Pete O’Briens Reisetagebuch

von Hans-Peter Detzner

Was nicht im Irland-Reiseführer steht (1995)

Wie alles begann

Um auf Irland und meine Irlandreisen sprechen zu kommen, muss ich das Rad der Zeit um ca. 25 Jahre zurückdrehen. Angefangen hatte alles damit, dass ich in der Volks- bzw. Hauptschule keinen Englischunterricht hatte. Deshalb besuchte ich einige Jahre lang Englischkurse der Volkshochschule meiner Heimatstadt. Während dieser Zeit traf ich einen ehemaligen Sandkastenfreund, der mittlerweile Dozent an der VHS geworden war und einige Leute suchte, die Spaß an anglo-amerikanischer Folklore hatten, ein Instrument spielten und/oder meinten singen zu können. Das kann ich doch, dachte ich mir, und meldete mich. Daraus entstand eine Gruppe, die in der Folge fast ausschließlich Irish Folk spielte, nur so zum Spaß und nie kommerziell.

Als die Gruppe nach einigen Jahren auseinander ging, war Schluss sowohl mit Irish Folk als auch mit dem Englischsprechen. Die Wende kam sechs Jahre später. An meinem Wohnort eröffnete ein Irish Pub. Hier wurde sehr viel Englisch gesprochen, und an jedem Wochenende gab es Irish Folk live. Keine Frage, dass ich dort Stammgast wurde. Mit dem Personal und den vielen Gästen kam ich über Irland ins Gespräch und habe es, dadurch angestachelt, mit nunmehr 43 Lebensjahren endlich einmal geschafft, drei Wochen in Irland zu verbringen. Eines ist sicher: Es war nicht mein letzter Irlandaufenthalt.

Von Dublin nach Doolin

Wie eingangs erwähnt, fanden im Vorfeld in meinem ‘favourite pub’ unzählige Gespräche über Irland statt. Ich bekam reichlich Tipps von der Pub Crew und anderen, die schon in Irland gewesen waren. Natürlich wurden auch Reiseführer und andere Irlandbücher gewälzt. Viele der auftretenden Gruppen waren zu Freunden geworden und machten auch in ihrer irischen Heimat Musik. Adressen und Telefonnummern wurden ausgetauscht, denn ich sollte mich melden, sobald ich auf der grünen Insel war.

In groben Zügen hatte ich mir die Reiseroute abgesteckt. Mit dem Flugzeug in Dublin gelandet, sollte es mit dem Expressway zum Busbahnhof und dann mit den Überlandbussen von Bus Éireann weitergehen. Bis zu meiner Ankunft dort war mir aber nicht klar, ob ich die Ost-Süd-West-Ost-Route oder die Ost-West-Süd-Ost-Route nehmen sollte. Auf jeden Fall wollte ich die Cliffs of Moher sehen, die Halbinsel Dingle, Cork, Waterford und natürlich Dublin. Auf dem Busbahnhof entschied ich mich dafür, erst in den Westen zu fahren.

Also auf nach Galway, etwa dreieinhalb Stunden werden für die Strecke benötigt. Es war der 30. April 1995, als ich die Stadt erreichte.

In diversen Reiseführern kann man lesen, dass es außerhalb der Saison nicht schwer ist, B&B-Unterkünfte zu finden. Man brauche nur zu klingeln, und schon habe man ein Zimmer. In den meisten Fällen klappte das auch, aber nicht immer. Vom Busbahnhof aus lief ich mit meiner großen Reisetasche und der Video- und Fotoausrüstung suchend durch die Straßen. Irgendwann bekam ich Durst und sah einen Pub. Das Schild über dem Eingang offerierte zudem Bed & Breakfast. Nix wie rein, dachte ich mir, zunächst ‘a pint of Guinness’, und dann zum geschäftlichen Teil übergehen. Pech gehabt, B&B nur in der Sommersaison. Also weitersuchen. Zum guter Letzt – es war schon dunkel – kam ich in einem Hostel unter. Es war nur noch ein Schlafplatz in einem Vierbettzimmer frei. Ich wusste nicht, mit wem ich dieses teilte, aber mir war es egal, denn ich war reichlich geschafft. Am nächsten Morgen machte ich mich in aller Herrgottsfrühe auf die Socken – ohne Frühstück. Schade eigentlich, denn Galway soll sich lohnen. Vielleicht beim nächsten Mal.

