Irisches Tagebuch 2001

... and so we did

 

Prolog

She really knew! Anne hat Recht behalten, und so sind wir nach nur drei Monaten wieder im Lande. Bei unserer Abreise Ende Juni hatte sie uns das Angebot gemacht, im Herbst zwei Wochen lang kostenlos im Cottage zu wohnen. Wir zögerten etwas, überschlugen den Resturlaub, doch sie meinte: “You will come back, I know!” And so we did!

Das letzte Vierteljahr hatte nicht viel Erfreuliches gebracht, ein Sterbefall und einiges mehr. Zwei Wochen an der irischen Westküste werden uns gut tun! Mein Mädchen will zurück zu ihrer Seele, die sie Ende Juni im Cottage zurücklassen musste. Eine Sache, die nur vor einem irischen Torffeuer passieren kann:

Am Abend vor unserer Abreise hockte die kleine Seele mit ihrem kleinen Rucksack – mein Mädchen ist sich da ganz sicher – auf dem Kaminvorsprung und teilte ihr mit, dass sie nicht mit nach Deutschland käme. Nein, es täte ihr nicht gut, sie würde im Cottage auf sie warten. Was sie denn in ihrem Rucksack hätte? fragte mein Mädchen ihre Seele. Oh, eine Decke zum Warmhalten, und viele Erinnerungen. Die bräuchten nicht viel Platz, und darum passten ganz viele hinein. Jung war sie, ihre Seele, berichtete mein Mädchen, noch ein halbes Kind. Aber hartnäckig: Nein, sie käme nicht mit!

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Mittwoch, 3. Oktober 2001

Der Flieger nach Dublin – Shannon wird zu dieser Jahreszeit von Düsseldorf aus nicht angeflogen – hebt pünktlich ab und kommt bei starkem Rückenwind so früh an, dass kein ‘Parkplatz’ frei ist und wir eine Viertelstunde lang auf dem Rollfeld stehen. Dann rollt die Maschine an das Terminal wir und dürfen sie verlassen. ‘Slán is beannacht’, sagt der Kapitän.

Die übliche Prozedur: Gepäckstücke einsammeln und auf zum Geldautomaten, denn noch gibt es den Euro nicht. Anstandslos bekomme ich meine 200 Punt. Nun mein Mädchen. Der Automat zeigt sich etwas störrisch und ich schiebe ihre Karte nach. Das Gerät verschluckt sie, rülpst und gibt die Meldung Out of Order aus. Das war’s

Für den Fall, dass die Kiste die Karte wieder ausspucken sollte, bewacht sie mein Mädchen, derweil ich ein Stockwerk höher in der Filiale der Bank of Ireland etwas holprig das Problem erkläre. Ich werde gebeten, den Namen der Karteninhaberin und die Ausgabestelle auf einen Zettel zu schreiben. Dann greift die Dame hinter dem Schalter zum Telefon. “Sorry”, meint sie einen Moment später, es sei gerade Lunchtime, doch wir sollten beide mal hochkommen. Der Karte würde nichts passieren, in 10 Minuten würde sich jemand darum kümmern. Zehn irische Minuten währen länger als zehn deutsche, und doch taucht bereits nach einer Dreiviertelstunde ein junges Mädchen mit einer Scheckkarte auf und reicht sie uns über den Tresen. Wer fragt in einer solchen Situation schon nach einem Personalausweis?!

Fünfzehn Minuten später weihe ich am Schalter von National Car Rental meine vor zwei Wochen erworbene Kreditkarte ein. Ohne dergleichen tut sich nichts mehr bei den Autoverleihern. Fragte man früher noch Do you have a credit card? so heißt es heute schlicht: Your credit card please! Das Auto entpuppt sich als ein silbermetallicfarbener Opel Corsa, Baujahr 2001, besitzt einen CD-Spieler und knarrt und klappert ein wenig.

