Irisches Tagebuch 1998

Inmitten der Stille

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Here I rest, the jaded citydweller
Thanking the fates for the stroke of good luck
That allows me to pause from the turmoil of life
To cherish the beauty and peace of Salruck.

Hier raste ich, ich ausgelaugter Stadtbewohner
Danke dem Himmel für das Glück,
Das mich pausen lässt vom Aufruhr des Lebens
Zu umkosen die Schönheit und den Frieden von Salruck.

Eileen Coyne,
Letterfrack Writers Group

 
Sonnabend, 6. Juni 1998

Es ist bereits nach sieben, als wir Uachtar Ard, das Tor zu Connemara, passieren. Es regnet schon längst nicht mehr und zwischen den dunklen Wolken am blauen Abendhimmel finden ein paar Sonnenstrahlen den Weg zur Erde und durchdringen das Grün der Wiesen. Hinter An Teach Dóite tauchen rechts die Twelve Bens auf, urplötzlich aufleuchtend in der Abendsonne.

Over Lough Derryclare, © P. GuilfoyleAn Teach Dóite, hier brannte vor 150 Jahren eine Postkutschenstation ab, was dem Dorf seinen Namen ‘Das verbrannte Haus’ gab. Wir passieren Lough Derryclare, der nächste Ort heißt Sraith Salach. ‘Schmutzecke’ kann man dies übersetzen, der englische Name Recess bedeutet Schlupfwinkel. Ob die Altvorderen die Schlupfwinkel der Schwarzbrenner ‘Schmutzwinkel’ nannten? Das können wir uns kaum vorstellen. Außerdem gibt es hier eine Polizeistation! Wir biegen ins Inagh Valley ab, und das zeigt sich mit leergeregneten Wolken am dunkler werdenden Himmel von seiner eindrucksvollsten Seite. Vielleicht ist das Licht bei Sonnenaufgang genauso eindrucksvoll – doch um das herauszufinden, müssten wir unseren irischen Tagesrhythmus (nach Mitternacht ins Bett und morgens um zehn frühstücken) völlig umstellen.

‘Major Road Works Ahead!’, größere Straßenbauarbeiten voraus, warnen kleine dreieckige Schilder am Wegesrand. Die Straße durch das Tal wird an einigen Stellen verbreitert, vor allem in den Kurven, so dass man nicht mehr so leicht von einem entgegenkommenden Fahrzeug ins Wasser katapultiert wird. Doch uns kommt kein Auto entgegen, nur dann und wann ein Schaf. Nach einer halben Stunde sind wir wieder auf der N 59 und es geht nach Leitir Fraic, dem ‘Feuchten Hang’. Letterfrack, sagt der Engländer.

Bei unserem Einkauf in Gort haben wir Salz vergessen und Veldon’s Foodstore hat noch geöffnet. Doch auch sonst wäre uns schon etwas dringend Benötigtes eingefallen – schließlich könnte man im Laden jemanden treffen, der einen mit ersten Informationen versorgt. Wie so oft bei unserer Ankunft ist es Sally. Ja, Molly’s Bar liefe ganz gut. Dann sollte sie ihren Pub endlich mal renovieren, denken wir uns. Gestern Abend hätten Frank & Kieran bei ihr musiziert, wie an jedem Freitagabend. Und was macht Johnnie? O, der spiele mit seinen fast achtundsiebzig Jahren noch jeden Montag mit Kieran in Clifden.

Mit diesen zwei wichtige Informationen nehmen wir die letzten paar Meilen nach Tully Cross in Angriff. Es ist schon fast acht, als wir das Auto hinter dem Cottage abstellen. Ann Jack hat bereits Licht gemacht und der Schlüssel steckt in der Tür. Wir sind zu Hause.

