Irisches Tagebuch 1998

Inmitten der Stille II

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Sonnabend, 13. Juni 1998

Hillwalking am Croagh Patrick ist angesagt. Auf dem Weg von Leenaun nach Westport zeigt sich der Berg, heute gekrönt von einer weißen Wolke, wie so oft von seiner besten Seite, doch schaffen wir es nie, rechtzeitig einen Halteplatz zu finden um ein Foto zu machen. Und wenn wir dann einen gefunden haben, schiebt sich eine Wolke über die Sonne und die Landschaft versinkt im tiefsten Schatten.

Luftgeister am Croagh Patrick, © H. Vogt-KullmannKurz vor Westport verlassen wir die N 59 und biegen nach links ab, fahren ein Stück gen Louisbourgh und lassen das Auto an der Owenwee-River-Brücke stehen. Wir haben uns aus einem jener ‘Walking Guides’, mit denen vor 450 Jahren die nicht weit von hier residierende Gráinne Ní Mhaille resp. Grace O’Malley ihre Feinde in die Irre zu führen pflegte, einen Weg ausgesucht, der sich entlang der Hänge mehrerer Vorberge dem Croagh Patrick nähert und recht weit oben auf den steilen Hauptweg zum Gipfel stößt – also nicht den offiziellen Weg, der auf der gegenüberliegenden Bergseite bei Murrisk beginnt. Zunächst geht es auf gut geteertem Weg bergan. Mit zügigem Schritt überholt uns ein junges Mädchen und entschwindet unseren Blicken, dann wird der Weg zum Schotterpfad. Nun muss man der Wegbeschreibung zufolge irgendwo rechts den Berg hoch, und zwar zu einer auf unserer Karte gestrichelt eingezeichneten Old Pilgrims’ Road, die uns zum Wohnsitz des Heiligen Patrick führen soll. Und in der Tat sehen wir hoch über uns am Hang eine alte Mauer, die sich die Bergkette entlang zieht, und steigen in der Hoffnung, nicht in einem Kaninchenloch zu versinken, bergan. Nach 10-minütiger Rast auf halber Höhe erreichen wir schwer atmend die Mauer, meine kleine Bergziege etwas eher als ihr Schlapplandschaf.

Ein Mauerdurchbruch bringt uns zur anderen Seite, denn der Weg liegt, wenn er es denn ist, dahinter: mal steinig, mal patschig und allemal zum Büßen geeignet. Doch die Aussicht auf die einsamen Berge und Loughs Südmayos lässt das Büßen vergessen. Hier soll noch schwarzgebrannt werden. Wir marschieren bergan und längs der Mauer auf den Gipfel des Croagh Patrick zu, auf den sich gerade jetzt eine Wolke setzt. Die Vorgipfel, die vor einer halben Stunde noch über uns lagen, haben wir nun hinter uns; da macht die Mauer plötzlich einen Rechtsschwenk und führt ganz offensichtlich jenseits des Berges zur Clew Bay hinunter, obwohl der Wohnsitz des Heiligen Patricks geradeaus vor uns liegt.

Zwischen uns und dem Gipfel liegt ein unwirtliches, feuchtes Gelände, dem man nicht ansieht, was es zu bieten hat. Doch die Richtung ist unverkennbar und wir versuchen es, als plötzlich die Wolke über dem Haupte des Heiligen auch uns einzuhüllen beginnt und wir nichts mehr sehen. St. Patrick empfängt heute nicht! Also zurück zur Mauer und retour über den matschigen Weg. Den Feuchtigkeitstest bestehen unsere Schuhe ganz passable, und als ich so tief in den Moder trete, dass das Wasser von oben hineinläuft, lehnen meine Schuhe jegliche Verantwortung dafür ab.

Wir finden den Mauerdurchbruch und steigen zur Schotterstraße hinunter, während es zu regnen beginnt und der Regen sich in einen Wolkenbruch verwandelt. Hinreichend gesegnet, denn aus einer Wolke über dem Heiligen kann sich nur Weihwasser ergießen, kommen bei unserem Auto an, wo der Segen mit einem Schlag aufhört. Mein neuer Fotorucksack ist dicht geblieben, der Olympus-Kundendienst bleibt der 12 Jahre alten OM4 Ti erspart.