Beim Verlassen der ‘Dublin Area’ geraten wir in eine Verkehrsmarmelade, wie man hier sagt, und was viel süßer als Verkehrsstau klingt. Dann verzweigt sich die Fast-Autobahn in viele Spuren, Schranken und Kassierhäuschen tauchen auf. 1000 Jahre nach Brian Borus historischem Sieg über die Wikinger sind die Nordmänner zurückgekehrt und erheben Brückenzoll an der Liffey, derweil die Furt aus Astwerk einer Stahlkonstruktion gewichen ist. 100 pc lautet die Forderung. Man wirft das Geld in einen Plastiktrichter, dann geht die Schranke hoch. Eine Rückgabe von Wechselgeld ist nicht vorgesehen. Gut, dass wir nicht nur die 50-Punt-Noten aus dem Automaten in der Tasche haben, sondern auch ein paar Münzen vom letzten Juni.

‘From Dublin to Galway Town’ (oder umgekehrt?) heißt es in einem Lied und der Weg nimmt kein Ende. Und immer noch kein Ende. Und immer noch keins. County Meath, County Westmeath – die Landschaft ist austauschbar. Ich glaube, die Midlands sind nichts für uns. Lunch bei Mother Hubberts; ein Kettenrestaurant, aber ganz nett. Endlich erreichen wir Galway und Irland fängt wieder an, dann kommt Uachter Árd, das Tor zu Connemara.

Es ist kurz nach sieben und beginnt zu dämmern. Ein leichter Nieselregen taucht die Bergkuppen in Irish Mist. Die Farben sind wärmer als im Juni, das kalte Graugrün ist einem warmen Braungrün gewichen. Noch eine Dreiviertelstunde und wir sind in Tully Cross. Der Platz vor der Kirche ist voll von obskuren Fahrzeugen – ein Zirkus in diesem abgelegenen Winkel? Das Schild an einem alten Doppelstockbus bringt die Lösung: Film Team Only. In Tully wird, wie Anne kürzlich am Telefon berichtete, ein Film gedreht.

Im Cottage ist Licht, der Schlüssel steckt und die Heizung läuft – Anne Jack hat uns nicht vergessen! Doch nur fünf Minuten später bricht mein Mädchen mit ihrem Trolly wieder auf: das Zahlenschloss klemmt und lässt sich nicht öffnen. Mr. Sammons vom ‘Western Autopoint’ löst das Problem. Und dann steht wie aus dem Nichts John Martin in der Tür: er sei mit seiner Gang drüben im Paddy Coyne’s und habe Licht gesehen. Ob wir vielleicht Hunger hätten, die Küche schließe gleich. Mein Mädchen huscht mit ihm hinüber, um noch etwas zu ordern. Grinsend kommt sie zurück. Noel, der Undertaker, stehe an der Bar und habe auf ihr ‘hello’ hin die Augen verdreht, als habe er den Geist einer soeben von ihm Beerdigten gesehen. Was macht die denn hier im Oktober ??? Oder haben wir schon wieder Juni ???

Eine halbe Stunde später sitzen wir inmitten Johns Gang und lassen uns Gerards Jacket Potatoes with Salad munden. Köstlich, für 3 Punt 50, und das Guinness – aaahh! Eine Lady aus Johns Gang kommt aus Winchester und wir brummen gemeinsam ‘Winchester Cathedral’. Guinness is good for you!

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Donnerstag, 4. Oktober 2001

Am Vormittag erwerben wir in Clifden eine wasserfeste Jacke für mich. “Absolute waterproof?” “Absolute waterproof!” versichert der Verkäufer von Hehir’s Woollen Store an der Market Street. Womit unsere Erwartungen über das Wetter der kommenden Tage zum Ausdruck gebracht sind. Aus dem Fischladen an der Biegung der N 59 wandern noch ein Beutel Crab Claws und aus Walsh’s Bakery an der Market Street zwei Stücke Cappuccino-Cheese-Cake in den Rucksack.