*  *  *

Derweil sich mein Mädchen ums Abendessen kümmert, mache ich einen kurzen Abstecher nach Tully und finde heraus, dass Frank und Charlie heute Abend im Renvyle Inn sind. Folglich hocken auch wir dort um 22 Uhr am Kamin – trotz aller Müdigkeit.

Charlie zeigt sich begeistert, Frank grinst und meint ‘Entkommen zwecklos’. Und ebenso wenig entkommen wir einem gewissen O’Flaherty, der sich neben uns setzt. Ob er der Geist der alten Castle-Ruine der O’Flahertys etwa eine Meile weiter oben ist, muss offen bleiben; er könnte Gertrude Degenhardts Skizzenbuch entsprungen sein. Keine Ahnung, warum er einen Narren an uns gefressen hat. Vielleicht findet er keine anderen Opfer = Zuhörer mehr; wir jedenfalls werden ihn nicht los. Brav erzählen wir ihm auf seine Fragen, die wir nicht verstehen, Dinge, die er nicht gefragt hat, was ihn derartig in Begeisterung versetzt, dass er jedem von uns ein Pint Guinness spendiert – und dabei nicht so aussieht, als ob er mehr als den Gegenwert von zwei Pint Guinness pro Tag zur Verfügung hätte. Verzweifelt warten wir darauf, dass er sein Glas soweit geleert hat, dass wir ihm gleichfalls ein Pint spendieren können, was ihn, als es dann endlich soweit ist, zu erneuten Sympathiekundgebungen veranlasst.

Irgendwann nach Mitternacht ist die Musik zu Ende und die Disco beginnt. Draußen vor dem Pub noch ein kleiner Plausch mit Frank, der seine Gitarre ins Auto packt, und dann heim ins Bett.

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Sonntag, 7. Juni 1998

Hundemüde sind wir heute Morgen, auch wenn es gar nicht mehr so früh ist. Und die Sonne scheint! Wir schlendern die Straße nach Tully hoch und statten dem Laden an der Tankstelle einen Besuch ab.

Between the SilencesAm Zeitschriftenstand neben der Kasse liegt ein soeben erschienenes Heftchen der Letterfrack Writers Group, die sich, so liest man im Vorwort, alle zwei Wochen trifft und deren jüngstes Mitglied noch die National School besucht, also höchstens zwölf Jahre alt sein kann. Between The Silences, 48 Seiten stark, Preis IR£ 2.00. Wie kann man einen solchen Titel ins Deutsche übersetzen? ‘Zwischen den Schweigen’? – der Begriff ‘Schweigen’ gefällt mir nicht. ‘Zwischen den Stillen’? – das geht noch weniger. ‘Inmitten der Stille’?

Wir wandern zum Renvylestrand hinunter, sitzen auf einem Felsen nicht sehr hoch über dem Meer. Unter uns im flachen Wasser der allmählich ansteigenden Flut eine Fischfamilie, hinter uns wiederkäuend die Kühe. Mein Mädchen hockt etwas näher an der Kante, zählt wohl die Fische. Ich packe das soeben erworbene Buch aus und schlage es auf. “Éist, mo mhíle stór!” Sie schaut sich um und ich lese vor:

Your smile
Is like a mirror of peace,
In a world of strife
It smoothers the bumps
On life’s rugged road.

Dein Lächeln
Zeigt mir den Frieden,
In einer Welt voller Streit
Glättet es die Wogen
In den Stürmen des Lebens.

Tom Mongan,
Letterfrack Writers Group

Es wird Nachmittag und wir wandern zum Friedhof von Mullaghgloss, wo sich auf der Mauer unsere Seelen treffen werden, sollte das Leben sie einmal trennen. Als erstes werden sie wohl dem Paddy Conye’s in Tully Cross einen Besuch abstatten. Bei Lord Dunsany gibt es eine Geschichte über eine durstige Seele, die sich in einen Pub einladen lässt – was die kann, können wir schon lange!

