Irisches Tagebuch 1997

Briefe aus Tullycross

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September 1997. Zehn Wochen sind es her, dass wir aus Tullycross abgereist sind, die Wochen bis zu unserer nächsten Reise noch ungezählt. Es klingelt unten an der Tür. “Post!” ruft der Postmann und legt einen Brief auf die Treppenstufe. Es ist ...

 

Giselas erster Brief

Logbuch des Cottage Nr. 3
Tullycross, Sternzeit: Montag 7. 9. 1997, 0.35 Uhr

Begegnung mit den Außerirdischen: Um 22.00 Uhr am gestrigen Abend erfolgte die Invasion der Coyne-Familie. Links neben mir Johnnie, auf der Bühne Frank und Kieran. Zunächst Befremden und Erstaunen: Was macht die denn alleine hier, beziehungsweise in ganz anderer Begleitung? Nach drei Pints Verbrüderung auf offener Szene: “Habe doch gleich gedacht dich zu kennen, aber wo sind ... ?” Ich richte eure Grüße aus und Johnnie greift zu einem Umschlag: “Habe gerade die Fotos, die sie mir geschickt haben* meiner Schwester und einer Bekannten (Pat aus Dublin) gezeigt!” Die Bilder, in einem Kodak-Kuvert, liegen unten im Geigenkasten, sind also genau so wichtig wie Fiedel und Bogen. “Loveley people, the Kullmanns”, fährt er fort. Man träfe ja mancherlei Volk, doch diese beiden seien schon eine besondere Spezie.

Ich frage nach künftigen ‘performences’. Ja, man spiele mit Kieran in Clifden, ’mal in Barry’s Hotel, ’mal in der Central Bar. Und dann und wann hier im Angler’s Rest. Erinnerungen kommen auf – an den ersten Abend, unseren ersten Abend mit den Coynes Anno ’92! Auch diesmal rechts neben uns Nora, dann die Spitznäsige und Paddy, ihr wisst schon, wen ich meine. Dann meine Mitreisende Brigitte und ich, links von uns Johnnie mit Begleitung. Auf der Bühne, wenn man die Ecke an der Tür zum Hof so nennen darf, Frank und Kieran. Der ewige Zwiespalt: wer ist der Bessere? Als Musiker ist Frank vielseitiger, doch Kieran singt besser, meint Brigitte. Aber kennt sie Boulavogue von Frank??? Jetzt singt er The Green Fields of France, angestrengt, aber auch zart und schön.

Wir lösen die Frage anders und einigen uns auf Johnnie, den Urvater unserer Coynes: liebenswert, unverdorben, charmant und einfach süß. Das Alter spielt bei diesen Überlegungen keine Rolle, da alles nur Theorie! Ich bin offen zu Brigitte, sie versteht nicht alles, amüsiert sich vielleicht auch über mein ‘Coyne-Feeling’, aber das ist mir egal, denn in dieser Nacht bin ich zu Hause angekommen!

* Johnnie mit seinen tanzenden Großnichten, s. 22. Juni.

 
Zum bisherigen Verlauf:

1. Reinfall: Ich bekomme den letzten Fensterplatz im Flugzeug – nur dass es in unserer Reihe kein Fenster gibt, statt dessen die Flugzeugwand, von einer dünnen Eisschicht überzogen. Das kommt davon, wenn man nicht auf Aer Lingus baut!

2. Reinfall: Wir bekommen keinen Kleinwagen, sondern ein unhandlicheres größeres, vor allem breiteres Modell (Citroen ZX). Ob man damit noch einem entgegenkommenden Milchwagen auf der Lettergesh Road ausweichen kann? Wir werden sehen!

3. Reinfall: Haha, von wegen Cottage No. 1, wir heißen halt nicht Hildegard & Jürgen! Mit Nummer 3 müssen wir vorlieb nehmen: Kein neues Besteck, Bratpfannen aus keltischen Tagen, die schon die Runde durch alle Cottages gemacht haben und in Nr. 3 ihren Lebensabend fristen. Keine Kaffeemaschine (die ich inzwischen aber eingeklagt habe), keine neuen Vorhänge und, was das Schrecklichste ist, KEINEN BLICK AUF BRIANS SHOP, wir sehen nicht, wer dort ein und ausgeht!