Ruhig und beschaulich ist Clifden off-season, kein Problem einen Parkplatz zu finden. Die Kehrseite: weder bei Lowry’s noch in der Central Bar ‘music to-nite’. Kevin Barry hat die Central Bar Sohn und Schwiegertochter überschrieben, im Gegenzug bescheren ihn David und Loretta Jahr für Jahr mit einem Enkel. Um ‘Barry’s Hotel’ kümmert er sich weiterhin selbst.

*  *  *

Die Regenjacke in Betrieb nehmend wandern wir am Nachmittag nach Tully. Das Dorf wird derzeit komplett neu gestrichen – grün, pink, gelb und blau, wie es das Herz des Hausbesitzers begehrt. Was ihre Häuser betrifft, waren die Iren schon immer farbenfreudig, vor allem, wenn es nichts kostet, was in diesem Herbst der Fall ist. Für die Dreharbeiten an dem Film war das Dorf auf alt getrimmt und in das Jahr 1905 zurückversetzt worden, an einigen Fassaden sieht man es noch. Nun darf es sich auf Kosten der Filmgesellschaft neu bemalen, und das lässt man sich nicht entgehen. Her mit den Farben:

An Tullach, © H. Vogt-Kullmann
Hildegard Vogt-Kullmann: An Tulach

Auf dem Heimweg wandelt sich der ‘drizzle’ in einen ‘persistant rain’. Auf dem Hügel der Lübecker sehen wir ein Auto und stapfen hoch, derweil das Wasser gegen unsere Beine klatscht. Erstaunte Gesichter starren uns durchs Fenster an – wo kommen die zu dieser Jahreszeit her? Dann sitzen wir bei einer Tasse Tee an ihrem Tisch und erfahren, was sich in dem letzten Vierteljahr auf Renvyle getan hat.

‘The Seventh Stream’, der siebte Bach, lautet der Arbeitstitel des Films, der bis gestern hier gedreht wurde. Eine reale und eine mythologische Ebene soll er haben, zwischen denen sich ein Fischer und eine Meerjungfrau bewegen. Klingt ein bisschen nach ‘The Secret of Roan Inish’. Der Flachbau von Diamond’s Pub bekam dazu ein Strohdach, und im angrenzenden Restaurant, in dem kein Gast mehr als einmal aß, wurde ein Kramladen aus dem Jahre 1905 installiert. Jeder andere hätte ihn anschließend in ein Irish Grocery Shop Heritage Centre verwandelt, doch der gegenwärtige Besitzer zieht es vor zu prozessieren, um ein paar Punt mehr aus der Filmgesellschaft zu quetschen. Die übrigen Dorfbewohner sind hervorragend auf die Filmleute zu sprechen, auch Regine und Rainer, auf deren Hügel ein Beleuchtungskran für die Nachtaufnahmen installiert war.

Der anhaltende Regen wird immer anhaltender, doch wir müssen heim. Das Angebot unserer 70-jährigen Gastgeber, uns die halbe Meile zum Cottage zu fahren, lehnen wir heroisch ab. Dort angekommen sind wir fliuch baite, ertrunken nass, doch für was kann mein Mädchen so genial ein Torffeuer entfachen?

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Freitag, 5. Oktober 2001

Als wir am späten Vormittag aus der Tür treten, kommt unser Nachbar Noel aus Brians Shop und geht sein Cottage. Ein freundliches ‘hello’ – er hat realisiert, dass wir keine Geister sind. Wir passieren sein Haus und schlendern die Straße links der Kirche hoch, um nach einer Meile rechts ab ins Moor zu wandern. Da tritt Noel vor uns aus dem Gebüsch, grinst, sagt ein zweites Mal ‘hello’ und geht die Straße hinunter. Diesmal haben wir einen Geist gesehen.

Der Himmel weiß nicht so recht, ob er es regnen lassen soll. Sanfte Lichtstimmungen über dem Moor, die oft nur dreißig Sekunden währen und schwinden, sobald ich nach der Kamera greife. Eine grünbraune, leicht hügelige Ebene mit klatschnassen Torfabstichen. Vor uns der Tully Mountain, links der Diamond Hill mit seinen kahlen Kollegen von den Twelve Bens und über allem die Andeutung eines Regenbogens. Steinbrocken laden zum Verweilen ein, etwas nass, doch eine Plastiktüte aus dem Rucksack löst das Problem.

