Irisches Tagebuch 1997

Briefe aus Tullycross

7./8. Juni  9. Juni  10. Juni  11. Juni  12. Juni  13. Juni  2. Woche  3. Woche  Epilog  Weitere Berichte

 

Sonnabend/Sonntag, 7./8. Juni 1997

Hildegard an Gisela – 1st Letter From Home

Liebe Gisela – ich habe gerade Briefpapier und Umschläge gekauft, denn es gibt so viele Neuigkeiten zu berichten, dass sie nicht auf die Rückseite einer Ansichtskarte passen. So, und nun geht’s los:

Wir sind gut angekommen, fahren diesmal einen Vorjahreswagen vom Typ Opel Corsa, wie du prophezeit hast. Doch anders als der Uno, den uns Budget im Jahr des großen Regens zugewiesen hatte, ist er wasserdicht. Woraus du schließen kannst, dass es regnet. Der Corsa fährt sich ähnlich wie der Micra, den wir in Dingle hatten; im Vergleich zum Polo vom letzten Jahr fehlt jedoch das Gefühl, es handele sich um ein Auto. Der Kofferraum ist etwas klein geraten, doch da du nebst deinem Gepäck fehlst ...

Zwischen Oranmore und Galway ist die Schnellstraße verlängert worden und führt jetzt um die Stadt herum durch ein Industriegebiet. Zuerst haben wir die neue Streckenführung gar nicht erkannt, uns nur gewundert, wie sehr sich Galway in einem Jahr verändert hat, und diese Änderung dem keltischen Tiger in die Schuhe geschoben. Doch als wir dann bei dem großen Kreisel mit dem Dunne Store wieder auf die alte Straße stießen, war uns alles klar. Du erinnerst dich? – im letzten Jahr haben wir dort eingekauft.

Hier in den Cottages hat sich auch Einiges getan, vor allem bei uns in No. 1. Doch keine Angst von wegen Perfektionismus, alles ist typisch irisch geblieben. Der Wohnraum hat neue rot-grau-grün karierte Vorhänge bekommen. Die Wachstuchdecke ist auch neu, jedoch, wie bisher, rot-weiß kariert. Dann die Küche: alter Herd, neue Waschmaschine, neuer Kühlschrank mit extra Gefrierfach, neue Mikrowelle, neue Kaffeemaschine, neuer Wasserkocher, uralte Töpfe und eine noch urältere Bratpfanne. Neue Schränke in heller Kiefer, freundlich, aber ohne Rückwände und herrlich schief zusammengezimmert. Es fehlt eine Schublade für das Besteck; in der einzigen vorhandenen das übliche Küchengekrause. Man ahnt jedoch, dass man aus diesem Cottage ein echtes Schmuckstück machen könnte.

Des weiteren gibt es im Bad nun einen Wäschekorb. Das Schlafzimmer hat ein neues Fenster, einen fachkundigen Maler zum Streichen desselbigen gab es dann natürlich nicht – wer mit unserer Connemara-Erfahrung hätte das auch erwartet. So hat sich wohl der ehemalige Koch-Kellner von Veldon’s, vermutlich daselbst wegen Gästevergraulens gefeuert, bereitgefunden die Malerarbeiten durchzuführen. Leider versteht er davon genau so wenig wie von der Zubereitung von Lammkoteletts. Aber das ist hier halt so und irgendwie auch wunderbar.

Gestern Abend waren wir im Renvyle Inn. Frank und Charlie spielten, aber diesmal neben dem Kamin. Sie waren gewissermaßen die ‘Vorgruppe’, denn anschließend, so kurz nach Mitternacht, begann die Disko! Du hast richtig gelesen. Wir sind dann nach Hause gegangen und ich war hundemüde. Rose war übrigens auch da. Im September heiratet Kevin eine Schweizerin, das Mädchen haben wir kennen gelernt. Kevin wird dann seine Schwiegereltern zum ersten Mal sehen und ist schon ganz nervös ob dieser Begegnung – sagt Rose. Wenn ihr Glück habt und euren Reisezeitpunkt geschickt plant, könnt ihr die Hochzeit vielleicht miterleben. Wo sie genau stattfindet, wissen wir allerdings noch nicht.

