Grüne Binsen

von Maurice Walsh

Zwei Auszüge aus dem 1935 erschienenen Roman,
übersetzt von Jürgen Kullmann

Ellen Oge – Eine Geistergeschichte aus Kerry
(aus dem Kapitel Dann kam des Hauptmanns Tochter)

Dann sagte Mickeen Oge: “Paddy Bawn hat hier eine Geistergeschichte, die es sich zu erzählen lohnen würde.

“Das habe ich”, gestand Paddy Bawn. “Die beste Geistergeschichte der Welt – mein Vater erzählte sie mir –, und es ist eine wahre Geschichte.”

“Leg los, Paddy Bawn.”

“Nein, Mickeen Oge, erzähl’ du sie. Du hast sie oft genug gehört.”

“Es ist in der Tat eine einfache Geschichte – vielleicht eine etwas wehmütige”, erklärte Mickeen Oge, “und Zeit- und Ortsangaben lassen keinen Zweifel an ihrer Wahrheit zu. Als Junge kannte ich die Frau, die sie erlebt hatte. Sie war damals eine alte und glückliche Frau, denn die Erinnerung an jene sechzig Jahre zurückliegende Nacht war noch immer in ihr.”

Und während er sprach flackerte der Schein der kleinen aus dem Torf leckenden Flammen über unsere bewegungslosen Gesichter und ließ unsere Schatten an den Wänden und Deckenbalken tanzen.

* * *

Ihr Name war Ellen Oge Molouney”, sagte Mickeen Oge, “und sie trug das Leid wie einen Mantel auf ihren Schultern. Sie hielt ihm stand, solange sie konnte, und das war keine kurze Zeit, denn die Molouneys stammen aus einem starkem Geschlecht, und es braucht lange um sie zu brechen. Doch am bitteren Ende brach sie zusammen, und sie tat das einzige, was sie tun konnte: sie lief fort. Und wie es gebrochene Menschen schon seit Urzeiten tun, machte sie sich nach dorthin auf, wo ihre Mutter lebte.

Sie war erst fünfzehn Jahre alt: ein zartes, scheues, einfühlsames, kleines Mädchen mit blauen Augen, schwarzem Haar und einem Mund, der Freude und Kummer ausdrücken konnte. Ansonsten stand sie in Sklavendiensten bei ihrem Großonkel, dem Roten John Danaher von der Browadra Farm am Ufer des Castlemaine River. Sklavin oder Magd: ein und dasselbe, damals, in der Schlimmen Zeit, als die Armen, unsere Vorväter, den lieben langen Tag damit verbrachten, Leib und Seele zusammenzuhalten – was ein verdammt harter Job war, als Vieh und Getreide im Millionenwert nach England exportiert wurde und die Armen an verfaulten Kartoffeln zugrunde gingen.”

“Der Rote John Danaher war ein schrecklicher Mann und frommer Christ: ein großer, grobknochiger Mann mit sandgrauem Haar, faltigen Wangen und Augen, so kalt wie die Blasketsee im November! Er war sehr besorgt um seine Tiere: seine dreißig Milchkühe waren die besten Milchspender des Kirchspiels, das Fell seiner Pferde glänzte wie Seide, seine fetten Schweine wogen nie weniger als zweihundert Pfund, und zu Sankt Michaeli standen seine Gänse fest wie Stative auf den Beinen. Aber der Zustand seiner Knechte und Mägde interessierte ihn nicht die Bohne. Jeden Tag mussten sie sich fünfzehn Stunden lang bis auf die Knochen abschuften, und er hatte die höllische Sorge, sie durch zu gutes Essen zur Faulheit zu erziehen. ‘Verhätschel sie’, pflegte er zu sagen, ‘und sie werden über Spaten und Sichel einschlafen. Ein magerer Mann und ein magerer Hund leisten die beste Arbeit.’ Und weiß Gott! Sein großer Schäferhund war so dürr wie ein Strauch im Januar und liebte ihn – wie ein Hund. Zum Frühstück bekamen seine Leute, fünf Männer und zwei Mädchen, ein paar Scheiben Maisbrot und Magermilch, zu Mittag lederhäutige Kartoffeln mit Sauermilch und zum Abendessen einen dünnen Brei aus Hafer- und Maismehl. Bei dieser Diät arbeiteten sie hart und ohne Unterbrechung, denn eine grauenvolle, krankhafte Energie ging von ihm aus, die die Männer sich ducken ließ und den Frauen das Fürchten lehrte.