Ein paar Tropfen fallen vom Himmel, aber noch ist es feuchter von unten als von oben. Dann wandelt sich der Pfad zum Bach, stellt jedoch ein paar Grasbüschel und Steine zur Verfügung, um die beiden Wanderer über das Wasser schreiten zu lassen. Der einen gelingt es, der andere holt sich nasse Füße.

Wir stoßen auf einen abgeräumter Torfstapel. Da bleiben immer einige Soden liegen, und die soeben noch als Sitzunterlage verwendete Plastiktüte kommt zu ihrer eigentlichen Bestimmung: es mangelt uns an landestypischem Brennmaterial für den Kamin. Briketts alleine sind langweilig, selbst wenn auf ihnen Bord na Mona steht, was sie als ‘Torfbriketts’ auszeichnet. Einen sauber aufgeschichteten Stapel würden wir nicht anrühren, doch vergessene oder verlorene Stücke am Wegesrand? Ab in die Tüte und rein in den Rucksack.

An der Brücke über den Dawros River kreuzt die Straße von Letterfrack nach Renvyle den Moorweg. Torfigbraun schießt das Wasser unter ihr hervor, um sich im Ballynakill Harbour zu beruhigen und im Atlantik aufzugehen. Was nun? Den kurzen Weg die Straße nach Tully Cross hoch, oder weiter geradeaus bis zum Kai und im Bogen zurück über das Moor? Ein Blick nach oben. Das Wetter scheint sich zu halten, und so entscheiden wir uns für die längere Strecke. Nach einer halben Stunde hat Petrus dies gemerkt, und die gelegentlichen Tropfen werden zu einer kräftigen Schauer. Schräg von der Seite auf die Beine; das ist besonders wirkungsvoll, denn das gestern für IR£ 59.90 erworbene Modell einer irischen Regenjacke ist tatsächlich absolut wasserdicht. 500 Meter vor unserer Haustür hört der Regen auf einem Schlag auf. Der Kamin wird mit Hilfe einer größeren Menge Firelighters angeheizt, wir wechseln die Hosen, mein Mädchen malt ein Bild und ich schreibe in dieses Heft.

*  *  *

Am Abend spielen die Dúchas im Bard’s Den zu Letterfrack. Furios, doch George hat immer noch nicht begriffen, dass er nicht singen kann. Zum Glück versucht er es nicht allzu oft.

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Sonnabend, 6. Oktober 2001

Gleich in der Früh fahren wir wieder nach Clifden. ‘Früh’, das heißt so gegen zehn, halb elf. Unser erster Besuch gilt dem Clifden Book Shop, der zugleich ein Artist’s Shop ist, denn bei ihrer gestrigen Malaktion musste mein Mädchen feststellen, dass (a) die Tube mit einer derzeit häufig benötigten braunen Farbe mehr oder weniger eingetrocknet ist und sie (b) noch den einen oder anderen Pinsel braucht. Vor Ort traut man seinen Augen kaum: Künstlerbedarf ist in Clifden preiswerter als in Hamm/Westfalen. Da hätte man sich gleich hier eindecken können.

Am frühen Nachmittag sind wir wieder zu Hause. Heftige Schauern wechseln im Halbstundenrhythmus mit Trockenperioden. Zu Beginn einer dieser Trockenperioden brechen wir zu unserem ‘Kleinen Friedhofsweg’ auf, den vor fast einem Jahrzehnt Gisela entdeckt hatte. Hier noch einmal die Stationen, vermutlich schon mehrfach in alten Tagebüchern beschrieben: Tully Cross Richtung Lettergesh, nach einer Meile links hinunter zur Ocean Lodge, dann rechts der Küste entlang, vorbei an den umgefallenen Bäumen aus der Keltenzeit bis zum Friedhof von Mullaghgloss und über die Lettergesh Road im Bogen zurück nach Tully Cross.