Von Galway aus ging es mit dem Bus nach Ennis. Dort war zunächst einmal Schluss, denn es fuhr zu dieser Tageszeit kein Bus mehr zu den Cliffs of Moher. Ich versuchte mich den Iren anzupassen. Wie heißt es so schön: ‘Als Gott die Zeit erschuf, hat er viel davon gemacht.’ Oder so ähnlich. Hetzen im Urlaub? Gibt’s nicht!

Mit der Unterkunft in Ennis hatte ich Glück und brauchte nicht lange zu suchen. Wie einfach das doch ging! “I’m looking for a room. Any chance?” “No problem.” Ich sollte mir das Zimmer ansehen, wollte das Gepäck so lange unten stehen lassen. “Take it upstairs, please.” Der Preis für die Übernachtung mit irischem Frühstück war okay. Auch in Ennis blieb ich nur eine Nacht, da ich ja unbedingt zu den Klippen wollte.

Am nächsten Morgen machte ich mich gut gestärkt auf den kurzen Weg zum Busbahnhof. Der Bus fuhr aber nur bis Lahinch, gute 15 km von Doolin entfernt, das eigentliche Ziel meiner Reise. In einem Geschäft erkundigte ich mich nach einem ‘local bus’. “Den gibt es nur während der Saison”, verriet mir ein netter Mensch, doch da gebe es auch noch Privatunternehmen. Sprach’s und gab mir zwei Telefonnummern. Dass die Iren Zeit im Überfluss haben, merkte ich, nachdem ich mit Erfolg einen Wagen bestellt hatte. “Two minutes”, lautete die Antwort. Es dauerte fast zehnmal so lange. Warum sich darüber aufregen? Als Gott die Zeit schuf ... Aber das hatten wir ja schon.

Riverview B&B; © 1995 H.-P. DetznerDer Minibus – ein Sechssitzer – kam für mich allein. Der Fahrer war freundlich, fragte, woher ich käme. Als wir nach einer Weile durch eine herrliche Küstenlandschaft fuhren, erzählte er, dass wir jetzt auf den Klippen wären. Der O’Brien’s Tower kam in Sicht. “Sollen wir hinfahren, möchten Sie die Klippen sehen?” Ich verneinte und entgegnete, ich würde ein paar Tage bleiben und noch genügend Zeit dafür finden. “Wo soll ich Sie denn hinfahren? Hier oben in die Nähe der Klippen, oder ins Dorf Doolin? Wissen Sie schon, wo Sie übernachten wollen?” Ich wollte direkt nach Doolin, hatte aber noch keine Idee, wo ich bleiben sollte. Er gab eine Empfehlung und hielt direkt vor der Tür eines einfachen Hauses. “So, wir sind da.” Ich bedankte mich, nahm mein Gepäck, stand vor der Haustür und klingelte. Eine etwas ältere Frau öffnete, ich fragte nach einer Unterkunft. Sie schaute sich um. “Allein?” fragte sie. “Was mach ich denn da nur?” murmelte sie, “wo bringe ich Sie unter?” Schließlich zeigte sie mir ein Zweibettzimmer zur Alleinbenutzung. Ich fand es gemütlich, und für 10 Pfund mit irischem Frühstück war es recht günstig.

