Grüne Binsen

von Maurice Walsh

Zwei Auszüge aus dem 1935 erschienenen Roman,
übersetzt von Jürgen Kullmann

Prolog

Wie Bernstein leuchtete das Haar meiner Liebsten,
Ihr Antlitz mit keinem vergleichbar war;
Ihre Lippen, so rot wie Rosen,
Nie wieder werden sie die meinen berühren.

I

Nuala Kierley – damals noch Nuala O’Carroll – wuchs im östlichen Grenzland von Tipperary auf, dem Land der Pferdezucht. Sie lernte reiten, kaum dass sie laufen konnte, auf dem bloßen Rücken von Eseln, Maultieren und Ponys, und ritt als Teenager jedes Pferd, das zum Auflegen eines Sattels gehalten werden konnte. Mit siebzehn Jahren war sie die beste Reiterin Munsters – der Welt, wenn man so will. Und dann traf sie auf Martin Kierley.

Nuala war eine entfernte Cousine von Seán Glynn aus Leaccabuie. Er gab manchmal zu, selbst ein wenig in sie verliebt gewesen zu sein – wer war es schon nicht? Das währte so lange, bis ihr Kierley über den Weg lief und Seán ein Auge auf Joan Hyland warf.

Auch Martin Kierley war ein Pferdeliebhaber. Ein Züchter, Fuchsjäger und Gentleman-Reiter; spendabel wie der verdammte Luzifer; hochgewachsen, dunkel und waghalsig; daneben gutmütig, ein freundlicher Mann, liebenswert und ein Verschwender – das war der Martin Kierley, dem Nuala O’Carroll begegnete. Dazu war er zehn Jahre älter. Es kam, wie es kommen musste. Sie war neunzehn, als sie ihn heiratete.

Sie waren das bestvermählte Paar, das man je gesehen hatte, ein faszinierender Gegensatz, der sich gleichzeitig ergänzte: er dunkel und lustig, sie blond und mit einer Neigung zur Ernsthaftigkeit. Es war ihre ernste, überlegte, fast etwas finstere Art, die die Männerherzen erweichen ließ. Die beiden waren auch glücklich – eine Zeitlang – und liebten einander – eine längere Zeitlang –, doch das Geld rann ihnen wie Wasser durch die Finger. Das Leben, das sie führten, das einzige Leben, das Martin Kierley führen konnte, schrie nach Geld, Geld und Geld, und davon hatten sie anfangs nicht viel. Der Teich war bald trocken. Bis es Seán Glynn eines Tages auffiel, dass Martin Kierley immer noch mit Geld um sich warf. Manchmal wunderte er sich ein wenig.

Im Land tobte der schreckliche Black-and-Tan-Krieg, und auf beiden Seiten wanderte eine Menge Geld hin und her. So hielt sich sein Wundern in Grenzen, denn das junge Paar war in die Aktivitäten von Sinn Féin und IRA verwickelt, tief in sie verwickelt, und in die Organisation, für die sie arbeiteten, floss immer wieder neues.

Bei allem darf man eines nicht vergessen: Nuala liebte Kierley und hätte, ehe all dies geschah, auch einen anderen Mann lieben können, aber kein Mann, der je einen Atemzug tat, hätte Irland vom Ehrenplatz in ihrem Herzen verdrängen können. So war sie nun einmal. Etwas vom sonderbaren, fatalistischen Wesen Éires war in ihr und Teil ihrer selbst. Als siebzehnjähriges Mädchen hatte sie am Aufstand von 1916 teilgenommen, die ganze Zeit unter Beschuss in Dublin, und während des Black-and-Tan-Krieges – mein Gott! wozu sie alles bereit war. Doch genug davon.