Nun stellt euch mal vor, wie die kleine Ellen Molouney, dieses empfindsame, zarte Mädchen, Tag für Tag unter dieser Energie litt. Seht! Wenn sie beim abendlichen Rosenkranz erschöpft auf ihrem Binsenstuhl einschlief, schnarrte die Stimme ihres Onkels aus seiner Gesalbtheit zu ihr herüber; wenn seine Augen auf ihr ruhten, bebte ihr Rückgrad; wenn er zu den Mahlzeiten in die Küche kam, blieb ihr der Bissen im Halse stecken, und die Kartoffel, die sie gerade ins Salz dippen wollte, fiel ihr aus den zittrigen Fingern. Ja! selbst starke Männer brachen hungrig vom Tisch auf, wenn der Rote John Danaher sie beim Essen beobachtete.

Ellen Oge konnte Arbeit ertragen, sie konnte Kälte ertragen und war Hunger gewohnt, doch wie sie gemacht war, konnte sie Angst und Einsamkeit nicht auf Dauer ertragen. Nach langem Ausharren lief sie fort.

Sie wählte eine Nacht in der ersten Woche des Hungermonats Juli; eine schöne, klare Sommernacht, in der der Vollmond von Süden nach Westen wanderte. Schlag Zwölf schlüpfte sie von der Seite der mit offenem Mund schnarchenden Maura Purtaill und warf sich ihre paar Kleidungsstücke über – ein kurzer roter Unterrock, ein lappiges, zerschlissenes, vom Hals bis zur Taille geknöpftes Kleid und ein geflecktes Taschentuch, das sie über ihr wunderschönes, schwarzes Haar band. Sie zog keine Schuhe an, kroch jedoch mit Zehen und Fersen durch ein Paar Lopeens, die sie über ihre schlanken Beine streifte. Ihr einziges Paar Schuhe – kleine, handgemachte Schuhe mit breiten Vorderkappen und einem Verschlussriemen am Einstieg – band sie mit den wenigen weiteren Kleidungsstücken zu einem Bündel zusammen und war bereit. Sie besaß nichts auf der Welt, als dieses kleine Bündel.

Sie war leise wie eine Maus – leiser als eine Maus. Als sie vom Dachboden in die dunkle Küche hinabstieg, wo die Glut der Torfkohle unter der zusammengeharkten Asche erstickt war, rieben ihre harten Fersen kaum die Leitersprossen. Sie drückte mit dem Daumen gegen den hölzernen Bolzen an der Hintertür, der Riegel machte einen denkbar leisen Klick, und sie stand draußen in der stillen, lauen Sommernacht. Das Mondlicht über dem großen Hof schien auf die weißgewaschenen Mauern des langen Kuhstalls, und dieses kalte Licht ließ sie ganz klein werden und zittern, denn um an das hintere Tor zu kommen, musste sie sich über die offene Hoffläche wagen. Aber sie biss sich auf die Unterlippe und ging das große Risiko ein – auf Zehenspitzen, sehr vorsichtig und nicht zu eilig; und die Fenster stachen ihr wie Augen in den Rücken.

Und dann kroch der knochige, gelbe Schäferhund aus einer Ecke unter einem Heuschober hervor und bellte. Er bellte nur einmal und trottete dann schwanzwedelnd über den Hof.

‘Geh’ schlafen’, flüsterte sie eindringlich, während ihr das Herz im Halse schlug. ‘Geh wieder schlafen, Jack!’