So, das war’s für heute. Heute Abend spielen Kieran und Frank bei Sammon’s, da müssen wir nur über die Straße gehen. Doch vorher mache ich noch einen Mittagsschlaf.

Tschüüs und bis demnächst, Hildegard”
 

Ergänzung des Chronisten

Am Abend dann also bei Sammon’s im Angler’s Rest. Sehr voll und sehr laut ist es, denn am Nachmittag fand auf der Wiese hinter der Marion Hall das Endspiel eines Gaelic-Football-Turniers statt und nun wird ausgiebig gefeiert. Und trotz der Anpassung unserer Musikanten an den Geschmack des jugendlichen Publikums gelingt es ihnen, den einen oder anderen unserer ‘Favourites’ unterzubringen. Das heißt, manchmal sind die Geschmäcker gar nicht so verschieden: ein junger Mann in unserer Ecke ist jedenfalls ganz begeistert von Only Our Rivers Run Free.

Nach der Nationalhymne ein kleiner Plausch mit Frank und Kieran, derweil sie ihre Sachen einpacken. Möglicherweise darf Gerald, der Sohn des legendären Paddy Coyne, seinen Pub nach drei langen Jahren in der kommenden Woche wieder öffnen. Und morgen spielt Kieran mit seinem Vater Johnnie in Lounge von Barry’s Hotel in Clifden. Da müssen wir hin!

Zum Seitenanfang

 
sheep

Montag, 9. Juni 1997

Zwischenbericht des Chronisten

So gegen zehn springe ich zu Brian rüber, hole mir die Zeitung und werfe im Laden einen Blick auf die Wahlergebnisse. Der letzte der 166 Sitze des neugewählten irischen Parlaments (Dáil) ist zwar noch nicht ausgezählt – schließlich war die Wahl erst am Freitag –, doch wird Häuptling John Bruton das Amt des Taoiseachs wohl an Bertie Ahern abgeben müssen, der zwar auch keine Mehrheit haben wird, jedoch auf die Stimmen der meisten der 7 (?) unabhängigen TDs bauen kann. TD ist die Abkürzung für Teachta Dála, auf Deutsch ‘Mitglied des Parlaments’. “Bad election”, Scheißwahl, meint Brian, offensichtlich kein Freund der ‘Krieger Irlands’ bzw. Fianna Fáil, wie sich Berties Partei nennt.

Red Sky Near Clifden, © Paul GuilfoyleAm Abend fahren wir nach Clifden und ein Stück die Sky Road bzw. ‘Himmelsstraße’ hoch, die am hafenseitigen Ortsausgang beginnt und sich am Berg um die Halbinsel zieht. Eine in den Hang gekerbte Piste, schreibt Franz Rappel, und gegen Abend hat man von ihr einen herrlichen Blick auf die tiefblaue Bucht mit den vorgelagerten Felsschären. Doch ganz herum wollen wir heute nicht. Nach ein paar Kilometern bleiben wir an einem Gatter stehen, klettern hinüber und gehen ein Stück die Wiese hinunter. Hier genießen wir vor der untergehenden Sonne und der glitzernden Bucht einen traumhaften Blick auf die Ruine des Clifden Castle, den offensichtlich noch kein Postkartenfotograf entdeckt hat. Nur dass ich meine Fotoausrüstung nicht dabei habe, denn eigentlich wollten wir direkt in die Stadt zu Johnnie und Kieran, die heute in Barry’s Hotel spielen! Doch mehr dazu in dem folgenden Brief meines Mädchens.

Zum Seitenanfang

 
sheep

Dienstag, 10. Juni 1997

Hildegard an Gisela – 2nd Letter From Home

Liebe Gisela – es ist mild und diesig und ein leichter Regen fällt. Wir haben uns gerade mit Pandacreme auf Ciabatta (schreibt man das so, dieses italienische Brot aus Walsh’s Bäckerei in Clifden?) gestärkt, da will ich dir noch rasch ein paar Zeilen schreiben.