Nachdem ich meine Sachen ausgepackt und mich frischgemacht hatte, ging ich auf eine erste Erkundungstour rund ums Haus: einige Häuser, eine Brücke über einen Bach, ein steil ansteigender Weg. Oben stand so etwas wie eine Burgruine. Dann mündete der Weg in eine Straße, die, wie ich einen Tag später entdeckte, zu den Klippen von Moher führte. Ich ging wieder zurück und in Gegenrichtung weiter. Dort war er dann, der Atlantik. Schäumend brandete die Gischt gegen die Felsen. Ich verharrte etliche Minuten lang und ließ mir den Kopf vom Wind freipusten. Langsam versank die Sonne im Meer. Ich kehrte um und entdeckte drei Häuser und neben meinem B&B einen Pub. Ein Irlandaufenthalt ohne Pubs ist wie eine Suppe ohne Salz und ‘a real pint of Guinness’ besser als die 0,4 l-Gläser zu Hause. Einige Leute begannen Musik zu machen. Nur allzu vertraut waren mir die Jigs, Reels und Balladen, die ich da hörte. Schade nur, dass die Pubs so früh schließen. Aber morgen ist auch noch ein Tag.

Und was für einer! Erstaunlich warm war es. Die Sonne schien, aber es ging auch eine frische Brise. Genau das richtige Wetter, um die Cliffs of Moher zu erkunden. Also zunächst den steilen Weg hoch, dann an dem Turm vorbei, der von weitem wie eine Burgruine ausgesehen hatte, und schließlich auf die Straße. Es sollten fünf Kilometer bis zu den Klippen sein, las ich auf einem Wegweiser. Oder waren es fünf Meilen? Der Weg kam mir endlos lange vor. Trotzdem, es war es ein schöner Spaziergang. Unterwegs traf ich ein Pärchen mit dem gleichen Ziel, den Mann hatte ich schon am Vorabend im Pub gesehen. Er war Ire, sie Spanierin. Gemeinsam fiel der Weg leichter, und irgendwann hatten wir die Klippen erreicht.

Cliffs of Moher, © 1995 H.-P. DetznerEs war ein toller Anblick, auch wenn die berühmten Klippen an jenem Tag nicht klar und deutlich zu erkennen waren. Über 8 km erstrecken sie sich und fallen 200 m tief steil ins Meer. Man tut gut daran, sich auf dem Weg zu halten, obwohl es einige Touristen nicht lassen konnten, sich hinzulegen, über den Klippenrand zu schauen und Fotos zu machen.

Mir wurde schon schwindlig bei dem Gedanken – oder war mein Schwindelgefühl auf den Abend zuvor zurückzuführen?

Schließlich machte ich mich wieder auf den Rückweg, ging noch ans felsige Ufer, um einige Aufnahmen vom Sonnenuntergang auf den Film zu bannen. Danach, wie sollte es anders sein, kehrte ich auf ein paar ‘pints of the best’ in Gus O’Connor’s Pub ein.

Via Limerick nach Dingle

Nach drei Übernachtungen in Doolin ging es mit dem Bus weiter nach Limerick, wo ich nur eine Nacht blieb. Das Meeresrauschen noch im Ohr, nervte der Autoverkehrs. Es stimmt, was ein zu Hause gelesener Reiseführer schrieb: Limerick hat nicht viel zu bieten. Einziges Highlight war ein Musikwettbewerb in der Innenstadt. An mehreren Stellen wurden kleine Bühnen aufgebaut und Straßenmusiker gaben ihr Bestes. Meine Unterkunft über einem Pub war nicht gerade berauschend, doch Limerick sollte nur Zwischenstation sein, denn ich wollte weiter nach Dingle, natürlich wieder mit den inzwischen so vertrauten Expressway-Bussen.

Die Halbinsel Dingle mit dem Hauptort gleichen Namens darf man nicht missen! Ich stieg aus dem Bus, der in unmittelbarer Nähe des Hafens hielt. Schräg gegenüber sah ich an einem Pub ein B&B-Schild. Nicht nur hier fiel es mir auf, sondern während meines gesamten Irlandtrips: die bekannteste Brauerei der Grünen Insel ist eine Institution, kein Pub ohne ihre Werbung. ‘A Lovely Day For A Guinness’, stand an diesem. Genau das dachte ich mir auch und bestellte ein Pint. Mit der Unterkunft hatte ich hier allerdings kein Glück, bekam aber den Tipp, es bergauf ein paar Straßen weiter zu versuchen. Und dies tat ich dann auch und fand für weitere drei Nächte ein Bett nebst Frühstück. Bisher hatte ich mit dem Wetter Glück gehabt, konnte reichlich Filmen und Fotografieren. Wenige Meter von meiner Unterkunft entfernt stand eine Kirche, gegenüber der Kirche eine Kuriosität: Dick Mack’s Haberdashery, im Schaufenster allerlei alter Krimskram. Ich dachte an einen Antiquitätenladen.