Wir nehmen nicht den Hauptweg, sondern zweigen von der Lettergesh Road auf einen kleinen Rundweg ab, von dem aus man aufs Meer schauen kann. Neben uns am zum Wasser abfallenden Hang stehen drei silberne Baumveteranen, die schon seit Jahren tot zu sein scheinen, hoch oben auf ihren ineinander verflochtenen Kronen aber immer noch frisches Grün tragen. Wie ein flaches Dach liegt die gemeinsame Krone über den drei Bäumen.

Das Tor zum Friedhof ist so rostig und klemmt wie ehedem. Jeder zweite oder dritte Name ein Coyne, dazwischen ein Leutnant der Connemara-Brigade der IRA. Bei einem Coyne ist ein Akkordeon in den Grabstein eingemeißelt, Slán agus beannacht – Gesundheit und einen Gruß – steht auf einem anderen. Was kann man einer Seele Schöneres wünschen?

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Montag, 8. Juni 1998

Die irische Sonne kommt heute in flüssiger Form vom Himmel, was an eine Theorie erinnert, nach der es zwei Gruppen von Irlandreisenden gibt: Die erste kommt nach Irland, erlebt drei Wochen Regen, findet es schrecklich und kommt nie wieder. Die zweite kommt nach Irland, erlebt drei Wochen Regen, findet es wunderbar und kommt immer wieder.

Gestern Abend wir im Angler’s Rest haben von Kieran erfahren, dass er heute Abend mit seinem Vater in Clifden spielt. Ergo sitzen wir nun in der Central Bar. Das heißt, noch stehen wir mit den beiden am Tresen, können nicht verhindern, dass Johnnie uns ein Pint Guinness spendiert, und erfahren ein wenig aus seinem Leben und dem seiner Mutter, auf die er sehr stolz ist:

“... Meine Mutter war 97, als sie starb. Im Alter von sechzehn kam sie ins Gefängnis, nachdem sie bei einem Protest gegen die Landbesitzer den Agenten des Landlords zu Boden geschlagen hatte. Obwohl er auf sehr kurzer Entfernung drei Schüsse auf sie abfeuerte, hielt sie seinen Arm fest zu Boden gedrückt, so dass die Kugeln über ihre Schultern gingen. Sie erinnerte sich später, dass ihr von dem Pulverrauch speiübel wurde und sie sich über ihn ergab.

In jenen Tagen und noch bis 1935 verkehrte die Eisenbahn von Galway nach Clifden. Das Galwayer Gefängnis stand dort, wo heute die Kathedrale steht, und an dem Abend, an dem sie entlassen wurde, wurde sie von einer Menge von Männern, Burschen und Mädchen in Empfang genommen und angeführt von der ‘Renvyle Fife and Drum Band’ drei Meilen weit auf den Schultern die Straße hinunter getragen.

Es gibt das eine oder andere Lied über meine Mutter, aber man singt die Lieder heute nicht mehr. Die Familien, die in die Ereignisse jener Tage verstrickt waren, könnten sich über einiges darin verletzt fühlen. Ihr ganzes Leben lang war sie eine wunderbare Frau, eine großartige Irin und kannte keine Furcht – nicht einmal vor den Black-and-Tans! Nach einer Weile zog sie nach Schottland und schloss sich meinem Vater an, der auf der Flucht war Irland und verlassen musste. Sie heirateten und ich bin das Endprodukt.

Ich wurde 1920 in Glasgow geboren. 1923 zog meine Familie nach Irland zurück, zuerst mein Vater und drei Wochen später meine Mutter mit mir und dem Baby. Es war ein Alptraum. Der Bürgerkrieg tobte in Irland, es war die traurigste Zeit unserer Geschichte. Ein Ire erschoss den anderen, und manchmal jemanden, mit dem er zuvor gegen die Engländer gekämpft hatte.