Also, Bratpfannen sind am billigsten im SuperValu in Clifden. Auch die bei Veldon’s in Letterfrack schneiden im Preisvergleich ganz gut ab. Wir haben unsere jedoch, bevor wir das wussten, arg teuer in einem Clifdener Haushaltswarenladen erstanden. Dafür ist sie sicherlich auch besser!? Doch eigentlich muss sie ja nur drei Wochen halten, denn unsere vom letzten Jahr ist schon nicht mehr da.

Eine wichtige Neuigkeit: Es kann sein, dass das Paddy Coyne’s nächste Woche wieder aufmacht. Morgen oder so tagt das Gericht, das zu beschließen hat, ob der Sohn des seligen Paddy nach gewissen Problemen mit der Steuerbehörde hinreichend geläutert und für die verantwortungsvolle Tätigkeit eines Pubkeepers wieder tragbar ist. Die Meinung der Dorfbevölkerung ist einhellig: sollten die Daumen nach oben zeigen, so findet hier nächste Woche eine Riesenparty statt.

Woher wir das wissen? Von Johnnie, denn gestern Abend trafen wir ihn in Kevin Barrys Hotelbar in Clifden. Johnnie war außer sich vor Freude, als er uns sah! Toll, wie er mit seinen fast 77 Jahren noch an drei Nächten in der Woche auf seiner Fiddle spielt. Das Motto Guinness makes you strong stimmt wohl tatsächlich!

Nach zwei gesellschaftlichen Ereignissen und durchzechten Nächten haben wir dann heute einen ‘Hillwalk’ unternommen, allerdings auf halbem Wege beschlossen, dass ein solcher Hügelspaziergang auch am Fuße eines Hügels stattfinden kann. Denn ohne Wegmarkierung einen grasigen, steinigen Hang hinauf und bei Nieselregen wieder hinunterzustapfen, ist nicht allzu spaßig. Der Travelling-Crippleshop* lässt grüßen. Ich auch, vielleicht schreib ich morgen mehr.

Hildegard”

* Dies muss vielleicht erklärt werden. Einmal wöchentlich kommt die Travelling Bank of Ireland nach Renvyle, denn wer kein Auto besitzt oder sich ins 15 km entfernte Clifden mitnehmen lässt, hat keine Chance irgendwelche Geldgeschäfte zu erledigen. Und wer vom Berg fällt und sich ein Bein oder sonst was bricht, hat keinerlei Chance sich vor Ort verarzten zu lassen, denn das nächste Röntgengerät steht im 80 km entfernten Galway. Und so ward vor einigen Jahren in den Köpfen gewisser Irlandtouristen das Phantasiegebilde eines Travelling Crippleshop of Connemara geboren, der röntgt und gipst und anschließend gleich die erforderlichen Krücken ausgibt. [Anmerkung des Chronisten]

Zum Seitenanfang

 
sheep

Mittwoch, 11. Juni 1997

Hildegard an Gisela – 3rd Letter From Home

Liebe Gisela – Ganz neue Informationen! Gerard Coyne öffnet am Montag nach drei Jahren Zwangspause wieder das Paddy Coyne’s. Du weißt schon, den Dorfpub, den er von seinem verstorbenen Vater geerbt hat. Ob sich Patrick Sammons auch darüber freut? Wie dem auch sei, auf jeden Fall feierte man das Ereignis gestern Abend in seinem Angler’s Rest schon einmal vor. Bei der Gelegenheit erfuhren wir, dass unser Nachbar, der Undertaker, Gerards älterer Bruder ist und Noel heißt. Mann-o-mann, da konntest du aber einen glücklichen Bestatter sehen!

Er zu uns: “Ich bin euer Nachbar und wohne neben euch. Ich heiße Noel und wie heißt ihr ... ?” Händeschütteln, Grinsen und Prosten – als ob wir nicht schon seit Jahren wüssten, dass er unser Nachbar ist! Na ja, und dann erzählte er, dass er Geralds Bruder ist. Das heißt, zunächst verstanden wir, er sei sein Vater, denn als er unsere Frage nach der Verwandtschaft mit “the same father” beantwortete, hörte sich das wie “I’m the father” an. Ob’s am Guinness oder unserer mangelnden Sprachfertigkeit liegt, sei dahingestellt – das Erste wäre wohl schmeichelhafter, das Zweite ist jedoch wahrscheinlicher. Doch Johnnie klärte das Missverständnis am nächsten Tag auf.