Doch zunächst einmal marschierte ich weiter. Immer wieder kehrte ich zum Hafen zurück, wo die Fischerboote lagen und die Fischer ihre Netze zum Trocknen auslegten. Rundherum grüne Hügel, die ihre Gipfel in den Wolken versteckten. Ein Stück weiter eine Art Bretterverschlag, daran Plakate und selbstgemalte Schilder: Besuchen Sie Fungi, den Delphin! Dieser Delphin ist die Attraktion der Insel; er lebt schon eine ganze Weile in der Bucht und scheint die Menschen sehr zu mögen.

Weiter ging es durch die Straßen der Ortschaft, vorbei an Pubs, Restaurants, Geschäften. Ich entdeckte ein Hinweisschild mit der Aufschrift ‘Connor Pass Road’. Die gehst du jetzt ein Stück hoch, dachte ich mir. Um mich herum Wiesen und Hügel, die Häuser des Städtchens wurden immer kleiner. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich unterwegs war, aber es war herrlich. Ganz allein, nur ein paar Schafe auf der Wiese, dahinter die Hügel. Irgendwann musste ich umkehren, aber es fiel mir schwer, denn die Landschaft wurde immer beeindruckender. Und was ist, wenn einem hier etwas zustößt? Hier gibt es keinen, der helfen könnte. Gottseidank stieß mir nichts zu, und ich kam wieder heil in den Ort zurück.

Am späten Nachmittag begegnete ich einem Mann, der mich sofort in ein Gespräch verwickelte. Wo ich denn herkäme, ob ich hier Urlaub mache, usw. Er schwätzte ohne Unterlass, aber es war eine Abwechslung. Ob ich schon ein paar Pubs gesehen hätte? Und plötzlich standen wir vor Dick Mack’s Haberdashery. “Da gehen wir jetzt beide rein”, instruierte mich der Mann, “aber seien Sie bitte ganz still, sagen sie kein Wort.” Was dieses Theater sollte, wurde mir klar, als ich den Kramladen betrat. Ich war wirklich beeindruckt. Auf der einen Seite war es tatsächlich ein Laden, vollgestopft mit allerlei Kram, fast wie ein Museum. Auf der anderen Seite des Raumes aber war es ein Pub. Irgendwie gemütlich. “Na, wie ist es?” fragte mich der Mann. Ich konnte nur anerkennend nicken und “great” sagen.

Mein Pubführer unterhielt sich mit den Leuten, die ihn wohl nur zu gut kannten. Nach zwei, drei Pints gingen wir wieder, denn er wollte mir anscheinend noch mehr zeigen. Ich ging zwar mit, aber wurde langsam skeptisch. Als wir die nächste Kneipe betraten, erzählte er etwas von einem Schwulentreff oder dergleichen. Mit dem Wirt unterhielt er sich über Musik und Musikanlagen. Mich fragte er, was ich von den Lautsprechern halte, und wies auf unscheinbare Dinger, die eine unheimliche Dynamik hätten. Er habe zu Hause ähnliche, nur stärker. Dann war er von einem Moment zum anderen verschwunden. Mir kam die Sache allmählich komisch vor, und ich sah zu, dass ich wegkam.