Wir gingen in Ballina im County Mayo an Land und setzten die Reise auf einem Ponykarren fort. Keine Brücke, wo eine Brücke hätte sein sollen, und meine Mutter alleine mit ihren zwei kleinen Kindern. Doch sie war eine tapfere Frau und brachte uns sicher nach Mullaghgloss.”

Soweit Johnnie. Die Jahre vergehen und er heiratet. Eine kleine Farm in Mullaghgloss ist nun sein Eigen, 12 Acre, also etwa fünf Hektar groß, und zwölf Kinder. Die ernährt eine solche Farm nicht, und so ist er auch noch Fischer und musiziert. Zunächst auf den Uilleann Pipes, dem irischen Dudelsack. Als nach einem Unfall die rechte Hand etwas steif bleibt, bringt er sich das Fiddlespielen bei – um den Bogen zu führen reicht es noch.

“And here we are”, schließt er. Scotland the Brave, würde er nun spielen, ein Marsch zu dem einst die Schotten gegen die Engländer aufmarschierten, gefolgt von Kelly the Boy from Killane, eine Erinnerung an die Rebellion von 1798.

*  *  *

Es geht auf Mitternacht zu, da raunt Kieran, ansonsten gar nicht schüchtern, seinem Vater etwas ins Ohr. Johnnie beugt sich zu uns hinüber, zögert etwas. Ob es vielleicht – aber nur, wenn es uns nichts ausmachen würde – möglich sei, ihn bis zur Kreuzung von Tully Cross mitzunehmen? Für Kieran sei dies sieben Meilen Umweg und er müsse morgen früh raus: ein neuer Job in Leenaun, wo das alte Hotel am Ortseingang wiederhergestellt wird. Uns etwas ausmachen ??? Wenn er wüsste, wie begeistert wir sind! Und so fahren wir eine halbe Stunde nach Mitternacht zu dritt von Clifden nach Renvyle. Und natürlich lassen wir ihn trotz seines Beharrens nicht im strömenden Regen am ‘Cross of Tully Cross’ aussteigen, sondern fahren durch bis Mullaghgloss, wo er uns im Auto vor seinem Haus noch seine Geschichte zu Ende erzählen muss.

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Dienstag, 9. Juni 1998

Auch heute Abend sitzen wir wieder mit Johnnie in der Central Bar, wo er sich mit Kieran und seiner Fiddle ein paar irische Pfund verdient. Und als mein Mädchen gegen Mitternacht Durst auf einen Kaffee bekommt – sie ist heute mit dem Autofahren dran –, geht Johnnie zur Bar und präsentiert ihr stolz einen.

Auf der Heimfahrt erfahren wir etwas über die Coynes von Tully Cross, mit denen Johnnie nur entfernt verwandt ist. Der alte Paddy Coyne, vor ungefähr 10 Jahren verstorben, muss der Dorfkönig gewesen sein: Shopkeeper, Pubkeeper, Fischaufkäufer, Beerdigungsunternehmer und in nicht unbeträchtlichem Maße Landbesitzer. Einmal jährlich kam der Dentist ins Paddy Coyne’s und zog die Zähne, die zu ziehen waren, derweil Paddy mit einer Flasche Paddy den Anästhesisten spielte. Das Land, auf dem heute die Cottages und die Marion Hall stehen, stiftete er für eine Kooperative, um den Ort vor der Zersiedlung zu bewahren. Die Seele des Unternehmens aber war seine Frau Anne. Als sie starb, ging’s mit Paddy und dem Geschäft bergab.

Vier Söhne nannte er sein Eigen. Nach seinem Tod bekam Noel das Bestattungsunternehmen, Brian den Shop und Gerard den Pub. Was aus dem vierten Sohn wurde, haben wir noch nicht herausgefunden, nur dass er viele Fotos für das Heft Hidden Connemara gemacht hat und mit der Tochter eines Oxford-Professors verheiratet ist. ‘Ein sehr nettes Mädchen’, sagt Johnnie. Im Dorf gebe es allerdings Vorbehalte gegen das Paar, denn Seán sei geschieden und die Professorentochter seine zweite Frau.