Zu spät. In jenen ausweglosen Zeiten, in denen die hungernden Menschen nur noch stehlen konnten, genügte ein einziges kurzes Bellen, um den Roten John aus dem Bett zu holen und nachsehen zu lassen. Der gutmütige Hund hatte Ellen Oge noch nicht erreicht, als oben ein Fenster hochgezerrt wurde.

‘Wer ist da?’ Eindeutig seine Stimme. Und dann: ‘Bist du’s, Ellen Oge?’

Sie blieb stehen, ihr junges Leben schwand dahin. Die Kraft dieser schrecklichen, ruhigen Stimme war stärker als alles andere.

‘Zurück in dein Bett! Zurück in dein Bett!’ Entgegen seiner Gepflogenheit titulierte er sie nicht rashpeen, oinseach oder sthreel, doch seine gedämpfte Stimme war wie Eisen. Er wusste, was Ellen tat. Er wusste es nur zu gut. Aber keiner sonst brauchte es zu wissen.

Das Fenster ging wieder herunter, und im gleichen Moment, in dem es einrastete, nahm Ellen ihre Beine in die Hand und rannte zum hinteren Tor. Und der Hund lief mit ihr.

Barfüßig und in Hemd und Hosen kam der Rote John Danaher aus der Hintertür, und der Hof lag leer im Mondlicht. Er sagte kein Wort, aber seine abgehärteten Füße trugen ihn blitzschnell über den Hof. Auf dem unbefestigten Weg vor dem Tor hielt er an und gab mit dem kleinen Finger im Mund drei kurze, scharfe Pfiffe von sich. Der Schäferhund kannte dieses Pfeifen aus leidvoller Erfahrung. In weniger als einer Minute war er zurück und duckte sich unterwürfig zu Füßen seines Meisters, was ihm mit einem seitlichen Tritt in die Rippen belohnt wurde.

‘Los jetzt!’ Der Rote John hob den Finger, und der Hund sah ihn aus intelligenten Augen an. ‘Hinterher, Jack! Und dranbleiben jetzt – dranbleiben, sag ich dir!’

Arme, kleine Ellen Oge Molouney! Es gab keinen Platz, an dem sie sich vor dem gutmütigen Hund und dem schrecklichen Mann hätte verstecken können – keinen Platz bis auf einen. Während sie über das nächste Feld vom Haus fortlief, hörte sie die Pfiffe ihres Großonkels und sah den Hund umkehren. Sie wusste, was das zu bedeuteten hatte, und rannte um so schneller. Sie rannte nach Norden, denn im Norden lag ihr Zuhause, im weit entfernten Ballydonohue jenseits von Listowel. Und das war alles, was sie über den Weg wusste – über den langen und anstrengenden Weg, der über den buckligen Kamm des Slieve Mish führt und sich entlang der kahlen Flanke des Glanruddera hinab zur Feale-Brücke bei Listowel windet. Wir kennen diesen Weg bei Nacht und haben dort unser Blut vergossen.

Nur einmal zuvor war sie diesen Weg gegangen, und mit Gottes Hilfe würde sie es jetzt im Mondschein noch einmal wagen. Sie wandte sich also nach Norden. Der Schrecken verlieh ihren Füßen Flügel, doch blind, wie der Schrecken ist, führte er sie geradewegs in eine Falle.

Jenseits der Browadra Farm macht der Castlemaine River eine lange, enge Schleife, in die sie direkt hineinlief. Sie rannte den Damm hoch und blieb stehen. Da lag tief und ruhig der Fluss, und das Mondlicht auf dem Wasser ließ ihn wie glänzenden, schwarzen Stahl erscheinen. Sogleich erkannte sie die Falle, in der sie gelandet war, und machte kehrt, um über die Böschung zu laufen. Doch da bellte nicht einmal zwei Feldlängen entfernt der Hund, und den Flussbogen zurückzulaufen bedeutete, in die Hände ihres Großonkels zu rennen. Sie sah wirr um sich.

‘Heilige Maria – Heilige Maria – Heilige Maria!’