Cork – Waterford

Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle, um meine nächste Station anzusteuern. Von Dingle über Tralee nach Cork sind es etwa drei Stunden Fahrt. Um mein Gepäck nicht weit tragen zu müssen, hatte ich bisher stets versucht, ein B&B in der Nähe des Busbahnhofs oder der Haltestelle zu finden, hier aber hatte ich Pech und musste ein schönes Stück laufen, um für drei Nächte ein Bett und das Frühstück zu bekommen. Dann schlug das Wetter plötzlich um. Anderthalb Tage nur Regen, was mich allerdings nicht davon abhielt, durch die Straßen der zweitgrößten Stadt der Republik zu spazieren: St. Finbarr’s Cathedral, Shandon, jener Stadtteil Corks, den das Lied ‘The Bells of Shandon’ berühmt gemacht hat, und eben alles, was die Reiseführer als ‘Muss’ für die Touristen anpreisen. Zwischendurch huschte ich immer wieder in einen Pub, um meine Kleidung zu trocknen und mich aufzuwärmen. Klar, alles ist schöner, wenn die Sonne scheint, aber kann man es sich aussuchen?

Viele der Folkgruppen aus meinem heimatlichen ‘favourite pub’ hatten mir ihre Adressen und Telefonnummern gegeben. Sie alle anzurufen, war des Guten zuviel, aber wenigstens ein paar wollte ich informieren und hatte dementsprechend meine Reiseroute gesteckt. Das nächste Ziel war Waterford im gleichnamigen County, dort wohnten einige der Musiker.

Am Busbahnhof angekommen, machte ich mich als erstes auf die Suche nach einer Unterkunft. Auf ins Zentrum! Zwar hatte ich schon ein bestimmtes Haus im Sinn, aber das mit dem Finden ist so eine Sache, und so entdeckte ich eher zufällig ein Hostel und buchte dort drei Übernachtungen. Dann erkundete ich die Stadt und rief meinen Bekannten Ben an. Wir vereinbarten ein Treffen mit den anderen Jungs der Gruppe, und, wie es nun mal bei Musikern so ist, hatten sie ‘ganz zufällig’ ihre Instrumente dabei. Da ich ohne meine Gitarre reiste, bei Irish Folk aber nicht ruhig bleiben kann, schlug ich mit dem Feuerzeug den Takt auf ein Guinness-Glas, was mir ein Freibier einbrachte. Die Jungs hielten mich frei, und jedes Mal, wenn ich bezahlen wollte, lehnten sie ab. Bei meinem nächsten Besuch bin ich aber dran, dachte ich mir. Hier in Waterford merkte ich zum ersten Mal, dass die irischen Pints größer sind als die Guinnesgläser in Deutschland. Gemessen an der Zahl der Gläser hatte ich die gleiche Menge intus wie sonst daheim, was aber den schwarzen Inhalt anging ... Was soll’s, a pint is a pint, isn’t it?

Am nächsten Tag holte mich Ben vom Hostel ab. Es war ein Sonntag, und wir besichtigten die 1873 gegründete Glasmanufaktur Waterford Crystal. Ben arbeitete dort, und so hatte ich die Gelegenheit, unter seiner sachkundigen Führung den gesamten Produktionsbetrieb kennen zu lernen. Ich durfte selbst Hand anlegen. “Er macht es besser als du”, ‘drohte’ Ben einem Arbeitskollegen, ”jetzt wirst du gefeuert!” Wenn man den langen Arbeitsprozess sieht und die vielen schönen Stücke im Ausstellungsraum, kann man verstehen, dass dieses Kristall seinen Preis hat. Abends dann ging es natürlich wieder einen Pub, diesmal aber nicht um mein Fassungsvermögen an Guinness zu testen, sondern um Ben, Pat und Pádraic live zu erleben. Wenn es auch fast das gleiche Programm wie in Deutschland war, hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Der Abschied fiel mir schwer.

In Dublin’s Fair City

Das letzte Ziel meines dreiwöchigen Aufenthalts, Dublin, erreichte ich nach einer ca. 2 ½-stündigen Fahrt mit dem Bus. Nachdem ich am Busbahnhof Waterford eingestiegen war, erlebte ich einige Haltestellen später eine kleine Überraschung. Pádraic, der Akkordeonspieler der Gruppe, stieg zu. Er hatte den ersten Bus verpasst, war auf dem Weg zum College. “That’s the rocky road to Dublin, isn’t it?”, meinte ich auf einen bekannten Song anspielend, als wir über ein etwas größeres Schlagloch fuhren. Pádraic lachte. Dann stieg er aus, wir sagten uns tschüß bis zum nächsten Mal in Deutschland, und ich fuhr weiter nach Dublin.