Doch da sind wir auch schon in Mullaghgloss, setzen Johnnie ab und fahren zurück nach Tully Cross um noch einen Paddy auf Paddy Coyne zu trinken, ohne den es unser Cottage nie gegeben hätte.

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Mittwoch, 10. Juni 1998

Wir fahren in der Früh – oder was man in Irland so ‘in der Früh’ nennt – nach Clifden und erfahren, dass sich der berühmte Michael Gibbons in den kommenden zwei Wochen nicht in der Lage sieht, uns eine archäologische Führung durch die Moore Connemaras zu offerieren. Noch keine Saison! Soll er in seinen obligaten Wellingtons, die wir sowieso nicht haben, in einem Moorloch versinken und auf der anderen Seite der Erde wieder herauskommen. Zudem sieht sich das Tourist Office nicht dazu in der Lage, uns Tickets für das Townhall Theatre in Galway zu reservieren. Was soll‘s, Johnnies Berichte auf den nächtlichen Heimfahrten von Clifden nach Renvyle dürften allemal interessanter sein.

Ein belangloses Ereignis muss nachgetragen werden. Auf dem Weg nach Clifden gabeln wir kurz hinter Letterfrack ein Mädchen mit einer Fiddle auf und geben ihr einen ‘Lift’ in die inoffizielle Hauptstadt Connemaras. Nach dem üblichen Anfangsschweigen erfahren wir, dass sie in Letterfrack wohnt, und sie, dass wir eines der Tully Cross Cottages in Beschlag genommen haben. Ob wir schon ein paar ‘Locals’ kennengelernt haben, will sie wissen. Den einen oder anderen schon, bestätigten wir, und ein alter Mann (Johnnie) habe prophezeit, dass das Wetter sich heute bessern würde. Im nämlichen Moment kommt die Sonne heraus.

*  *  *

Johnnie & Kieran, © 1998 Juergen KullmannAm Abend hocken wir schon wieder mit Johnnie und Kieran in der Central Bar. Trickreich gelingt es Johnnie, uns jedem ein Pint Guinness zu spendieren: auf Verdacht an der Bar vorausbezahlen, ist seine Masche, denn irgendwann werden wir schon welche ordern. Doch wir finden eine Chance uns zu revanchieren.

Eine halbe Stunde nach Mitternacht ist Schluss mit der Musik, die einhundert Jahre alte Fiddle bereits im arg ramponierten Kasten, als plötzlich ein Mädchen mit ihrerseits einem Geigenkasten unter dem Arm an unserem Tisch steht: “Johnnie !!!” Elizabeth Kane aus Letterfrack, erfahren wir, All-Ireland-Champion* auf der Fiddle und auf der Suche nach einem ‘Lift’ nach Letterfrack. Unsere Anhalterin von heute morgen! Erinnerungen an alte Zeiten: “Weißt du noch Johnnie, damals in der Marian Hall, als die Bühne zusammenbrach und du die Fiddle hoch über den Kopf hieltest ... ?” Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Elizabeth mit Johnnie bei den ‘Renvyle Comhaltas’ gespielt.

Die Instrumente werden wieder ausgepackt, und der alte Fiddler von den ‘Irish Highlands of Mullaghgloss’ und die Championisse aus Letterfrack zeigen, wie man im Duett Jigs & Reels spielt.

Die Außentür der Central Bar ist bereits seit mehr als anderthalb Stunden geschlossen, als wir gegen zwei Uhr in der Früh mit dem Fiddler von Mullaghgloss und Elizabeth aus Letterfrack gen Renvyle fahren, derweil Johnnie seiner jungen Freundin von einem Problem im Haushalt eines seiner zwölf Kinder erzählt, in das eine Waschmaschine und sein Geld involviert ist. “Tsss, tsss, tsss”, macht Elizabeth, doch mehr bekommen wir nicht mit.