Nahe am Wasser wuchs auf der abfallenden Böschung ein verkümmerter Erlenstrauch. Er war die einzige Zuflucht, die sich bot, und sie rutschte hinab und kauerte sich dicht an den gewundenen Stamm. Kopf und Schulter wurden von den Zweigen verdeckt, doch jeder, der die Böschung entlangkam, musste unvermeidlich ihre schlanken Beine sehen. Ihre Augen befanden sich dicht über dem Fluss und konnten unter die Wasseroberfläche sehen. Und das taten sie.

Das Wasser war tief, und es gab keine Hoffnung, es an dieser Stelle zu überqueren. Aber das Wasser war auch klar, und das schräg darauf fallende Mondlicht zeigte jeden Kiesel in seinem steinigen Bett. Es war klar und kalt und unbewegt und anziehend – anziehend wie die Sünde. Denn der Teufel will seinen Anteil, solange die Seele auf Erden wandert, und seinen Versuchungen ist man immer und überall ausgesetzt. Hinter ihr kam das Hundegebell näher, und jetzt konnte sie bereits die Stimme des Mannes hören, der ihn antrieb. Und unter ihr lag die friedliche Stille des Wassers – der endlose Frieden. Oh! Wie friedlich war es da unten. Keine Stimme würde sie je aufschrecken, kein Zorn sie je berühren, keine Furcht sie überwältigen. Die Kiesel sahen braun wie warmer Bernstein aus und blinkten dem Mond entgegen; behaglich müsste es sein, zwischen ihnen zu liegen und den Sternen hoch am Himmel entgegenzublicken und keine Furcht, keine Sorgen und keine Einsamkeit mehr zu spüren – für immer – und immer – und immer.

Sie rutschte schon fast hinunter, als das Hundegebell und die Stimme des Mannes abbrachen, als wären sie verschluckt worden. Und stattdessen klang der heitere und sorgenfreie Ton einer Flöte zu ihr durch die Nacht: ein sanfter, weicher Flötenton, in dem zugleich eine seltsame Traurigkeit lag. Die Melodie war Lon DubhDie Amsel. Ihr kennt sie. Eine Tanzmelodie, einer jener anstrengenden, langen Tänze und zudem das einzige irische Klagelied für die Stuartkönige. Die Melodie erfordert geschicktes Tanzen und geschicktes Flöten, und dieser Flötenspieler kannte jede Schleife und jede Verzierung. Sie war fröhlich wie ein braver Mann, der die Hoffnung nicht braucht und keine Furcht hat, stark wie eine Sache, die oft verloren war und am Ende siegte, und melancholisch wie ein Mensch, der die Schönheit gesehen hat. Und hier und heute hielt sie Ellen Oge davon ab, ins Wasser zu gehen.

Sie zog sich zurück, richtete sich auf und sah die Böschung hoch. Der Flötenspieler wanderte in aller Ruhe oben über die Deichkrone: ein großer Mann in einem flauschigen Wollmantel, mit einem alten, weißen Hut auf Kopf, einem Hurlingschläger unter dem Arm und beiden Händen in den Taschen. Er kam leicht hinkend daher – kein Hinken, das eine Behinderung gewesen wäre, sondern eines, dass seine Schultern angenehm rollen und den Kopf schwingen ließ. Er blieb oben stehen, nicht überrascht, sondern mit einer gewissen Unbekümmertheit, und hob die Hand zu einer liebenswürdigen, Freude ausstrahlenden Geste.

‘Guten Abend, a colleen!’ tönte tief und sanft seine Stimme. ‘Eine schöne Nacht zum Bummeln, bei Gott.’

‘Guten Abend, Sir’, flüsterte Ellen Oge.

‘Bist du zum Angeln hier – oder ist dir vielleicht nach einem Bad zumute?’

‘Nein Sir, ich war auf dem Heimweg.’

‘Heim!’ In seiner Stimme schwang Musik. ‘Heim! Wo sollte man sonst auf der Welt hingehen? Auch ich würde heimgehen – doch keine Frage, die Nacht ist noch jung und wir haben keine Eile.’