4. Reinfall: Bereits um 21 Uhr ist es stockfinster! Dann beinahe der

5. Reinfall: Keine Musik im Renvyle Inn an unserem Ankunftstag. Na ja, man ist sowieso müde ... doch auch kein Schild Music Tonight über dem Angler’s Rest am Sonntag! Aus purer Verzweiflung fahren wir nach Clifden: Tote Hose dort, kaum Touristen (was an sich nicht schlecht sein muss), doch nur in einer Bar gibt es Musik. Tina & Friends, nicht unser Fall, ich glaub’ ihr kennt sie auch! Zurück nach Tullycross, ein Blick aufs Angler’s Rest. Frank und Kieran packen gerade ihre Instrumente aus! Gerettet! Gerettet!! God save the Queen!!!

Frank begrüßt mich von der ‘Bühne’ her offiziell als ‘Schicksela aus Schörmenie’ und stellt mich als Christy-Moore-Fan vor – das habe ich wohl euch zu verdanken. Zwei Lieder für mich, Nancy Spain und ... ???, oho, das Guinness fordert die grauen Zellen. Übrigens, Kieran singt mein Lieblingslied, das mit den Stiefeln, ich hatte es im letzten Jahr einmal von ihm requested. Zufall? Oder wusste er es noch? Ich bilde mir jetzt einfach ein, dass es kein Zufall war. Und Brigitte kennt das Wort request nicht, wo ich doch immer so neidisch auf ihr Englisch bin! Ob sie wirklich schon einmal in einem Pub war?

Ausblick: Das Wetter soll gut bleiben, Musik in Clifden gesichert, hoffe auf den nächsten Sonntag. Atmosphäre im Cottage gut, haben viel gelacht und bisher keinen Stress miteinander gehabt. Die Wellenlänge stimmt, kein Kinderlandverschickungssyndrom. Mein Bett im Schlafzimmer ist brauchbar, viel Platz für meinen Körper, was will ich mehr!

Sláinte mhaith, ihr beiden,
Gisela

P.S.: Ach ja, etwas Neues: Das Restaurant am Ortseingang gibt es nicht mehr, aber neben dem Angler’s Rest, d. h. zwei Häuser weiter (in Richtung Tully, also nicht beim früheren Metzger), hat das Cottage Café eröffnet. Ich weiß nicht, wie es früher dort aussah; jetzt ist es ein kleines Haus mit einem kleinen Speiseraum. Angebot wie üblich: Chicken Kiev, Lassagne ... Muss Näheres noch herausfinden!

P.P.S.: Wo steckt *** ??? Ist ihm die Farbe für die Haare ausgegangen?

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Giselas zweiter Brief

Logbuch des Cottage Nr. 3
Tullycross, 11. 9. 1997

Nur langsam erhole ich mich von den Ereignissen, die meinen Glauben an die Existenz von guten, braven irischen Musikern erschüttert haben: unser Freund *** war am Dienstag schon zu Beginn seines musikalischen Auftritts derart betrunken, dass er mit glasigen Augen, lallender Stimme und Gitarre in seiner Ecke saß. Er sang zwar noch, hat aber an jenem Abend nie das erreicht, wozu er fähig gewesen wäre. Glücklicherweise waren es nicht The Green Fields of France oder andere Anti-War-Songs!

Dass es so weit kommen musste! Aber natürlich bin ich bereit ihm zu verzeihen und ihn wie den verlorenen Sohn in meine Arme zu schließen, sollte ich ihm während dieses Urlaubs noch einmal nüchtern und in guter Form erleben. Ob es dazu kommt, ist eine andere Frage, wo doch meine Urlaubsbegleitung bisher nicht allzu sehr für meine musikalischen Freunde zu begeistern ist. Was nicht verwunderlich ist, angesichts des obigen Ereignisses. Ich glaube, sie hält mich für ziemlich verrückt, was meine Vorliebe für Tullycross und seine Bewohner betrifft.