Eines Tages wurde Seán Glynn nach Dublin gerufen. Er war einer der führenden Nachrichtenoffiziere der IRA, ein kühler und wagemutiger Kopf, aber nach der ersten Andeutung, wozu man ihn brauchte, wusste er, was Angst ist. In Dublin traf er – sein Name soll nicht genannt werden – einen Mann aus Eisen, einen kleinen, starken, friedlich aussehenden Mann mit sanften, blauen Augen, die kalt wie Eis werden konnten. Er wandte sich an Seán Glynn.

“Es gibt da ein Leck, Seán”, sagte er, “und ein sehr böses dazu. Unsere Männer sterben wie die Fliegen und unsere Pläne fliegen auf. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen – egal, was es kostet. Ich kenne den Kanal, durch den die Nachrichten fließen, weiß aber nicht, wo er beginnt. Und du – und jemand, den du gut kennst – ihr zwei werdet es für mich herausfinden.”

Hier machte er eine Pause.

“Wie?” fragte Seán. “Ich mache die Sache besser allein – wenn ich denn helfen kann.”

“Pass auf! Ein gewisser britischer Agent wird in einer bestimmten Nacht eine Stunde lang ein Dokument bei sich tragen und in dieser einen Stunde von Wachen umgeben sein. Nach Ablauf der Stunde wird das Dokument in die Hände eines britischen Sekretärs in Dublin Castle übergehen. Wir können uns den Agenten, wann immer wir wollen, schnappen – ohne das Dokument –, aber die Briten haben genug waghalsige Leute ihn zu ersetzen. Wir müssen das Dokument in der einen Stunde bekommen, ehe er es im Schloss abliefert.”

“Wie?” fragte Seán noch einmal.

“Ich werde es dir sagen. Wir haben ihn beobachtet. Hanley heißt er – Captain Sir Henry Hanley, und er ist ein halber Ire. Ein ehemaliger britischer Offizier, Mittelgewichts-Champion seines Bataillons, ohne Furcht und kein Narr. Ein starker Mann, und wie alle starken Männer hat er eine Schwäche. Man kann ihn mit einer Frau packen, aber sie muss eine richtige Frau sein. Sie muss unsere allerbeste sein. Kannst du mit deiner Cousine sprechen, Nuala Kierley?”

“Hast du schon mit ihrem Mann gesprochen?” gab Seán zurück.

“Nein”, antwortete der Mann ohne mit der Wimper zu zucken. “Das ist keine Sache, die man mit einem Ehemann bespricht.”

“Um so weniger mit einem Cousin”, sagte Seán. “Ich werde es nicht tun, und damit basta!” Seán hatte keine Angst vor dem Mann, und doch fürchtete er sich.

Der Mann wusste, wovor Seán Angst hatte, aber in allem, was Irland betraf, ließ er sich nicht erweichen.

“Ich dachte mir schon, dass du ablehnen würdest”, sagte er. “Wir werden den Fall Nuala selbst vortragen – sie ist im Zimmer nebenan.”

Und das tat er, sehr geschäftsmäßig und sehr deutlich: da waren das verborgene Leck, die Toten, die Misserfolge, das Risiko – und der Köder.

“Tu’s nicht, Nuala”, warnte sie Seán. “Tu’s nicht, Mädchen!”

Genau so gut hätte er den Wind warnen können. Sie musste es tun. Es war für Irland.

“Niemand darf davon wissen”, fuhr der Mann fort, “niemand außer dir und Seán – und ich selbst”. Er schlug auf den Tisch. “Niemand auf der Welt”.

Sie sah ihm tief in die Augen, ein langer nachdenklicher Blick, und ihre geschmeidigen Schultern erstarrten langsam. Plötzlich wusste sie, warum Seán sie gewarnt hatte.

“Nun gut”, meinte sie schließlich sehr leise.

Und da lächelte jener erbarmungslose Mann Seán an.

“Du bist sehr besorgt um deine Cousine, Seán. Gut so! Pass auf sie auf. Niemand sonst ist eingeweiht. Den Plan überlasse ich euch – aber bringt mir das Dokument.”