Mit diesen Worten ließ er sich mit den Füßen zu ihr nieder und holte eine Tonpfeife aus seiner Westentasche. Um die Tabakreste zu lockern, schlug er den Pfeifenkopf in die Hand, und sie hörte den Schlag und das Schaben auf der Handfläche.

‘Komm von da unten hoch und setz dich’, lud er sie ein, ‘und erzähl’ mir, wie dein Weg geht.’

Und sie kletterte die Böschung hoch und setzte sich scheu zu ihm. Er blies seine Pfeife durch und machte, um sie nicht zu verschrecken, keine Anstalten, sie zu berühren. Indes schien ihr schrecklicher Onkel in einer anderen Welt zu sein.

Langsam schnitt er seinen Tabak, langsam zerrieb er ihn zwischen den Handflächen und stopfte dann wie ein müßiger Mann die strapazierte Pfeife und schüttete die Tabakreste darüber. Und er redete so sanft und ungezwungen mit ihr, dass sie Vertrauen gewann.

‘Und wo ist dieser Ort, den du Zuhause nennst, colleen oge?’

‘Ballydonohue, Sir – auf der anderen Seite von Listowel.

‘Das kann man wohl sagen! Allerdings! Ein netter, kleiner Marsch. Und du kennst den Weg?’

‘Nicht sehr gut, Sir. Da geht er her.’ Sie zeigte auf den langen Ausläufer des Slieve Mish, wo im kalten Mondlicht die weißen Häuser am dunklen Hang leuchteten.

‘Nun gut – nun gut. Und das ist auch mein Weg. Wenn du auf mich wartest, kann ich dich ein Stück begleiten. Ballydonohue? Ich kenn’ den Ort: von Pubil Dotha nach Trienafludig, dann weiter von Galey Cross nach Cnucanor.’

‘Tatsächlich, Sir?’ Und dann stellte sie sich vor. ‘Ich heiße Ellen Oge Molouney.’

‘Vielleicht eine Tochter von Norrey Walsh?’

‘Oh ja, Sir. Kennen Sie sie?’

‘Es ist lange her – lange her.’ Er sah in das zu ihm aufblickende Gesicht und lächelte aus seinen tiefen Augen. ‘Du hast ihre Stirn, und dein Kinn macht exakt den gleichen Bogen. Ja! und ich kannte deinen Onkel Shawn Alsoon, den Kirchenmann – aber das ist lange her, kleines Mädchen, lange, lange her. Warte noch, bis ich die Pfeife angezündet habe, und wir zieh’n los, wir zwei.’

Beim roten Glühen des Zunders sah sie deutlich sein Gesicht: ein freundliches, humorvolles und beeindruckendes Gesicht, mit tiefliegenden Augen und einer von der Schläfe bis zum Kinn verlaufenden Narbe.

Er erhob sich. ‘Komm, a weenoch – meine Kleine.’

Sie stand neben ihm auf. ‘Ich habe Angst, Sir’, begann sie zitternd, ‘mein Onkel – ’

Er gab ihr die Hand, und sie nahm sie – eine feste, trockene, warme Hand.

‘Hab’ keine Angst, mo leanav, mo leanaveen oge.’ Seine tiefe Stimme war sanft und besorgt darüber, dass sie, so jung wie sie war, Angst kennen sollte. ‘Nichts in dieser oder der nächsten Welt wird dir heute nacht ein Leid antun. Komm jetzt.’

Und so gingen sie Hand in Hand oben über die Böschung, der große Mann mit dem charmanten Hinken, und leichtfüßig an seiner Seite das kleine Mädchen.

Im Scheitel des Flussbogens stand am Fuße der Böschung der Rote John Danaher, und sein Hund kauerte zwischen seinen Füßen. Ellen Oge presste sich eng an ihren Beschützer und drückte ihre Hand noch fester in die seine. Aber John Danaher bewegte sich nicht. Bewegungslos wie eine Statue stand er da, die weit offenen Augen blind wie Granit. Und nachdem die beiden Gestalten, der Mann und das Mädchen, über die Böschung in die Nacht entschwunden waren, stand der rote Mann immer noch wie angewachsen am gleichen Fleck. Und dort fanden ihn am nächsten Morgen seine Leute. Viele Tage lang sprach er kein Wort; und als die Sprache schließlich zu ihm zurückkehrte, erfuhr man kein Wort über das, was er gesehen oder gefühlt hatte. Ob er sich aber gebessert hat oder noch schlimmer geworden ist, das weiß nur Gott.

