Irisches Tagebuch 2004

Im dreizehnten Jahr

 

Sonnabend, 19. Juni 2004

Sitting on the dock of the bay / Watching the ships goin’ away ... so oder so ähnlich beginnt ein Lied von Kris Kristofferson, an dessen Text ich mich nicht mehr genau erinnere. ‘Wasting time’, endeten die Strophen. Die Zeit vergeuden? Nein, sie aufnehmen und vorbeigleiten lassen.

The dock of the bay, das ist die von der Sonne beschienene Pier von Cleggan, vor der wir sitzen und die Zeit vorbeigleiten lassen. In die Mauer eingelassen eine Gedenktafel für einen jungen Mann, der die Zeit hinter sich gelassen hat:

With the Ruben Bulmer II and the sea
All Desmond’s dreams were reality.
He would leave Cleggan Pier in the early morn
Smiling and always in great form.

If something broke down out at sea
He would return to land and have a tea.
Up again and down the pier
Hoping to fix his boat so dear.
He would enter the Pier Bar about dusk
And some times a pint of a Harp would be a must.

On Wednesday 9th October 2002 he set out to sea
But to return on the Reuben Bulmer II was not to be.
We feel his presence on the pier
In the air and everywhere.

Im Oktober 2002 legte Desmond mit seinem Boot ab und kehrte nicht mehr zurück.

Ein Geräusch wie ein Lastwagen, die Fähre der O’Hallorans aus Inishbofin legt an. Ich habe noch den alten Paddy O’Halloran am Steuerruder der Dun Aengus vor Augen, die vor drei Jahren durch die Galway Bay ersetzt wurde. Nur wenige Passagiere verlassen das Schiff, der Schiffsjunge wird losgeschickt, dem Skipper die Zeitung zu holen.

Nicht weniger gemächlich geht es vor der Pier Bar zu, in der Desmond dann und wann sein Harp trank. Die eben noch an den Holztischen sitzenden Gäste haben sich zum Schiff auf und uns Platz gemacht. Crab Claws, Salat, Chips & Guinness – so lässt es sich aushalten.

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Sonntag, 20. Juni 2004

In Roundstone gibt es eine Ampel. Noch ist sie mobil, doch wird sie im nächsten Jahr wohl einer stationären gewichen sein. Ansonsten macht man in Roundstone das, was man immer in Roundstone macht: Einmal durch des Bodhrán-Makers Craftshop schlendern und, soweit es das Wetter erlaubt, auf der Terrasse vor Vaughans Bar & Hotel lunchen. Das Wetter erlaubt es.

Die traditionelle Rundwanderung über den Hügel oberhalb des Ortes fällt diesmal aus – zu warm, beschließt mein Mädchen. Statt dessen wandern wir zu einer kleinen Mole unterhalb des Geländes der alten Monastry, von der nur noch ein Stück Mauer und ein Tor steht. Ein altes blaues Holzschiff liegt malerisch auf dem grasbewachsenen Strand, jenseits der Bucht erheben sich dunkel die Berge der Twelve Bens.

Ein alter Mann versucht an ein ins Wasser gerutschtes Tauende zu kommen, wohl zu einem Boot gehörend, das weiter draußen in der Bucht liegt. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man sich die Füße nicht nass machen will! Er blickt sich auf der Mole um, findet ein Seil, bindet das eine Ende um einen Stein und versucht diesen durch die Schlaufe des einige Meter von im entfernt im Wasser liegenden Taus zu werfen. Mehrfach löst sich der Stein vom Seil, mehrfach trifft er daneben, doch schließlich gelingt es ihm, und er erangelt sich das Tauende und zieht es an Land.

BuchdeckelLinks die Roundstone Bay und rechts das offene Meer. Und dann ist da noch Inishlacken, eine kleine, inzwischen unbewohnte Insel mit einem Cottage, in dem vor einem halben Jahrhundert drei Maler einen Sommer verbrachten: George Campbell, Gerard Dillon und James MacIntyre. Der letztere hat – vielleicht inspiriert durch Jerome K. Jeromes Three Men in a Boat – ein Buch über dieses Abenteuer geschrieben: Three Men on an Island*. Humorvoll und illustriert mit den Bildern, die die drei während ihres Aufenthalts auf ihre Leinwände brachten. “Habe Lust, es mal wieder zu lesen”, meint mein Mädchen.