Noel hatte einen gitarrespielenden Freund aus Limerick mitgebracht, der am Montag für die Musik sorgen soll. So viele Menschen, wie dann ins Paddy Coyne’s kommen, hätte die Welt noch nicht gesehen, sagt Noel. Im Übrigen scheint seinem gitarrespielenden Freund der Coyne-Clan nicht unbekannt zu sein, denn als er Phil am Tresen stehen sah, gelang es ihm, ihn zu einem Lied zu überreden, was bekannterweise alles andere als einfach ist. Ganz ohne Begleitung, und es wurde so ruhig, dass man einen Bierdeckel hätte fallen hören können. Normalerweise quatschen hier ja alle weiter, wenn jemand zu musizieren anfängt. Schade, dass Phil nicht weiß, wie gut er singen kann. Oder ob er’s doch weiß? Du erinnerst dich an die alten Tonband-Kassetten, auf denen er a cappella singt? Skibbereen und The Bogs of Shanaheever.

Heute morgen hat es wieder geregnet und wir waren in Westport einkaufen. In einer Art Gallery habe ich zwei Aquarelle erstanden und Jürgen einen Prospekt der Künstlerin mitgehen lassen. Sie heißt Brigitte Dingsbums-Neumann und ist gebürtige Dortmunderin. Und ich kaufe hier ihre Bilder!!! Hmm, sie (die Bilder) sind trotzdem ganz hübsch. Das Wetter besserte sich anschließend und auf dem Heimweg kam bei Kylemore sogar die Sonne raus.

Kylemore Lough,   P. Guilfoyle
Paul Guilfoyle: Kylmore Lough

Schließlich sind wir auch deine Anzahlung für September losgeworden. War aber gar nicht so einfach! Denn entweder können die hier keine Faxe lesen, oder du nur bedingt Faxe verschicken. Sie hatten keine Adresse auf dem Fax gefunden und es nicht zuordnen können! Unser Adressbüchlein konnte jedoch weiterhelfen, denn auswendig wussten wir auch nicht, wo du wohnst. Jürgen hat deine Reservierung auf einem 1×2 m großen Kalender kontrolliert und dich anschließend auf unserem Bild an der Bürowand (wir drei vor dem Torffeuer) identifiziert. Jetzt dürfte allen klar sein, wer du bist.

Gut, dass ihr nicht das ‘White Heather’ gebucht habt. Gewiss, ein hübsches Cottage, doch die Sache wäre ganz schön mühsam geworden. Ich habe die Zeit gestoppt: Man läuft 25 Minuten den Berg zu Brians Shop und den Pubs hoch – ab Montag sind’s ja wieder zwei. Ganz zu Schweigen von der Entfernung zum Renvyle Inn, wo Frank und Charlie samstagnachts Musik machen. – Doch heute Nacht läuft hier nichts mehr, und ich sage (mit Jürgens Hilfe) oíche mhaith. Nächste Woche schreibe ich wieder.

Hildegard”

Zum Seitenanfang

 
sheep

Donnerstag, 12. Juni 1997

Der Chronist fährt fort

Ein bewölkter und diesiger Tag in Connemara. Ich hole mir bei Brian die Zeitung. Im Bezirk Dublin East läuft noch die Nachzählung für den letzten der 166 Sitze des Parlaments, und die Wahlkommission hat Vergrößerungsgläser angefordert. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass Bertie neuer Taoiseach wird. Dabei hat die Partei des bisherigen Häuptlings John sogar zugelegt, doch für seinen Koalitionspartner, die Irish Labour Party, gab es ein Desaster. Ihr Stimmenanteil ging von fast 20 auf unter 11 % zurück. Armer Dick!*

Wir fahren nach Cleggan und lassen das Auto am Hafen stehen, von wo aus uns ein Weg parallel zur Küste zum Sandstrand der Sellerna Bay bringen soll. Ein schwarz-weiß gefleckter Hund schließt sich uns an – das heißt, er läuft voraus und schaut sich immer wieder um, ob wir folgen.