Ihr Leben lang – und es war ein langes Leben – bewahrte Ellen Oge die Erinnerung an diese Wanderung durch die Julinacht in ihrer Erinnerung. Es war wie ein Spaziergang mit einem Königssohn im Garten eines Königs, in dem die Vögel von Liebe sangen; er dauerte so lange und währte so kurz, wie eine schöne, gut erzählte Geschichte, war lauschig wie ein Maimorgen, an dem die Amsel fröhlich ihr Lied singt, friedlich wie jene Stunde im Juni, bevor die Sonne mit sanft verstohlenem Blick in die Einsamkeit der Dämmerung versinkt, hatte so wenig Eile wie eine Blume, die sich im Morgentau öffnet, und war zeitlos wie ein Traum.

Nie konnte sie die Wege beschreiben, die sie kreuzten, nie die Orte, die sie sahen. Und in der Tat schritten sie über Straßen, die nie gebaut worden waren. Ihre Füße glitten über den Morgentau, dessen Sommerfäden wie Perlenketten auf dem Gras lagen, vorbei an Hecken, aus denen sie Vögel mit schläfrigem Piepsen begrüßten; sie wandelten unter großen, aufrecht stehenden Bäumen, die sich zur Begrüßung für sie aufreihten und durch deren Zweige das Licht des Mondes heller als das hellste Silber schien, wanderten kleine Bäche entlang, die schimmernd unter dunklen Büschen hervorquollen und ihnen über saubere Kiesel entgegenplätscherten. Mehr wusste sie nicht über ihre Reise durch die Nacht. In der Ferne bellten die Hunde oder heulten verloren den Mond an, und die weißen Häuser leuchteten am Berghang. Doch sie allein bewegten sich in einer anderen Welt, in ihrer eigenen Dimension, und in dieser Zeit und in diesem Raum wurden sie eins mit dem, was sie erfüllte. Und kein Hahn krähte.

Sie hatten es nicht eilig. Oft ruhten sie an einem Bach oder einer Hecke; und der große Mann sprach zum kleinen Mädchen, weich und sanft und mit einer Zärtlichkeit jenseits aller Tränen. Er erzählte ihr Geschichten, die sie kannte, und Geschichten, die sie nicht kannte; und er brachte sie dazu, ihm ihr schlichtes, junges Herz zu öffnen, dem er mit einem Stolz zugetan war, der größer als der Stolz auf alle Siege, alle Ruhmestaten und alle Niederlagen war. Doch ach! Trotz allem schritt die Nacht voran, und das Glück weilt nicht auf Dauer unter diesem Himmel. Der Mond ging unter, ein helles, weißes Leuchten zeigte sich im Nordosten, und schließlich erreichten sie oberhalb der Brücke über den Feale die offene Straße. Und dort legte der große Mann seine Hand leicht auf Ellen Oges Schulter und blieb stehen.

‘Das ist nun der Feale, kleines Mädchen, und die Stadt drüben am Hang Listowel. Du weißt, wo du nun bist?’

‘Oh ja Sir, da vorne liegt Cnucanor Hill.’

‘Hier trennen wir uns also.’ Seine Stimme war tief und gedämpft. ‘Der Morgen graut, und wir können die Hähne nicht vom Krähen abhalten, denn es ist ihre Aufgabe, bei Tagesanbruch zu krähen. Du wirst dich jetzt beeilen müssen, Ellen Oge.’ Er ließ seine Hand langsam ihren Nacken hinuntergleiten und gab ihr einen kleinen Stups zwischen die Schultern. ‘Lauf, a leanaveen! deine Mutter wird auf dich warten.’