Soweit die Wegbeschreibung. Wir wandern oberhalb der Küste gen Osten, blicken über das graue Meer auf die grauverhangenen Berge Mayos, aus denen dann und wann grau der Croagh Patrick auftaucht. Unten an der Wasserkante machen wir beim grauen Franzosenhaus den roten Generatorwagen und zwei weitere Fahrzeuge des Filmteams aus, dann ein im Meer sich bewegendes schwarzes Etwas – die für den Film engagierte Meerjungfrau? Zwei Cottages am Wasser, die dort im Juni noch nicht standen, und ein riesiges Scheinwerfergerüst. Jetzt wissen wir auch, warum gestern Abend der Himmel über dem Meer so leuchtete. Ich hatte auf das Nordlicht getippt, doch keiner wollte das akzeptieren.

Wir gehen weiter. Bei den umgestürzten Bäumen setzt die fällige Regenperiode ein, die wir halbwegs geschützt unter überhängendem Gebüsch ausstehen. Dann weiter zum Friedhof und über die Straße nach Tully Cross zurück.

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Sonntag, 7. Oktober 2001

Pouring rain, strömender Regen zur Frühstückszeit. Vielleicht sollten wir einen Craftshop aufsuchen – in Kylemore waren wir noch nicht. Auf den Fotorucksacks kann man heute wohl verzichten! Wir fahren los, und nach zwei Meilen kommt es, wie es kommen musste: der Regen lässt nach und ein blauer Streifen dringt durch das Grau. Umkehren und die Kamera holen? Quatsch, bestimmt nur eine vorrübergehende, Touristen narrende Aufheiterung.

Wir sind fast die einzigen auf dem Parkplatz vor dem Kylemore Store und auch drinnen geht es ohne Hektik zu. Mein Mädchen hat in ein paar Tagen Geburtstag, ergo kommen wir nach einer dreiviertel Stunde mit ein paar keltischen Ohrringen aus dem Laden, die auch einer Piratenkönigin von der Clew Bay gestanden hätten. Allerdings hätte die kaum dafür gezahlt.

*  *  *

Wet evening in Leenaun, © Paul GuilfoyleLeenaun hat sich von den Touristen verabschiedet, fast, aber nicht ganz. Geschlossen hat auch das Blackberry Café, gegenüber dem wir heute parken. Der Laden daneben ist gleichfalls bis zum nächsten Sommer dicht, wie auch der enge Craftshop in dem alten Haus an der Brücke.

Inzwischen hat sich auch der Regen verabschiedet. Ein Lichtteppich wandern über den Berghang jenseits des Killary, während wir auf der Steinmauer am alten Anleger vor dem Leenaun Hotel sitzen. Die ‘Killary Cruise’, ein neues Ausflugsschiff, hofft selbst zu dieser Jahreszeit noch auf Touristen und verkehrt mehrmals täglich durch den engen Fjord. Ein Programmpunkt für einen der nächsten Tage? Wir werden sehen.

Nun meldet sich der Hunger. In der Imbissecke des Leenaun Cultural Centre ordern wir eine Seafood Chowder, die an der Theke so gut roch. Die erste Seafood Chowder in Irland, die wirklich schmeckt, und dazu noch für nur IR£ 2.95!

*  *  *

Früher Nachmittag am Strand von Glassilaun. Es ist Ebbe, und so wandern wir auf die kleine Insel hinüber. Schräg am Uferhang liegt ein halb verrottetes Boot, im unteren Teil mit Wasser vollgelaufen, doch die obere Sitzbank ist trocken. Ein guter Platz, denn wenn das Wasser naht, reicht die Zeit aufs Festland zurückzukehren. ‘We have got all the time in the world’ – alle Zeit der Welt ist unser, heißt es in einem Lied, das vor 40 Jahren Louis Armstrong sang.