Auch auf das Cottage ist Brigitte nicht allzu gut zu sprechen; dabei hat Anne Jack sofort eine Kaffeemaschine organisiert und für einen zweiten Schlüssel gesorgt. Brigitte übernachtet in jener Zelle des Cottage, die wohlmeinende Menschen als Kinderzimmer bezeichnen, und das ist wohl eine Weile nicht benutzt worden und etwas feucht. Doch ist das nicht der Grundzustand aller irischen Cottages? Und schließlich haben wir neben unserem Torfkamin auch noch eine Heizung!

Alles Weltanschauung! Connemara ist mein Irland und ihres vielleicht ein anderes. Nichtsdestotrotz: wir verstehen uns gut!

*  *  *

Gestern ein literarischer Hochgenuss im Paddy Coyne’s: Seán Coyne und Rosaleen Knowland spielten Gogarty’s House, eine Dramatisierung der Geschichte des heutigen Renvyle House Hotels von den Zeiten der legendären Grace O’Malley bis zum Jahr 1917. Wie Seán in die Ahnentafel der ‘Coynes of Renvyle’ passt, habe ich noch nicht herausgefunden*. Ein bisschen erinnert er an Noel, den Beerdiger, dem ich bisher die meisten schöngeistigen Neigungen zugetraut habe, aber hauptsächlich wegen seiner grauen Haare. Ansonsten ist er eher stämmig mit einem etwas ovalen Gesicht. Ende Vierzig, würde ich sagen.

Die älteren Dorfbewohner waren bei dieser literarischen Darbietung eher in der Minderheit, aber es war viel junges Volk im Pub. Anschließend gab es Musik und Tanz. Das Mädchen, das im letzten Jahr bei den Coasters Banjo gespielt hat, trat mit einem singenden Gitarristen auf, der etwas hinkte. Und dann kam Jackie Coyne, um dem Volk das Tanzen beizubringen. Anne Jack hat sich für die Übungen zur Verfügung gestellt und ihre Sache hervorragend gemacht!

Heute waren wir in Foxford und Knock – keine Sorge, ich werde euch nicht mit einer mit Weihwasser gefüllten Plastikmadonna beglücken. Wisst ihr eigentlich, wie es ist, wenn man als verantwortliche Fahrerin behauptet, das Benzin würde noch problemlos bis Renvyle reichen und sich die Nadel auf der Anzeige zwanzig Kilometer vor Leenaun in den negativen Bereich hineinbewegt? Und man sich immer unsicherer wird, ob es in Leenaun überhaupt eine Tankstelle gibt? Zum Glück tat die alte Zapfsäule vor dem Pub so, als sei sie eine, und unser Auto schluckte, was sie hergab.

Ansonsten ist die Stimmung recht gut, wenngleich Brigitte meine Tullymanie nicht verstehen kann. Samstag soll’s Musik im Renvyle Inn geben, mit Frank und Charlie O’Malley, würde Charlie gerne mal wiedersehen. Und wenn sich dann nächste Woche in Clifden auch noch *** bemüht den miesen Eindruck vom letzten Dienstag zu verbessern und das Wetter einigermaßen anständig bleibt, dann kann uns nichts mehr passieren.

Soweit für heute und einen schönen Urlaub
Gisela

* Seán ist der vierte Sohn des legendären Paddy Coyne, dem früheren ‘König von Tullycross’.

 
Giselas Antwort auf eine Anfrage:

Hallo, Jürgen, natürlich bist Du berechtigt, meine Briefe zu veröffentlichen, sofern kein Bewohner von Tullycross oder sonst wer daran Anstoß nehmen kann. Habe ich denn überhaupt Briefe geschrieben? Na, ist ja auch egal. Jedenfalls ist es ist mir sogar eine große Ehre, auf diese Weise verewigt zu werden.

Kann man nicht irgendetwas einarbeiten, woraus sich ergibt, dass man (= ich) noch auf der Suche nach einem netten Wesen ist der, die oder das auch gerne nach Irland fährt? ... Wer Deine Reiseberichte aufmerksam gelesen hat, hat ja auch einiges über mich erfahren, vielleicht gibt es einen netten Interessenten ... Oder soll ich doch lieber nach Lisdoonvarna fahren?

Alles Gute
G.

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Weitere Reiseberichte


Reiseberichte Irland: Connemara, Galway und Mayo 1997
© 2000 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 18.05.2006