Da kommt aus dem Hof einer Farm ein kleiner, boshafter Minikläffer geschossen und macht uns an. Und unser hüfthoher Begleiter? Statt das Mistvieh am Genick zu packen und in die Büsche zu schleudern, sucht er bei uns Schutz! Irgendwie kommen wir drei dann doch an dem Angeber vorbei, beschließen allerdings, das Anwesen auf dem Rückweg weiträumig zu meiden.

Die weiteren Abenteuer mit weniger hartnäckigen Bell-und-beiß-Maschinen übergehe ich, ebenso die Hartnäckigkeit, mit der unser Begleiter uns zum Stöckchen-Schmeißen zu animieren versucht. Und schließlich begleitet er uns auf unserem Weg zurück.

Ich erinnere mich, dass die Kinder von Bullerbü zwecks irgendeiner Erkenntnisgewinnung zur Mittsommernacht über sieben Zäune klettern mussten. Und Zäune gibt es genug, wenn man das Reich eines kleinen Kläffers zu meiden versucht. Die Erkenntnis, zu der wir gelangen: irische Hunde meistern solche Hindernisse sehr viel souveräner als Touristen. Doch trotz aller Hürden kommen wir heil an der Pier von Cleggan an und stärken uns bei Oliver Coyne mit Muscheln und geräuchertem Makrelensalat.

Am Nachmittag suchen wir auf der gegenüberliegenden Seite der Cleggan Bay einen Standing Stone, finden aber nur ein ‘Standing Stönchen’ – wenn’s denn eines ist. Diese prähistorischen Stehenden Steine findet man auf allen Karten und in allen Reiseführern, nie jedoch in der Realität. In der Ferne auf einem Hügel sehen wir zwar etwas, was man mit viel gutem Willen für einen solchen halten könnte, doch da wir uns der Sache nicht sicher sind und schon oft genug genarrt fühlten, ist uns diese Ferne zu fern.

Und nun ist Abend und wir sitzen im Angler’s Rest. Music by the Coasters to-night, steht auf einem Plakat an der Wand. Die Coasters? Das müssen wir uns nicht antun! So schreibe ich rasch diese Zeilen zu Ende und wir ziehen uns ins Cottage zurück. Morgen geht’s nach Athenry.

* Dick Springs, amtierender Tánaiste (stellvertretender Regierungschef) und Vorsitzender der Irish Labour Party.

Zum Seitenanfang

 
sheep

Freitag, 13. Juni 1997

‘Low lie the fields of Athenry,
Where once we watched the small free birds fly’

Oft schon haben wir diese Zeilen gehört – und uns ebenso oft gefragt, ob dieses Deportiertenlied aus der Zeit der großen Hungersnot nicht eine arge Schnulze ist. Immerhin hat Kieran es im Programm, ein Mann, der soviel Niveau hat, dass ihn selbst die schönsten Touristinnenaugen und das verlockendste Guinness nicht zum Singen von ‘Danny Boy’ bewegen können. Vielleicht hängt es auch davon ab, wer das Lied singt. Heute wollen wir uns diese Felder einmal ansehen.

Bis Maam Cross nehmen wir ein holländisches Trecking-Pärchen mit, das zu den Aran Inseln will. Wir warnen sie vor der Touristenjagd auf dem Fähranleger von Inishmore und fahren weiter unseres Weges.

Athenry liegt einige Meilen abseits der Straße von Galway nach Dublin, hat einen Bahnhof und ist von Galway aus mit dem Zug in 14 Minuten erreichbar. Doch leider verkehrt der Zug nur dreimal am Tag. So fahren wir mit dem Auto durch die grünen Weiden von Athenry, stimmen

‘Our love was on the wing,
We had dreams and songs to sing,
It’s so lonely round the
Fields of Athenry’

an und stellen fest, dass es mit dem Singen ganz gut klappt, wenn ansonsten keiner zuhört. Und in der Tat, diese fruchtbaren Weiden sind nicht zu vergleichen mit den buckeligen Grasflächen Connemaras, für die trotz allem unser Herz schlägt.