Aber manch eines Menschen Zeit ist schneller um, als er selbst und die Welt es wahr haben möchten. “No music to-night”, zuckt bedauernd Patrick Sammons vom Angler’s Rest die Schultern, als wir gegen 10 Uhr p.m. nach Frank und Kieran Ausschau halten. Ein junges Mädchen, eine Nichte von Charlie O’Malleys Frau, sei gestern Abend in Galway gestorben. Sehr tragisch, sie habe heute morgen einfach tot im Bett gelegen. Darum also stand in der Früh Noels 20 Jahre alter Firmenwagen mit den Gardienen hinter den Scheiben vor der Garage.

Trotz alledem – und vielleicht gerade deshalb – ist der Pub rappelvoll. So wechseln wir ins Paddy Coyne’s, wo wir John Martin mit seiner Gang vermuten. Wir schieben uns durch die Tür und ein Blick nach rechts ... Johnnie! Johnnie, in wenigen Wochen wird er 81, steht auf, umarmt uns. Sein Herz sei gebrochen, erzählt er, sein Bruder Paddy todkrank. Verwandte aus England sind gekommen ihn noch einmal zu sehen. Auch Kierans Frau ist sehr krank, wir hatten es schon gehört. Sie liegt in Galway in der Universitätsklinik und man weiß nicht, was wird. Nichtsdestotrotz, am Dienstag spielt Johnnie mit Kieran in der Central Bar – most probably. The Show must go on!

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Montag, 8. Oktober 2001

Galway revisited – zum wievielten Mal eigentlich? Die Zahl ist zweistellig, soviel ist sicher, und diesmal ist die Kamera dabei. Ihr erster Einsatz bei einem außerplanmäßigen Stopp im Inagh Valley, mein Mädchen wartet geduldig. Vor dem Objektiv der See, links die Twelve Bens, rechts die Maamturk Mountains. Schon oft habe ich versucht diese Szene festzuhalten und das Resultat verworfen – zu enttäuschend verglichen mit dem Bild auf der ‘inneren Mattscheibe’. Und nun, in diesem weichen Oktoberlicht? Wir werden sehen.

Man kann machen, was man will: die Fahrt von Renvyle nach Galway dauert anderthalb Stunden. Einheimische, die uns seit zehn Jahren etwas von einer Stunde erzählen, müssen eine andere Uhr haben. Nach zwei Runden um den Block finden wir einen freien Parkplatz vor der Kathedrale. Für ein Punt parkt man hier den ganzen Tag lang, früher kostete es gar nichts.

Das Nora-Barnackle-House, in dem James Joyces Lebensgefährtin zu Anfang des letzten Jahrhunderts als Dienstmädchen arbeitete, zeigt sich Closed! und verrät nicht, wann es wieder zu öffnen gedenkt – vermutlich im kommenden Sommer. Im Galway City Museum waren wir erst vor drei Monaten; davon abgesehen macht es einen arg geschlossenen Eindruck. So konzentrieren wir uns auf ein anderes kulturelles Highlight: Shopping in einer mittelalterlichen Stadt im Westen Irlands. Hier das Ergebnis:

Für die Liebste: Zwei Hosen mit Schlag (die sich nach der ersten Wäsche als Einweghosen herausstellen werden) sowie Nadel und Faden, um die Hosenbeine längenmäßig anzupassen, dazu eine Weste.

Für den Chronisten (keine Altersangabe): Er wird sich die CD der Gruppe Dordán, die wir vor einer Stunde auf eine Empfehlung hin in The Four Corners erworben haben, heute Abend im Auto anhören.

Für Ines (zwölf Jahre): Keltischer Silberschmuck, doch um nämlichen zu erhalten wird sie ein noch zu entwerfendes Reiserätsel lösen müssen, hinreichend schwer für 20 Punt.