*  *  *

Postscriptum: Abends im Renvyle Inn erzählt uns Frank, dass es während des ganzen Tages nicht einen Tropfen geregnet hat. Dann war es wohl wirklich Weihwasser.

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Sonntag, 14. Juni 2000

Nach der Messe lädt uns Johnnie auf ein Pint Guinness ins Angler’s Rest ein. Der Pub darf laut Gesetz noch nicht öffnen, also führt er uns durch Sammons Privateingang in die Bar, wo Patrick bereits am Zapfhahn steht. Auch Charlie steht schon an der Theke, tauscht sich mit Johnnie aus, doch von dem scherzhaften Geplänkel – wer sind die besseren Musiker, die Coynes oder O’Malleys? – bekommen wir nicht allzu viel mit.

Draußen scheint die Sonne, Patrick Sammon öffnet sein Angler’s Rest nun auch offiziell und wir fahren an den Glassilaunstrand:

‘ At sunset we would sit and watch
The boats came laden home
With herring bright and mackerel ...’

‘Bei Sonnenuntergang saßen wir am Strand,
Sahen die Boote heimkommen, schwerbeladen
Mit glänzendem Hering und Makrelen’,

Das Boot, © Hildegard Vogt-Kullmannschreibt Eileen Keane von der Letterfrack Writers’ Group in ‘Beyond the Silences’. Ob von Glassilaun aus jemals Fischer ausfuhren? Wir sitzen windgeschützt auf einer Felsbank, sehen dem sonntäglichen Treiben zu und können uns das kaum vorstellen. Schon eher, dass hier Schwarzbrenner aus dem County Mayo mit ihrem Lebenswasser an Land gingen, vielleicht sogar der berühmte Schmuggler George O’Malley. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Johnnie, der unweit von hier in Mullaghgloss wohnt, fuhr stets vom Derryinver Quay am Ballynakill zum Fischen aus. Vielleicht weiß er, ob es bei Glassilaun Fischer gab.

Ganz schön warm ist es hier auf den Steinen, doch beim Versuch, in Pullovern über den breiten, weißen Sandstrand zu wandern, spüren wir den kalten Wind. So ziehen wir uns zu unserer geschützten Stelle zurück und beobachten von dort die badenden Kinder, die ein anderes Temperaturempfinden haben müssen.

*  *  *

Und am Abend? Frank und Kieran spielen im Angler’s Rest, womit alles klar ist. Die Lübecker sind auch da und loben die Fähigkeit der Ortsärztin. Dr. Nee heißt sie.

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Montag, 15. Juni 1998

Nach sieben Jahren Westirland-Befahrung und mehr als zehn Besuchen Galways, der ‘blauen Stadt am Meer’, wird dieser fünfzehnte Juni des Jahres 1998 in die Geschichte eingehen. Denn es ist ...

DER TAG, AN DEM IN GALWAY
DIE SONNE SCHIEN

Auch ansonsten hat Galway Neues zu bieten. Eine Fußgängerzone dort, wo man sich früher auf schmalen Bürgersteigen mit den Regenschirmen ins Gehege kam. Diese alten Zeiten noch im Blut, zieht es uns von der Straßenmitte auf die früheren Gehwege zurück, bis uns aufgeht, wie unnötig dieses Unterfangen ist.

Der Eyre Square, zum ersten Mal nehmen wir ihn bewusst wahr, liegt in der Sonne und auf seinem Rasen (Ballspielen verboten!) der eine oder andere Student. Wir schlendern weiter zum Bahnhof, begutachten auf dem einzigen Bahnsteig der drittgrößten Stadt der Republik Irland einen aus Dublin kommenden Intercity, der aussieht, als sei er vor 40 Jahren in Dortmund abgefahren. Vier Zugverbindungen nach Dublin gibt es täglich, doch wer es eilig hat, nimmt den Bus. Die Bahnstrecke soll saniert werden, haben wir gehört, zu 85 % aus EU-Mitteln, und noch ganz rasch, bevor Irland wegen seines wirtschaftlichen Aufschwungs keine Fördermittel mehr bekommt.