* Es gibt wohl kaum eine Music Hall gibt, in die sämtliche All-Ireland-Champions gleichzeitig passen.

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Donnerstag, 11. Juni 1998

Unweit von Uachtar Ard am Lough Corrib liegt Aughnanure Castle, und seit sieben Jahren fahren wir hier vorbei ohne die Burg je gesehen zu haben. Das soll sich heute ändern. Ein Faltblatt des Oifig na nOibreacha Poiblí, dem für die Restaurierung verantwortlichen Amt für öffentliche Arbeiten, informiert:

‘Die Reste von Aughnanure Castle liegen in landschaftlich malerischer Umgebung nahe dem Ufer des Lough Corrib. Eigentlich auf einer Felseninsel gelegen, stellt die Burg ein besonders gut erhaltenes Exemplar eines irischen Wohnturmes dar. ... Neben dem sechsstöckigen Wohnturm findet der Besucher die Reste einer Banketthalle, einen Wachturm und einen Trockenhafen.’

IR£ 2.00 pro Person kostet der Eintritt, die Führung inbegriffen. Doch die nächste beginnt erst in einer Stunde und führt zugleich eine Horde von Schulkindern. Das muss nicht sein, ergo führen wir uns selbst. Das heutige Kastell wurde im 16. Jahrhundert als Festung des O’Flaherty Clans errichtet, wenngleich die ursprüngliche Anlage wesentlich älter ist und aus dem Jahr 1256 stammt. Hier trafen sich vor über 550 Jahren Donal O’Flaherty und Owen (Black Oak) O’Malley, um die Heirat ihrer Kinder auszuhandeln*. Was man in Galway von dem Clan hielt, liest der Tourist über dem westlichen Stadttor: ‘Vor den schrecklichen O’Flahertys, o guter Herr, erlöse uns.’

Wie alle Wehranlagen aus jender Zeit besteht Aughnanure Castle aus einem quadratischen Turm, der – wie manch anderer – restauriert wurde. Doch anders als bei vielen anderen ist noch einiges von den Außenanlagen erhalten. Da die Sonne mitspielt und der Himmel gerade eine interessante Wolkenformation aufweist, kommt ein (hoffentlich) nettes Foto dabei heraus.

Nach einem Spaziergang zum Corrib, auf dem uns der Regen überrascht, fahren wir nach Uachtar Ard zurück. Wir bummeln ein wenig durchs Städtchen, besichtigen den Laden eines mehrfach preisgekrönten irischen Metzgers mit deutschem Meisterbrief und stärken uns in einem Café Shop mit Tee und Kuchen. Dann geht es langsam über die N 59 nach Norden.

In Maam Cross stoßen wir rechts der Straße nach Maam auf den alten Bahnhof der Midland Great Western Railway Company von Galway nach Clifden. Nur etwa 50 Jahre hat diese Bahnstrecke existiert, Mitte der 30-er Jahre wurde der Betrieb eingestellt. Dennoch war sie bedeutsam für die Entwicklung der Region. So wurde Maam bis zur Eröffnung der Linie fast ausschließlich von Galway aus per Boot über den Corrib versorgt, hernach via Maam Cross per Eisenbahn. Das kleine Bahnhofsgebäude aus vorwiegend grauem Stein ist noch erstaunlich gut erhalten, ebenso ein im gleichen Stil errichtetes Türmchen auf der anderen Seite der Trasse, das nun mit Müll gefüllt ist. In der Nachmittagssonne macht sich das Ganze, vom Müll einmal abgesehen, recht romantisch.

Eigentlich würden wir nun gerne ein Stück auf der ‘dismantled railway’ spazieren – unserer nach Karte scheint es ein schöner Weg zu sein –, doch wieder einmal macht uns ein Zaun nebst Private-Property-Schild einen Strich durch die Rechnung. Also bummeln wir per Auto heim.

