Stunden wurde hier eine Mrs. Nee begraben. Durch ein keltisches Kreuz hindurch leuchtet der Atlantische Ozean.

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Donnerstag, 7. Juni 2012

Eileen Óg an Nis Puk – Brief aus Irland

Moin Nis — Dreihundertfünfzig Kilometer Autofahrt für ein einziges Foto, so verrückt sind die Menschen manchmal, zumindest die beiden, mit denen ich hier durch Irland reise. Ich hätte ihnen ja gleich sagen können, dass es den ganzen Tag regnen wird, als sie sich darauf versteiften nach Clonmadingsbums* zu fahren, um die alte Klosteranlage am Shannon zu fotografieren, aber natürlich hat mich wieder mal keiner gefragt. Die Zeitung, in der groß und breit ein ‘Monster Rain’ angekündigt worden war, haben sie sich – typisch Mensch – erst am Abend auf dem Heimweg gekauft. Als verantwortungsbewusstes und solidarisches Reise- und Navigationsschaf bin ich dann doch mitgefahren. Wer weiß, ob sie in einem Monster Rain den Rückweg zum Cottage ohne mich überhaupt gefunden hätten.

Clonmacnoise, © 2012 Juergen KullmannSo rutschten sie dann in Clonmadingsbums über das nasse Gras und versuchten ein paar Fotos zu machen, ohne dass ihnen (a) das Wasser auf die Linse tropfte oder (b) ein anderes triefendes Menschenwesen vor dieselbige lief. Ich habe mir derweil eine audiovisuelle Show über das Kloster angeschaut, das ein Heiliger Ciarán vor 1.500 Jahren gegründet hat. Fotos von ihm gibt es nicht, aber nach den Bildern, die gezeigt wurden, hätte er drei Mal in den Ciarán reingepasst, der sonntags immer im Angler’s Rest von Tully Cross singt. Bevor er sein eigenes Kloster gründete, machte der Heilige in einem anderen eine Lehre als Mönch und brachte als Studiengebühr eine Kuh mit, die seinen Lehrmeister und die anderen Lehrlinge mit Milch und Butter versorgte. Als sie im hohen Alter in die Ewigen Weidegründe einging, wurde ihr irdisches Fell aufbewahrt und als Reliquie verehrt. Nach seinem Abschlussexamen als Mönch ging Ciarán dann auf Wanderschaft und verbrachte noch ein paar Gesellenjahre in anderen Klöstern und auf den Araninseln, bis er sich selbständig machte und in Clonmadingsbums seine eigene Firma gründete.

All das wurde in dem Film erzählt, doch bei meiner Unterhaltung mit den Schafen am Shannonufer habe ich noch mehr herausgekriegt. Das mit der Kuh ist ja schön und gut, doch in altirischen Schriften, von denen kein Mensch mehr etwas weiß, wurde berichtet, dass dieser Ciarán ein Schaf mit ins Kloster brachte, aus dessen Wolle Socken gestrickt wurden, damit die Mönche keine kalten Füße bekamen, wenn ihre Chefs ihnen von der Hölle erzählten. Das ist nämlich ein Lieblingsthema dieser seltsamen Heiligen. Später wurden die Strümpfe aufgeribbelt und die Wollfasern als Reliquien an die Pilger verkauft. Bei den Menschen ist das in Vergessenheit geraten, doch unter den Schafen von Clonmadingsbums wird diese Begebenheit von Generation zu Generation weitererzählt, und dann muss es ja wohl stimmen.

Soviel für heute. Eigentlich wollte ich dir noch von Seán Ó Puc berichten, den ich neulich traf, doch das passt jetzt nicht mehr aufs Papier. Vielleicht schreibe ich dir später noch einmal, oder ich erzähle euch alles, wenn ich demnächst wieder nach Tönning komme.

Tschüüs und viele Grüße an
Paddy-the-Sailer und
Jahn Hinrich von
Eileen Óg”

Der Chronist fährt fort

Die Vorhersage eines Monster Rain durch den irischen Wetterdienst haben wir dann auch gelesen, als wir am Abend aus Clonmacnoise nach Hause kamen und im Bard’s Den ein leckeres Chicken Kiev verspeisten. Das einzige Foto der Exkursion werden wir in Ehren halten, immerhin hat es mehr als eine halbe Tankfüllung sowie zwölf Euro Eintritt gekostet.

* Eileen Óg meint Clonmacnoise. Lesern, denen Eileen Óg und Nis Puk kein Begriff ist, sei die Lektüre von Briefe an Nis Puk ans Herz gelegt.

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Freitag, 8. Juni 2013

DMullaghgloss Graveyard, © 2012 Juergen Kullmannen Vorhersagen nach soll sich der ‘Monster Rain’ heute fortsetzten, doch so schlimm wird es nicht. Am Vormittag nieselt es nur ein wenig, als wir in Letterfrack die Zutaten für unser Irish Stew einkaufen, das genauso lecker wie in der letzten Woche ausfällt.

Dann verabschiedet sich der Regen endgültig und wir wandern zum Friedhof von Mullaghgloss hinunter. Eine frische Brise gibt den Midges keine Chance sich an uns zu laben, und so sitzen wir auf der Bank rechts vom Eingangstor und schauen über das zur Küste sacht abfallende hügelige Gräberfeld auf das im Westen schimmernde Meer. Die Toten haben eine weniger gute Aussicht, sie blicken nach Osten.

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Blauer Himmel am Abend. Wir schlendern in Clifden einmal ums Karree, dann trifft um Viertel nach sieben Michael Carey mit einem Kollegen zur angekündigten unplugged Session in E.J. King’s Bar ein. Dazu gesellt sich mit einem Glass Smithwicks in der Hand ein Alt-Coaster, der uns immer wieder mustert und am Ende meint, er hätte uns irgendwann und irgendwo schon einmal gesehen. Stimmt, vor 20 Jahren im Angler’s Rest.

Wir sind auf der Heimfahrt, es ist kurz vor Zehn und ein roter Streifen zeigt sich am Firmament. “Wie wäre es mit einem Abstecher zum Renvylestrand”, fragt mien Deern, “für ein Sonnenuntergangsfoto?”

Renvyle Strand, © 2012 Juergen Kullmann

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Weitere Reiseberichte


Reiseberichte Irland: Connemara 2012
© 2013 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 16.09.14