Wir wandern in die Fußgängerzone zurück, die zur Zeit nur ein durch Blumenkästen abgesperrter Straßenbereich ist. Auch das soll sich ändern, solange die EU-Zuschüsse noch fließen. Straßenmusikanten allerorten, und die Sonne scheint viel zu schön, um in die Läden mit ihren bunten Holzportalen zu gehen. Dennoch schafft es mein Mädchen, einen von 49.– auf IR£ 29.– herabgesetzten Pullover zu erwerben und bei Penney’s zum sensationellen Preis von IR£ 4.– ein T-Shirt in ihren Besitz zu bringen.

Am Nachmittag wandern wir die Hight Street zur Mündung des Corrib hinunter; viel junges Volk auf dem Rasen vor dem ‘Spanischen Torbogen’, der einst Teil einer Befestigungsanlage war. Das rote Bed-and-Breakfast-Haus an der Kaistraße offeriert immer noch B&B, doch wo sind all die Blumen hin, die im letzten Jahr so malerisch in bunten Kübeln vor dem Haus standen? Andere Häuser wurden mittlerweile renoviert, auch wenn noch nicht alle Arbeiten abgeschlossen sind. Irgendwo gab es hier an einer Mauer eine Gedenktafel für einen Michael Walsh, Opfer und Täter im Black-and-Tan Krieg, doch es musste wohl weichen. Die bunte Häuserzeile leuchtet in der Nachmittagsonne und ich mache ein Foto.

*  *  *

Wir fahren gar nicht erst nach Hause, sondern gleich nach Clifden, wo wir im Derryclare speisen, ehe es uns in die Central Bar zieht. Johnnie hockt bei einer alten Freundin, die so alt gar nicht ist, und Kieran steht einsam am Tresen. Obwohl er so gerne den Entertainer und Charmeur spielt, kann er ja sooo schüchtern sein, meint mein Mädchen, fast so schüchtern wie ihr Ehemann. Zunächt nur ein sich zunicken, doch dann ergreift das Wort. Wir erzählen, dass wir aus Galway kommen, wie sehr sich die Stadt verändert hat, und beklagen, dass es die alte Galway-Clifden-Eisenbahn nicht mehr gibt. Wer heute auf dem Bahnsteig von Clifden steht, der kommt 60 Jahre zu spät, meint Kieran, und das sei selbst für einen Iren eine Menge Zeit. Im übrigen munkele man, dass Mr. Sweeny sein neues Station-House-Hotel und die Renovierung des alten Bahnhofs mit einer IR£ 12 Mill. Finanzspritze aus Australien finanziert hat. Doch ehe er nun mit seiner Musik 60 Jahre zu spät käme ...

Währenddessen spielen sich im hinteren Teil der Bar mysteriöse Dinge ab. Tische werden von Frauen und Männern blockiert, die bunte Zettel vor sich ausbreiten, irgendetwas in Listen eintragen. Schließlich bittet der augenscheinliche Chef der Angelegenheit Kieran ums Mikrofon und verkündigt dem werten Publikum, die letzte Woche der diesjährigen Weekly-Lotto-Saison (zu Gunsten von Kinderspielplätzen &c.) sei angebrochen. Bis elf Uhr könne noch jeder ein Los erwerben, zudem würden drei Sondergewinne für die anwesenden Loskäufer gezogen. Und da der Bau von Kinderspielplätzen in Clifden schon immer zu den Hauptanliegen meines Mädchens gehörte, sortiert sie ihre Münzen und investiert IR£ 1.00 in ein Los.