II

Der Plan war nicht das Problem. Hanley, der britische Agent, hielt sich im Rowton auf – im alten Rowton, bevor es abbrannte. Seán Glynn nahm dort ebenfalls ein Zimmer, auf der gleichen Etage, aber eine Ecke weiter den Gang hinunter. Nuala Kierley wohnte nicht im Hotel, kam aber jeden Abend ins Foyer oder Restaurant; es war bekannt als Treffpunkt der guten Gesellschaft sowie einer gewissen anderen Gesellschaft. Sie war für ihre Rolle gekleidet, aber nicht geschminkt. Ein Make-up hatte sie nicht nötig. Meist saß sie etwas abseits in einer Ecke an einem kleinen, für sie reservierten Tisch, das Haar schimmernd wie das hellste Gold – heller als Gold –, und ein bisschen Angst und ein bisschen Verwegenheit lag auf ihrem etwas schüchternem Gesicht. Seán Glynn saß halb durch einen Pfeiler verborgenen an einem anderen Tisch und bewunderte sie.

Sie brauchte eine Woche um an ihren Mann zu kommen und brachte ihn fachgerecht und unerbittlich zur Strecke. Ein gut gebauter, glattrasierter, männlicher, jugendlicher Typ; welche Chance hatte er da? Er sah sie – er musste sie zwangsläufig sehen; und sie sah ihn an, und das bisschen Angst und das bisschen Wagemut kämpften miteinander in ihren Augen – in diesen nachdenklichen, etwas verwirrenden, düsteren und völlig ernsten Augen, mit denen sie die Männer ansah. Sie pflückte ihn wie eine reife Brombeere.

Nach drei Tagen aßen sie gemeinsam. Sie war unerfahren, sie war neu in diesem Geschäft, es war ihr erstes Unternehmen dieser Art, und sie spielte weder die Furchtsame noch die Wagemutige. Und er war hinter ihr her – gerade so, als ob der Besitz dieser Frau dem tödlichen Risiko, das er eingegangen war, die entscheidende Würze hinzufügen würde. Nach einer Woche hing er völlig in ihrem Netz, und am Ende der Woche gelangte das Dokument in seine Hände.

Auch in jener Nacht aßen sie gemeinsam, und ebenso drei Männer an einem Tisch ganz in ihrer Nähe – bewaffnete Wachen. Seán Glynn wusste, dass weitere Wachposten im Foyer und vor der Tür lungerten. Aber Nuala erledigte ihre Arbeit drinnen. Zu guter Letzt war ihr Mann ohne es zu merken halb betrunken – mehr als nur halb.

Nach einer Weile ging sie auf ihr Zimmer. Sie hatte sich eines für die Nacht genommen, das heißt, man glaubte, sie hätte sich eines genommen, denn es war Seán Glynns. Eine Viertelstunde später folgte Hanley.

Seán Glynn stand am Ende des dunklen Ganges und bewegte sich, nachdem der Mann Nualas Zimmer betreten hatte, langsam zur Tür, eine Hand am Griff seiner Automatik. Er wartete. Er hätte hineingehen und den Mann hochnehmen können, doch das durfte nur im Notfall geschehen. Hanley war ein waghalsiger Teufel, und ein Kampf oder Schuss hätte alles verderben können. So wartete er nur. Aus dem Zimmer hörte man ein Stimmengemurmel, das Anstoßen von Gläsern, dann wieder ein Gemurmel – und danach nur noch Stille.

Als sich schließlich die Tür vorsichtig öffnete und im Spalt Nualas bloßer Arm erschien, nahm ihr Seán Glynn den langen Umschlag aus der Hand und verließ das Hotel.

Der Verräter war Martin Kierley.

“Wusstest du es?” fragte der Mann aus Eisen Seán in jener Nacht.

“Ich befürchtete es.”

“Nuala Kierley ebenso. Du weißt, was mit Verrätern geschieht? Nimm die Frau morgen mit nach Leaccabuie.”

“Vielleicht will sie nicht.”