* James MacIntyre: Three Men on an Island, The Blackstaff Press, Belfast 1996

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Montag, 21. Juni 2004

So müde waren wir schon lange nicht mehr, was war das gestern für ein Abend, was für eine Nacht: Musik zur Mittsommernacht im Angler’s Rest mit Frank und dem aus Schweden zurückgekehrten Kieran, dem fast 84-jährigen Johnnie, den Hills aus East Anglia (Concertina und Melodeon), und schließlich tauchte Charlie auf und hatte ‘ganz zufällig’ sein Akkordeon dabei.

*  *  *

Vor einigen Tagen berichtete der Irish Independent vom wärmsten Tag des Jahres, ein Rekord, der heute getoppt werden dürfte. Mein Mädchen schwimmt im Atlantischen Ozean, was ich von den ‘Klippen’ am Renvyle Beach beobachte. Doch meist steht sie im Ozean, denn so ganz mag sie den Boden unter den Füßen nicht verlieren. Dem kühlen Nass entronnen, unterhält sie sich am Strand mit der Dame, der alles Land von der Straße bis zum Wasser gehört. Ein Enkel aus den USA, erklärt sie auf einen in Ufernähe plantschenden Jungen weisend, sie bekomme man bei diesen Temperaturen nicht ins Wasser.

Renvyle Beach, © H. Vogt-KullmannEine Viertelstunde später sitzen wir gemeinsam auf unserer felsigen Plattform. Ein Vogel kreist langsam über dem Meer, lässt sich aus großer Höhe wie ein Stein hineinfallen. Der Ozean hat ihn verschluckt. Ein erneutes Wasserklatschen. Mit einem Fisch im Schnabel taucht er wieder auf und steigt in die Lüfte. Ob der Fisch das Meer von oben sehen wollte?

Auch Zweibeiner halten Ausschau nach Früchten des Meeres. Zwei Franzosen, die auf dem kleinen Schotterplatz am Hang ihren Caravan geparkt haben, staken mit Messern und einer Plastiktüte ausgestattet bei ablaufendem Wasser durch die seetankbehangenen Steine und ernten Muscheln.

Bis weit nach Mayo reicht der Blick über die Bucht, unverwechselbar der Kegel des Croagh Patrick. Mein Mädchen hält die Szene in einer Bleistiftskizze fest, nach der das obige Bild entstehen wird.

*  *  *

Am Nachmittag sitzen wir vor dem Cottage und schnibbeln Gemüse für eine Beef-Casserole, zu der wir zwei Gäste eingeladen haben, die dann aber nicht kommen. Statt dessen steigen vor der Maol Reidh Lodge die ‘Hills of East Anglia’ aus ihrem Auto, zurück von einem Ausflug nach Westport. Wir bewirten sie mit einem Irish Coffee aus eigener Herstellung und werden unsererseits für morgen zum Dinner ins Maol Reidh einladen.

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Dienstag, 22. Juni 2004

Über Nacht ist das Wetter umgeschlagen, und nach vielen vergeblichen Anläufen der letzten Jahre stehen die Chancen gut auf einen Galwayer Regentag. Die wollen wir uns nicht entgehen lassen.

Es regnet, als wir in Galway eintreffen und beim Lidl unseren Weinvorat ergänzen, es regnet, als ich im Treasure Chest eine irische Patchwork-Mütze erwerbe, es regnet, als mein Mädchen bei Penney’s für 11 Euro eine Hose ersteht und es regnet immer noch, als sie beim großen Sale! von Pamela Scott die Einkäufe des Tages mit dem Erwerb eines T-Shirts abschließt. Ein rundum gelungener Tag!