LotteryJohnnie und Kieran dürfen weitermusizieren, doch nur bis halb zwölf, denn dann werden die drei ‘Anwesenheits-Preise’ gezogen. Das erste Los. Der Lotteriechef hat Schwierigkeiten mit dem Namen, er beginnt zu buchstabieren:

“Is a  V...o...g...t  -  K...u...l...l...m...a...n...n from Germany here ??? A  H...i...l...d...e...g...a...r...d ?”

Man schaut sich an. Johnnie schlägt sich auf die Knie und weist auf mein Mädchen. Sie muss nach vorne, darf in eine Pappkiste mit Bällen greifen, erwischt einen mit einer aufgemalten ‘75’, hat IR£ 75 = DM 190 gewonnen, kommt zurück, wird von Johnnie umarmt und abgeküsst. Sin a bhfuil, das war’s für heute. Natürlich fahren wir Johnnie am frühen Morgen heim, doch zuvor gehen noch einige der 75 Pfund über den Tresen.

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Dienstag, 16. Juni 1998

Die Bezwingung des Tully Mountain im dritten Anlauf – wobei anzumerken ist, dass die ersten beiden Anläufe bereits im vergangenen Jahr stattfanden. Doch gut Ding will Weile haben, gerade in Connemara. Bei Leitir Beag, an der altbekannten Stelle*, lassen wir das Auto stehen und es geht den Hang hoch. Oben hinter dem Gatter legt ein Mann entlang des Zaunes eine Wasserleitung, das heißt, er gräbt einen handelsüblichen Schlauch ein, so dass die Schafe ihn nicht zertreten können. Ob wir unsere Kräfte üben wollen, fragt er grinsend. Wir geben es zu, doch wahrscheinlich übt er die seinigen sehr viel mehr als wir die unsrigen.

Weiter geht es den verblassenden ‘red spots’ folgend den Berg hoch, die, falls es nicht die Feen waren, einst ein Mitarbeiter des Connemara Walking Centre auf die Steine pinselte. Dort, wo man auf den Bach stößt und dieser einen kleinen Weiher bildet, ehe er sich zum Endspurt ins große Meer aufmacht, legen wir wie üblich die erste Rast ein und lassen den Blick über den Ballynakill Harbour schweifen. “Da, unser ‘Sonnenuntergangsstrand’”, ruft mein Mädchen und weist auf einen Sandstreifen auf der gegenüberliegenden Seite.

1992, unser erstes Jahr in Irland: Nach zwei Wochen zu dritt in einem Cottage hatten wir Gisela zum Flugplatz nach Shannon gebracht und kamen uns etwas vereinsamt vor. Das ‘Kind’ ist außer Haus, frotzelten wir, und was nun? Es war ein stiller Sonntag, einer jener soft days, an denen ein leichter Nebel über allem liegt. Kein trübsinnig grauer, sondern einer, der einen warmen Ton in sich hat und eine unsichtbare Sonne ahnen lässt.

Den Vormittag über waren wir über die Cleggan-Halbinsel gestreift. Unterwegs führte ein Bauer einen Bullen seiner Zuchtaufgabe zu, und plötzlich standen wir unten an der Bucht; ein Currach auf dem spiegelglatten Wasser und dahinter im Dunst die Silhouette des Tully Mountain. Später entdeckten wir weiter im Westen am Ende des Pfades einen Sandstrand, Ross Beach, laut Tim Robinsons Connemara-Karte. Wir stellten uns vor, wie die zum Atlantik sich öffnende Bucht mit dem Tully Mountain am gegenüberliegenden Ufer bei untergehender Sonne wohl aussehen mochte, und beschlossen, demnächst zu späterer Stunde mit der Kamera wiederzukommen.

Das war vor sechs Jahren und das ‘demnächst’ liegt noch vor uns.

Zurück in die Gegenwart. Wir wandern das sich zu einer kleinen Schlucht vertiefende Bachtal hoch, finden den Übergang, überqueren von Schafen mit missbilligenden Määähs und von unseren Schuhen mit nicht weniger missbilligenden Quacks und Wassereinbrüchen bedacht eine Feuchtwiese, immer Ausschau haltend nach dem nächsten ‘red spot’. Dann verlieren sich diese und wir stehen mehr oder weniger da, wo wir vor einem Jahr aufgegeben haben.