“Es wird ein Befehl sein. In Dublin wäre sie eine gezeichnete Frau. Erzähl es ihr unterwegs.”

Seán nahm sie mit nach Leaccabuie und berichtete ihr unterwegs alles. Sie war nicht überrascht aber betäubt. Und von Leaccabuie aus brachte er sie nach Lough Aonach, wo sich die Flying Column der IRA nach dem Hinterhalt bei Coolbeigh erholte und Captain Archibald MacDonald gefangen hielt. Der sah er sie eine halbe Minute lang beim Licht des Torffeuers – und vergaß sie nie.

Dann passierte etwas Merkwürdiges. Sie musste ihren Mann irgendwie gewarnt haben, denn er floh genau an dem Tag aus Dublin, an dem man sich mit ihm beschäftigen wollte, und machte sich direkt nach Lough Aonach auf, wo sich Nuala aufhielt. Als Kierley hereinplatzte, saß der große Guerillaführer Hugh Forbes mit Nuala und Seán Glynn in der Lounge des Angler’s Hotel.

Kierley war bereits ein gebrochener Mann, gebrochen wie Luzifer nach seiner Verdammung. Der draufgängerische Teufel hatte ihn verlassen, aber immer noch liebte er Nuala. Gewiss liebte er sie. Er kroch vor ihr. Sie sollte wissen, dass sie es war, für die er sich von den Briten hatte bestechen lassen – mit einer großen Summe. Sie sorgte sich zwar um ihn, verachtete ihn aber von Stund an und wollte sich nicht mehr von ihm berühren lassen, niemals einem Verräter verzeihen. Am Ende begriff er das. Er wandte sich an Hugh Forbes, und etwas Mannhaftigkeit wurde in ihm wach.

“Also gut Hugh”, sagte er fest. “Schafft mich von hier fort.”

Und Hugh Forbes brachte ihn fort, hinauf in die Berge zur alten Ruine von Castle Aonach. Aber Hugh Forbes hatte seinen eigenen Kopf, dem er folgte. “Sieh’ mal, Seán Glynn”, sagte er, “ich will nicht, dass sein Blut über dich oder sie kommt. Du sagst, der Waffenstillstand stehe unmittelbar bevor; bis dahin werde ich ihn dort festhalten und dann außer Landes schaffen.”

Seán warnte ihn wegen des Eisernen Mannes in Dublin.

“Dein Mann aus Eisen kann zur Hölle fahren”, erwiderte Hugh und ließ an seiner Meinung keinen Zweifel. “Dort ist der richtige Platz für ihn”, knurrte ein Hugh, der weder Tod noch Teufel fürchtete.

So hielt er Kierley unter Bewachung, und der Waffenstillstand kam; und genau in der Nacht, in der er in Kraft trat, entkam Kierley und wurde am nächsten Morgen ertrunken aufgefunden, im Poul Cailín Rua, dem Teich des Roten Mädchens, dem Teich der Verräter. Und man sagt, dass in jener Woche die Erscheinung des Roten Mädchens beobachtet wurde. Der Mann wusste, dass das Leben Staub war und er Nuala für immer verloren hatte. Er war den einzig möglichen Weg gegangen.

Dann verschwand Nuala Kierley, und keiner ihrer Freunde sah sie in den folgenden sieben Jahren.

Und so geht es weiter: In den diesem Prolog folgenden fünf Episoden Dann kam des Hauptmanns Tochter, Über die Grenze, Der Stille Mann, Das Rote Mädchen und Scheiß Dublin! stehen jeweils eine oder zwei Personen aus dem Prolog im Mittelpunkt, bis sieben Jahre später in der letzten Episode Nuala Kierley wieder auftaucht und sich der Kreis schließt.

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© Übersetzung Jürgen Kullmann. Das komplette Buch, ergänzt durch zahlreiche Anmerkungen und einem Kurzportrait des Autors, liegt als unveröffentlichte private Übersetzung vor.