Leichtfüßig lief sie zur Brücke hinunter. Weit draußen auf der Inselfarm krähte ein Hahn, und er rief so klagend und traurig wie die Hörner im Feenland. Auf dem mittleren Brückenbogen wandte sie sich um, um Lebwohl zu winken. Die Straße war menschenleer. Die ganze Gegend war menschenleer – ausgestorben. Das trostlose Licht des Morgengrauens zeigte die Leere allen Lebens, zeigte alle Hoffnung, alle Furcht – sogar alle Verzweiflung. Doch Ellen Oge Molouney bekam davon nichts mit.

Doch nun passt mal auf! Der Strecke, die sie zurückgelegt hatte, betrug mehr als vierzig Meilen – im Krähenflug –, und sie hatte sie in weniger als vier Stunden bewältigt. Was immer sonst wahr ist, dies ist wahr.

An jenem Morgen stand ihre Mutter Norah Walsh im Morgengrauen auf, eine volle Stunde vor ihrer üblichen Zeit. Sie fachte das Feuer wieder an, hing den Wasserkessel darüber und stellte zwei Tassen, ein frisches Sodabrot und ein Klacks neue Butter auf den Tisch. Schließlich suchte sie noch zwei der schönsten braunen Eier heraus und legte sie zum Kochen bereit in den Topf. Dann ging hinaus in den Morgen; die Sonne erhob sich gerade über dem Drum of Glouria, und da kam ihre Tochter Ellen schon um die letzte Wegkurve gelaufen.

Sie war immer eine stille Frau gewesen, kein überschwänglicher Typ. Sie legte nur einen Arm um die Schulter ihrer Kleinen. ‘Ich wusste, dass du in der Früh hier sein würdest, Ellen Oge. Letzte Nacht träumte ich von dir, und du warst auf der Straße. Du wirst vor Müdigkeit umfallen.’

Ellen Oge schmiegte sich an die Seite ihrer Mutter. ‘Ganz und gar nicht, es war nur ein Katzensprung Mutter – gerade mal.’

‘Vierzig irische Meilen, Mädchen. Jemand hat dich mitgenommen, oder?’

‘Nein. Aber Mutter, wie könnte es so weit sein? Ehrlich, ich bin erst nach Mitternacht aufgebrochen – und die Sonne ist gerade mal aufgegangen.’ Schnell fuhr sie fort. ‘Und oh, Mutter! warte, bis ich dir von dem tollen Mann erzählt habe, der mir bis zur Brücke über den Feale den Weg gezeigt hat. Ich hatte – ich hatte Angst vor meinem Onkel John, und der Mann kam die Böschung am Maine River entlang und spielte auf seiner Flöte The Blackbird!’

‘Gott schütze uns alle!’ sagte ihre Mutter, und fuhr dann ruhig fort: ‘Was für ein Mann war er, colleen?’

‘Vielleicht kennst du ihn, Mutter. Er kannte dich und Onkel Shawn – aus alten Zeiten, sagte er, aus alten Zeiten. Und, ach jeh! Ich hab’ vergessen, nach seinem Namen zu fragen. Er war ein Mann, so groß bis zu dem Balken dort, und er hinkte auf einem Bein – aber er konnte bis zum Mond springen. Und er hatte einen Hurleyschläger mit weißem Knauf, und, oh! er hatte eine große Narbe auf einer Gesichtshälfte – hier. Kann es sein, dass du ihn kennst, Mutter?’

‘Gott gebe seiner Seele Ruhe, Töchterchen! Er war dein eigener Vater.’

‘Mein Vater – mein Vater, der tot ist?’

‘Seit fünfzehn Jahren, Ellen Oge. Aber ob tot oder lebendig, die Molouneys sorgen für ihre Leute. Gott sei’s gedankt.’”

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© Übersetzung Jürgen Kullmann. Das komplette Buch, ergänzt durch zahlreiche Anmerkungen und einem Kurzportrait des Autors, liegt als unveröffentlichte private Übersetzung vor.