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Mittwoch, 23. Juni 2004

Nach dem Frühstück regnet es immer noch. Mein Mädchen malt ein wenig, ich schreibe in dieses Buch und letzte Ansichtskarten. Werde gleich noch ein Paket Briketts holen, hoffentlich hat Brian wieder welche. Wir haben zwar noch Torf, doch der allein verbrennt so schnell.

*  *  *

Am späten Nachmittag lässt der Regen nach, so dass wir uns zu Fuß nach Mullaghgloss aufmachen. Kein Einheimischer käme auf die Idee, die knapp zwei Kilometer zu laufen. Geplant als unser Abschiedsbesuch bei Johnnie und Margaret, doch als er hört, dass sich morgen Abend John Martin mit einer neuen ‘Gang’ aus East Anglia im Paddy Coyne’s angesagt hat, meint Johnnie, er habe Lust mal wieder Musik zu machen. Wenn wir ihn mit seiner Fiddle gegen halb zehn abholen könnten ... Er werde Frank oder Kieran anrufen, ob ihn nicht einer begleiten wolle – nur ein Fiddler sei eine etwas kleine Band. Dann also bis morgen Abend!

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Donnerstag, 24. Juni 2005

Zurück von einem Einkauf bei Veldon’s steht Ann Jack hinter dem Cottage und lädt uns für morgen zum Lunch ein. Wo, das könnten wir uns aussuchen, doch sollten wir das College Cafe in Letterfrack noch nicht kennen, wäre es einen Besuch wert. Die Einrichtung sei zwar sehr einfach, das Essen aber lecker. Wir akzeptieren.

*  *  *

Near Leenaun, © Paul GuilfoyleDen größten Teil des Tages verbringen wir in und um Leenaun. Wandert man am ‘Leenauner Dreieck’ Richtung Maum Valley, so stößt man hinter der Brücke am Ortsausgang auf einen Weg, der einem Flüsschen folgend nach rechts in die Berge führt. Vor zwei Jahren hatten wir den Pfad entdeckt, kamen aber nicht sehr weit. Nach der ersten Kehre sieht man den Bach als silbernen Strich den Berg herunter kommen. Da könnte ein Wasserfall sein, und auch der Hinweis Eas Dubh auf Tim Robinsons Connemara-Karte lässt einen solchen vermuten. Ob wir es bis dorthin schaffen?

Nicht ganz, aber weiter als im Juni 2002. Nässe dringt in Schuhe, der stärker werdende Wind nimmt den Atem. Dann kommen wir über einen Kamm und sehen links unter uns die sich durchs Tal windende Straße. Hoch genug für heute! Wir finden eine halbwegs geschützte Stelle am Hang und genießen die Aussicht, ehe wir uns auf den Rückweg machen.

*  *  *

Im Leenaun Cultural Centre, was irgendwie besser als ‘Craftshop’ klingt, suche ich nach einem vor zwei Jahren erschienen Buch von Anne Chambers über Ranji, dem ‘Maharadscha von Connemara’. Seine Hoheit Kumar Shri Ranjitsinhji, Jam Saheb of Nawanagar war Herrscher von Englands Gnaden über einen indischen Kleinstaat und erwarb 1926 auf Pump Ballynahinch Castle, wo er bis zu seinem plötzlichen Ableben im Jahr 1933 die irischen Sommer verbrachte. Die Inagh Valley Lodge nebst Fischereirechten erwarb er gleich mit. Der Chef des Cultural Centre, nach 12 Jahren ein alter Bekannter, bedauert: er habe zwar von dem Buch gehört, es aber nicht auf Lager.

Nun denn, so holen wir uns zwei Pötte Tee und je ein Stück Lemon Cheese Cake, setzen uns vor die Eingangstür und betrachten die wechselnden Lichtstimmungen über dem Fjord und den Bergen. Bis dann dem Hausherrn etwas einfällt und er zu uns herauskommt: In Galway habe er das Buch gesehen, bei Eason’s oder Kenny’s. Wir auch, doch das verraten wir ihm nicht und danken für die Information.