Clifton Court, © 1995 H.-P. DetznerDublin, die Hauptstadt der Republik Irland. Hier verbrachte ich den Rest meines Irlandaufenthalts. Es war die einzige Station, für die ich bereits von Deutschland aus eine Unterkunft gebucht hatte, denn die Manager meines ‘favourite pubs’ haben hier ein Hotel. Als Stammgast bekam ich einen Sonderpreis. Natürlich gehört zum Hotel auch ein Pub, der an meinem Wohnort mehr oder weniger nachgebaut worden war. Hier gab es ‘Live Music Seven Days A Week’. Ich war schon gespannt auf den Abend. Nachdem ich meine ersten Kilometer durch Dublin gelaufen war, kehrte ich ins Hotel zurück, setzte mich in Lanigan’s Music Bar und verkürzte mir die Wartezeit mit einem Guinness.

Ich hatte keine Ahnung, wer hier heute Abend auftreten würde, vielleicht gar Bekannte? Dann erschienen sie endlich. Und ob ich die Jungs kannte, ein großes Hallo, als man mich entdeckte! Wie lange ich schon in Dublin wäre, wie lange ich bliebe, usw. Es war wie in Waterford: in Irland klingen die Jungs einfach besser.

Dublin erkundet man am besten zu Fuß, da haben die Reiseführer Recht. So machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg, Irlands Kapitale zu durchstreifen. Trinity College, Four Courts, Grafton Street, Temple Bar ... Doch halt, ich will hier nicht wiederkäuen, was in jedem x-beliebigen Reisehandbuch steht. Klar, ich habe sie auch gelesen und so manchen Tipp bekommen, doch am besten entdeckt man ‘sein’ Irland selbst.

Busker, © 1995 H.-P. DetznerEs sind die kleinen Randerlebnisse, die mir immer wieder in den Sinn kommen, wie meine Begegnung mit dem Busker (Straßenmusiker) auf der Grafton Street. Schon von weitem hörte ich seine Stimme, die Stimme eines schwarzen Bluesmusikers. Als ich näher kam, war ich verdutzt. Ein Weißer unbestimmbaren Alters mit langem, etwas verfilztem Haar saß dort in Jeans und hohen schwarzen Schuhen vor einem Laden und spielte auf einer abgewetzten Gitarre.

Den Korpus hatte er mit Münzen aus aller Herren Länder beklebt, doch es war keine normale Gitarre. Er hatte sich eine ‘Piano-Gitarre’ gebaut, seine eigene Erfindung, erzählte er. Über dem Schallloch befand sich eine Art Klaviertastatur, und die Saiten wurden wie bei einem Klavier angeschlagen, nicht gezupft. Ich habe bestimmt zwei Stunden zugehört. ‘Hey, Joe’ von Jimi Hendrix und Bob Marleys ‘No Woman No Cry’, all das kam auf eine unvergleichbare Art rüber. Die Passanten bedachten ihn nicht nur mit Beifall, er sackte auch reichlich Geld ein.

Stonecross, © 1995 H.-P. DetznerWill man der Großstadt entfliehen, setzt man sich in die Dubliner S-Bahn D.A.R.T. und fährt nach Howth oder Bray. Schon ist man wieder am Meer und kann meilenweit wandern. Einer der mit mir befreundeten Musiker nahm mich in seinem Wagen mit in die Wicklow Mountains, nach Glendalough auf den alten Friedhof. Eine sagenhafte Kulisse! Es klingt makaber, aber hier wünscht man sich begraben zu sein!

Es ist schwer zu beschreiben, was ich von Dublin halte. Einerseits ist es eine Stadt, wie jede andere, mit all ihren guten und schlechten Seiten, andererseits schon etwas Besonderes. Am besten, man macht sich selbst ein Bild, so wie ich es getan habe und wieder tun werde.

Tschüß Irland, bis bald.

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© für die überarbeitete Fassung Jürgen Kullmann