Athenry CastleAthenry selbst ist ein hübsches Städtchen, erinnert in seinen Proportionen ein wenig an Clifden. Doch wenn es auch 600 Jahre älter ist, sieht man nur wenig davon. Kaum historische Bausubstanz, abgesehen von der Ruine der Kathedrale und Athenry Castle. Baile Átha an Rí, Ort an der Furt des Königs, lautet der irische Name der Stadt aus dem 13ten Jahrhundert. Aus ‘Átha an Rí’ ist dann im Englischen ‘Athenry’ geworden. Das Schloss hat die letzten sieben Jahrhunderte erstaunlich gut überstanden und vor fünf Jahren vom OPW (Office of Public Works) ein neues Dach spendiert bekommen. Seit drei Wochen ist es für Besucher geöffnet, heute sind wir die einzigen. Zwei vom OPW angestellte Schlossbewacher für zwei Touristen, für die man zum Preis von IR£ 2.00 pro Nase eine Führung und audiovisuelle Diashow auf die Beine stellt: wenn das kein Service ist!

Man darf so ein westirisches ‘Castle’ nicht mit deutschen Schlössern oder Burgen vergleichen, eher schon mit Wehrtürmen, wobei die Grundfläche recht groß sein kann. Der Eingang befindet sich in der Regel im ersten Stock und ist über eine Leiter erreichbar. Doch die bleibt uns hier erspart, denn eine Treppe neueren Datums führt zum Eingang im ersten Stock des wuchtigen, dreistöckigen Gebäudes, das noch umgeben von den Resten einer starken Steinmauer ist. Ursprünglich waren es nur zwei Stockwerke, und auch der Giebel ist ein paar hundert Jahre jünger. Durch eine gotische Pforte im ersten Stock betreten wir die Hall, in der sich das Schlossleben abspielte. Unsere Führerin weist darauf hin, dass es keine Feuerstelle gibt. Man vermutet, dass zum Kochen in der Mitte der fensterlosen zweiten Etage ein Feuer entfacht wurde und der Rauch durch ein Loch in der Decke abzog. Dafür hat der in einem Erker befindliche Abort ein Loch nach unten. Wer wollte da nicht Schlossherrin oder Schlossfräulein sein!

Nach einem Imbiss in einem Pub geht’s via Galway nach Hause zurück. Ein kurzer Zwischenstopp im Crystal Heritage Centre, wo die Führung nebst Multivisions-Show nur IR£ 1.00 pro Nase kostet, aber auch nur halb so instruktiv und verständlich wie die in Athenry ist.

* * *

Beim Abendessen in Veldons Bar macht uns Anne Jack mit Butcher Bob bekannt, dem Metzger des Dorfes, der mit ihrer Schwester verheiratet ist. Der weiß, dass die Wiedereröffnung von Paddy Coyne’s auf Mittwoch verschoben wurde. “Too much work ahead”, noch zuviel zu tun, meint Anne, doch der Hauptgrund dürfte sein, dass der Guinness-Wagen erst am Dienstag seine Runde durch Connemara macht.

Wir machen unsere Runde und wandern die paar Schritte über die Straße in Molly’s Bar, wo heute Abend Livemusik angesagt ist. Freundliche Begrüßung durch Sally, doch wie es aussieht, investiert sie nicht mehr viel in ihren Pub. Von Jahr zu Jahr wirkt er heruntergekommener. Vielleicht stimmt ja das Gerücht, dass sie verkaufen will. Egal, wir sind nicht wegen der Einrichtung sondern wegen der Musik da, und nachdem wir in der ersten halben Stunde Frank & Kierans einziges Publikum waren, wird es bis Mitternacht noch recht voll.

 
sheep sheep

top down


Reiseberichte Irland: Connemara, Galway und Mayo 1997
© 2000 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 12.05.2006