*  *  *

Gegen halb zehn holen wir Johnnie in Mullaghgloss ab. Er sitzt vor dem Fernseher, das Spiel Portugal vs. England muss jeden Moment zu Ende sein. Doch dann geht es in die Verlängerung und wir brechen in Ungewissheit seines Ausgangs auf. Später erzählt man im Pub, dass Portugal im Elfmeterschießen obsiegt und England bei der EM aus dem Rennen geworfen hat. Johnnie strahlt.

John Martins Gang hockt bereits im Paddy Coyne’s. Der Fiddler ist da, ob jetzt auch noch Kieran kommt? Johnnie hatte ihn heute Vormittag informiert und er hatte zugesagt. Mein Mädchen, das stolz von der geplanten Session berichtet hatte, fühlt sich für alles verantwortlich und rutscht unruhig hin und her. Auch Johnnie ist nicht ganz wohl in seiner Haut; er spielt ein paar Jigs und Reels, aber ohne seinen Ältesten macht es ihm keinen Spaß. Doch endlich gegen Viertel vor elf trifft Kieran ein, packt seine Gitarre aus und stimmt Raglan Road an. Kurz vor eins bringen wir Johnnie nach Mullaghgloss zurück.

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Freitag, 25. Juni 2004

Wieder ein letzter Urlaubstag, an dem die Sonne scheint. Wir sind spät aufgestanden, nach einer Nacht im Paddy Coyne’s, an deren Ende mein Mädchen von Gerard das hochheilige Versprechen bekam, im nächsten Juni die Theatre Company seines Bruders Seán auftreten zu lassen. Und sei es nur für sie!

Viel Zeit bleibt uns diesem Vormittag nicht, da Anne Jack für eins zum Lunch geladen hat. So fahren wir nach Tully und wandern zum Renvyle-Kai hinunter. Ich schlage nach: zum letzten Mal standen wir am 12. Juni 2002 an diesem Anleger. Grau und trüb war es damals, doch heute scheint die Sonne, eine Gelegenheit, die schwarz glänzenden Curraghs an der Mole zu fotografieren. Ach Liebste, kannst du dich mit deiner gelben Jacke mal auf die Mauer setzen ...

*  *  *

Ein Mittagessen mit Hindernissen. Punkt eins steht Anne mit ihrem silbernen Yaris – auch er war einst ein Rent-A-Car – vor der Cottagetür und hat bereits eruiert, dass es im College Café ob der beginnenden Ferien nur Wraps gibt. Dann lieber ins Bard’s Den? Mmm, so berühmt war die Küche des Barden in den letzten Jahren nicht. Sie sieht unsere Zweifel und weiß warum. O, man habe dort seit dem Frühjahr einen neuen Koch und das Essen sei ganz vorzüglich geworden, die Speisekarte nicht wiederzuerkennen.

Das überzeugt, also auf nach Letterfrack. Doch seltsam, die Eingangstür steht nicht wie sonst sperrangelweit offen und drinnen wird weiß eingedeckt. Sorry, eine Hochzeit, bekommen wir zu hören ... und landen am Ende wieder bei Veldon’s.

Nachtrag vom September 2004

Mit der obigen Zeile bricht das Irlandtagebuch des Jahres 2004 ab. Ich wollte es am Flugplatz beenden, doch irgendwie wurde nichts daraus. 80 % der Flüge waren an dem Tag verspätet, die Menschenmassen genervt – da kam beim Schreiber keine Stimmung auf.

Und heute, am Vortag zu einem Nordfrieslandtrip, versuche ich mich zu erinnern, was da noch gewesen war. Anne Jack hatte uns beim Essen angeboten, im Oktober zu einem Sonderpreis zwei Cottages zur Verfügung zu stellen, um den Geburtstag meines Mädchens zu feiern. Keine schlechte Idee, doch das kam mit dem Urlaub nicht hin. Und so geht es morgen für ein paar Tage nach Tönning.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2004
© 2005 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 12.02.2007