Pigi’s kleine Geschichten

von Marie Louise Lagger

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Geschichten einer Geige

Hagel und Regen schlugen mir ins Gesicht. Ich rannte ins nahe Dorf und hatte nur noch einen Gedanken: mich ein wenig aufzuwärmen, einen heißen Whiskey zu trinken und mich an ein Torffeuer zu setzen. Die Straße war menschenleer, doch im kleinen Fenster des Dorf-Pubs brannte ein Licht. Gott sei Dank! Der Schatten einer Katze verschwand hinter einem greisen Schopf.

An Tulach, © H. Vogt-KullmannDie Tür flog mir mit einem lauten Knall aus der Hand. Ich trat schnell ein und stemmte mich gegen sie, um sie wieder zu schließen. Fragende Augenpaare sahen mich an. Sie gehörten zu einer kleine Gruppe Frauen und Männer, die schweigend am Feuer saßen. Ich grüßte freundlich, doch niemand erwiderte meinen Gruß. So bestellte ich eingeschüchtert einen heißen Whiskey und setzte mich in eine Ecke. Das Torffeuer verbreitete eine wohlige Wärme. Die Augen waren jetzt von mir abgewandt, aber noch immer sprach keiner ein Wort. Ob ich sie bei etwas gestört hatte? Der Sturm rüttelte am Hausdach und der Regen trommelte gegen die Fensterscheibe. Das Ticken der alten Standuhr schien lauter und lauter zu werden.

An der Bar saß ein alter Mann. Sein Gesicht war durchzogen von vielen kleinen Falten, von denen wohl jede eine Geschichte zu erzählen wusste. Seine großen Hände zeugten von harter Arbeit, doch seine Augen hatten die Farbe des Meeres und sein Blick schien sich in der Ferne zu verlieren. Eine Geige lag auf dem Tresen. Nach einer nicht enden wollenden Zeit brach der Mann das Schweigen und begann mit einer tiefen, flüsternden Stimme etwas zu erzählen, den Faden womöglich dort aufnehmend, wo er durch mein Hereinplatzen gerissen war. Die Menschen horchten ihm gespannt zu. Er sprach Gälisch. War es eine Geistergeschichte? Die Gruppe rückte enger zusammen.

Nach einer Weile nahm er die Geige zur Hand, seine Augen kreuzten die meinen und er lächelte. Und die Geige begann zu erzählen: von dunklen Moorlandschaften, verlassenen Häusern, einsamen Friedhöfen und von einem Stiefel, der am Strand lag. Bilder zogen an meinen Augen vorbei. Ich sah Feen und Trolle, einen Mann, der aus dem Moor zurückkehrte, jedes Jahr an Allerheiligen, von einem versunkenen Schiff, dessen Nebelhorn immer noch zu hören war. Dann verstummte die Geige, und er setzte seine Geschichte in Worten fort, während ich gebannt dasaß, obwohl ich kein Wort Gälisch verstand. Nach einer Weile wandte sich der Erzähler an mich und fragte: “Du sprichst keine Gälisch, nicht wahr?” “Nein, leider nicht”, erwiderte ich scheu. Er schmunzelte und sagte: “Aber – ich sehe es in deinen Augen – du verstehst die Sprache meiner Geige.” Ich nickte.

Die Zeit zerrann. Plötzlich schlug die alte Standuhr die zwölfte Stunde. Wir zuckten zusammen. Der alte Mann drehte sich um, legte die Finger an die Lippen und gebot der Uhr zu schweigen. Und sie gehorchte.

Donegal 1981

 
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© 2009 Marie Louise Lagger / Lektorat JK