Für Lola (3 Jahre): Boo!, ein ausgesprochen freundlich aus der Wäsche blickendes Halloween-Gespenst. Und dies ist seine Geschichte:

BooWir trafen Boo! im Dunnes Store zu Galway, in einer Kiste mit anderen grimmig aussehenden Halloween-Gespenstern. Irgendwie hatten wir den Eindruck, dass er sich vor den schrecklichen Gestalten gruselte und erzählten ihm, wir würden ein kleines Mädchen namens Lola kennen, das gar nicht so grimmig aussähe, und ob er nicht zu ihr ziehen wolle. Eine gewisse Gefahr mochten wir ihm allerdings nicht verheimlichen: am Ende würde er noch in Boolinchen! umgetauft werden und ein Kleid übergezogen bekommen. Boo! meinte, das sei kein Problem: so ein Kleid könne er jederzeit wieder wegspuken, das hätte er in seiner Gespensterschule schon gelernt. Schnell entschied er sich seine Totenkopf-Kollegen zu verlassen und mitzukommen.

Nachdem er sich bei uns im Cottage eingerichtet hatte, fragten wir ihn neugierig, wie lange man auf eine Gespensterschule gehen müsse und seine Zeugnisse wären. Er sei immerhin ein halbes Jahr in die erste Klasse der National Ghost School gegangen, sagte er stolz. Er gebe ja zu, seine Noten in ‘Grimmig Aussehen’ und ‘Angst Und Schrecken Verbreiten’ seien nicht berauschend gewesen, aber seine große Stärke sei es, Wohnungen durcheinander und Sachen wegzuspuken, die man erst Wochen später wiederfindet. Wenn überhaupt! Im Dunkeln habe er allerdings ein bisschen Angst vor dem Spuken, doch am Tag sei er der beste Spuker weit und breit.

Und dann ging die Spukerei in unserem Cottage los. Noch heute ist er ganz besonders stolz darauf, dass es ihm immer wieder gelang, die Haustür offenzuspuken, während es ganz schrecklich ums Haus herum heulte. Zuerst hatten wir geglaubt, der Wind würde heulen und das Türschloss sei kaputt, bis Boo! uns verriet, dass er am Spuken war. Doch manchmal übte er auch nachts. Schon immer hatten wir uns gefragt, warum die Leute erst nachts um eins aus dem Pub gegenüber kommen, wo doch bereits um Mitternacht Sperrstunde ist. Das liege daran, erklärte uns Boo!, dass er um Mittenacht so laut vor der Tür spuken würde, dass sich keiner aus dem Pub traut.

Später lernte er auch das frühmorgendliche Spuken, und eines Tages sprang wie von selbst um sechs in der Früh unsere Kaffeemaschine an. Als er jedoch damit begann, die Whiskeyflasche auf dem Kaminsims leerzuspuken, war Schluss mit lustig; da schickten wir ihn zu Lola.

Wir lunchen irgendwo an der High Street. Ein ‘Vegetarian Wrap’, etwas eingewickeltes Vegetarisches. Essbar, doch das Lokal ist arg laut. Eine halbe Stunde später überrascht uns unten am Kai der Regen. Wir ziehen uns in einen Hauseingang zurück und blicken auf die gegenüberliegende Seite der Corribmündung, wo einst Claddagh gestanden hat.

“Hier wirst du sitzen
Und den Mond über Claddagh aufgehen sehen,

heißt es in einem alten Lied, und einige Zeilen später:

Doch Fremde kamen und wollten uns lehren,
Wie man zu leben hat.”

Doch um das Fischerdorf Claddagh mit seinen strohgedeckten Cottages dem Erdboden gleichzumachen, brauchte man keine Fremden.

*  *  *

Auf dem Heimweg. Eine Fahrt durch mystisches Licht, aus der Dämmerung tauchen die Berge der Twelve Bens auf. Aus dem CD-Spieler des Autoradios dringt die Musik von Dordán – auf Deutsch ‘Gemurmel’. Vielleicht ist es dieses Gemurmel, das alles in diese Atmosphäre taucht: ‘Vier Frauen aus dem County Galway weben mit der eleganten Hand eines Händel und Mozart einen reich geschmückten Vorhang aus traditionellen irischen Melodien’ steht auf dem Cover. Begeben wir uns also hinter diesen Vorhang.