Heute Abend haben wir frei, keine Musik und kein Musikantentransport. Mein Mädchen entfacht ein Torffeuer, und diesmal müssen wir nicht vor dem Rauch ins Paddy Coyne’s flüchten.

* Mehr zu Grace O’Malley siehe 15. Juni und 20. Juni 1995

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Freitag, 12. Juni 1998

Eine Wanderung über das Moor, doch zunächst müssen wir ein Stück über die schmale, mit Schlaglöchern gesegnete Straße Richtung Lettergesh. Schiefe, hölzerne Strommasten am Straßenrand, bestens geeignet zum Anheften von Bekanntmachungen. Nach den Januar- und Februarstürmen muss mit schöner Regelmäßigkeit der eine oder andere von ihnen ersetzt werden, manchmal eine ganze Reihe. An diese Strommasten nagelte Seán Coyne, ein Sohn des seligen Paddy aus Tully Cross, im Frühjahr 1995 seine Vote Yes!-Schilder, um bei dem anstehenden Referendum Stimmung für die Streichung des Scheidungsverbotes aus der Verfassung zu machen. Selbst im deutschen Fernsehen wurde darüber berichtet. Was waren wir verduzt, als Seán mit dem Hammer in der Hand dem Reporter ein Interview gab. An der Wand des baufälligen Schuppens neben dem Paddy Coyne’s sah man im Sommer darauf einen übertünchten Vote Yes!-Schriftzug, der vermutlich auch seine Handschrift trug. Das Scheidungsverbot wurde mit knapper Mehrheit aus der Verfassung gestrichen.

Nach einem Kilometer biegt rechts der Weg ins Moor ab, vor unseren Augen eine hügelige Ebene, die im Süden an die Twelve Bens grenzt. Vor einem Jahr standen wir dort oben auf einem Pass. Wir waren von Kylemore über den Berg gekommen und dem alten Pfad um den Doughrugah Mountain gefolgt, bis wir einen Blick auf die Bogs werfen konnten, von denen wir nun zum Pass aufblicken.* Vielleicht kommt man von hier über den Berg nach Kylemore, doch es gibt keinen markierten Pfad. Man muss wohl ein ‘Local’ sein, um den Weg zu finden, und zudem ein Besitzer von Wellingtons, denn das Moor macht seinem Namen alle Ehre und quakt unter unseren Füßen.

Vor einer Weile hatten wir uns durch eine Schafherde gedrängelt, nun heulen weit hinter uns zwei Hunde auf. Sie kommen langsam näher, ziehen sich wieder zurück. Ob sie ein Schäflein vermissen? Und meine Liebste von ihrer Vorliebe für Lammkoteletts in Rosmarinsauce haben schwärmen hören? Wir werden einen anderen Rückweg nehmen!

Ein paar hundert Meter vor uns steigt das Gelände leicht an und eine Old Bog Road zieht sich die Anhöhe hoch. Ob sie in die Berge führt? Dummerweise sieht die Niederung zwischen uns und dem Weg recht feucht aus. Sie ist es auch, verraten die Füße, und dann ist da noch ein Stacheldrahtzaun, der überwunden werden will, ohne die daran hängende Schafwolle mit Streifen aus blauen Jeans zu verschönern. Dahinter ein kleines Tal mit einem Bach, in dem einige Steine liegen, die das Überqueren erleichtern.

Pustekuchen, unsere Moorstraße führt nicht die Berge, sondern endet an einem Plateau, auf dem Torf abgebaut wird. So wandern wir bergab dem Meer zu und stoßen unweit der Lettergesh National School auf die Straße, die uns nach Tully Cross zurückbringt.

* Siehe 16. Juni 1997

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Reiseberichte Irland: Connemara 1998
© 2000 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 30.05.2006