*  *  *

Wir sind wieder im Cottage. Ein Feuer knistert im Kamin und mein Mädchen ist auf der Bank davor eingenickt. Vielleicht sollten wir den Abend auf diese Weise beschließen, ich ziehe schon einmal meine Schuhe aus. Da klopft es am Fenster: Die Lübecker, ob wir noch auf ein Pint mit ins Paddy Coyne’s kommen? Wir kommen, und so wird es doch wieder Mitternacht, ehe es ins Bett geht.

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Dienstag, 9. Oktober 2003

Ein neuer Tag, und auch er kann sich nicht entscheiden, wie er sich entwickeln will. Wir fahren nach Cleggan und weiter Richtung Land’s End, lassen das Auto stehen, als der Weg in einen Trampelpfad übergeht. Rechts ein deserted village. Eigentlich sind es nur drei verlassene Häuser, dahinter sieht man das Meer – romantisch genug für ein Foto.

Wir steigen über die Mauer und wandern zum Wasser, über zerklüftete Felsplatten, die ein bisschen an die Arans erinnern. Grau das Meer, weiß schlägt die Gischt an die Felsen. Vor uns eine verlassene Insel, wir tippen auf Inishark. Das Anlegen dort war stets ein Abenteuer, und als es in den 60-er Jahren keine zum Rudern hinreichend kräftige Leute auf der Insel mehr gab, wurden die verbliebenen Alten nach Cleggan umgesiedelt. “Warum nicht zu uns nach Inishbofin?” fragten sich die Bewohner der größeren Nachbarinsel – vermutlich stand auch ihr Eiland schon auf der Abschussliste. Doch die Zeit des Inselräumens scheint vorbei zu sein; seit zwei Jahren wird Inishbofin vom Festland aus mit elektrischem Strom versorgt, und nun denkt man gar über einen Landestreifen für Flugzeuge nach.

Der Felsen, auf dem wir sitzen, ist kalt und feucht, und so stehen wir auf. Die schwarze Wolke, die sich lange über Inishbofin aufgehalten hatte, kommt näher; erste Tropfen fallen, rasch werden es mehr. Zurück ins Auto, und auf nach Cleggan ...

... wo das Lunchmenü in Oliver Coyne’s Bar auch nicht mehr das ist, was es einmal war. So lunchen wir einmal mehr bei Veldon’s in Letterfrack: Schellfisch unter einer leckeren Morzarella-Tomaten-Kruste und dazu ein Pint Guinness.

*  *  *

Halbzeit. Am Abend ein bisschen Buchführung, das heißt, die Auflistung von Käufen, die nichts mit dem Urlaub zu tun haben und somit nicht den Urlaubskosten zuzurechnen sind. Um sich und aller Welt klar zu machen, dass so ein Urlaub kaum was kostet und man bald den nächsten in Angriff nehmen kann.

Bareinkäufe, die NICHT als Urlaubskosten zu verbuchen sind (IR£):

Mintsauce für Deutschland 4,00
Buch 14,95
Irischer Bildschirmschoner 4,50
Eine CD 14,95
Geschenk für Ines 19,99
Geschenk für Lola (Boo!) 4,00
Fußcreme 3,99
Malutensilien 12,00
Noch eine CD 14,95
Geschenk für Anna 14,00
Mehr Malutensilien 6,00
Haushaltswaren 3,50
Irische Schürzen für Schwiegermutter   11,00
Noch ein Buch 10,00
Wein zum Verschenken (Lübecker) 13.00

 
Schließlich noch ein paar Dinge, die man im nächsten Sommer mitbringen muss:

Kaffeefilter
Kerzen (dicke und dünne)
Taschenlampe
Schraubenzieher

sheep sheep

topdown


Reiseberichte Irland: Connemara, Herbst 2001
© 2002 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 26.10.2006