Doch diesmal sind wir hartnäckiger, wagen uns auch ohne erkennbaren Pfad bergan. Ein kleiner See ladet zum Rasten ein, Lough Awauma, verrät die Karte. So hoch oben waren wir noch nie. Dann sind wir (fast) ganz oben, blicken zum ersten Mal über den Kamm zur anderen Seite, unter uns Renvyle Castle und das heutige Renvyle House Hotel. Es ist nicht der Hauptgipfel des Tully Mountain, auf dem wir stehen, der liegt ein gutes Stück weiter rechts und noch etwas höher. Doch da wir nun über den Berg geschaut haben und uns weitere Expeditionen für die kommenden Jahren vorbehalten wollen, machen wir uns auf den Heimweg. Und wie bei allen früheren Tully-Mountain-Besteigungen holt uns auf dem Rückweg der Regen ein.

* siehe 14. Juni und 26. Juni 1997

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Mittwoch, 17. Juni 1998

Seit Tagen habe ich ein dumpfes Gefühl in meinem rechten Ohr, das sich seit früher Kindheit durch ein undichtes Trommelfell auszeichnet, und hoffe, dass sich die Sache wieder gibt. Pustkuchen, im Laufe der Nacht verwandelt sich dieses Gefühl in eine ausgewachsene Mittelohrentzündung.

Und so sitzt man gegen 10 Uhr in der Früh bei Dr. Nee vom Western Health Board im Wartezimmer. Die Dorfärztin sei noch ein junges Mädchen, hat uns Johnnie erzählt, aber ganz hervorragend. Ein in der Tat sehr junges Mädchen empfängt uns – eine hübsche Ärztin denke ich – doch es ist die Nurse. Defekte Trommelfelle und vereiterte Mittelohre scheinen bei ihr an der Tagesordnung zu sein; sie ist in keiner Weise überrascht und macht schon mal einen Abstrich. Dann kommt das junge Mädchen von einer Ärztin: eine resolute, hagere Dame im Tweedkostüm, Anfang Fünfzig. Der Abstrich würde nach Galway geschickt, bis dahin dreimal täglich Pillen einnehmen – ich bekomme sie abgezählt in einer Plastiktüte. Übermorgen, wenn das Ergebnis da sei, wiederkommen und die endgültigen Pillen abholen! “You understand?!” I understand! “Any questions?” Ach ja, darf man mit diesen Antibiotika Guinness trinken? “Of course, no problem!” Vermutlich würde hier sonst kein Mensch Pillen schlucken.

Später am Tag. Mein Mädchen geht über die Straße in Brians Shop, Ms. *** spricht sie an. Was das Ohr ihres Liebsten beträfe, müsse sie sich keine Sorgen machen, Dr. Nee sei genial. Und wenn erst das Ergebnis aus Galway da sei und er die richtigen Pillen habe ...

*  *  *

Am Abend treffen wir, wen wundert’s, Johnnie und Kieran auf Nachtschicht in der Central Bar. Ich erzähle, das ‘junge Mädchen’ von einer Dorfärztin aufgesucht zu haben. Kieran grinst, dieses junge Mädchen sei ein Jahr älter als er. Johnnie bleibt ungerührt: sie müsse ein junges Mädchen sein, schließlich sei er bei ihrer Geburt fast dreißig gewesen.

Gegen ein Uhr in der Früh fahren wir Johnnie heim und lassen uns unterwegs aus seinem Leben erzählen. Seit 51 Jahren ist er mit Margaret verheiratet, er war 27, sie 19 und ein Zimmermädchen im Renvyle House Hotel. Eine gute Frau, wie er nicht müde wird zu betonen, doch die ganzen Jahre über habe sie nie einen Pub betreten und keinen Tropfen Alkohol angerührt. Margaret würde Pubs hassen und Pubgerede wäre ihr ein Gräuel.

Zwölf Kinder haben die beiden. Ihr Haus in Mullaghgloss hat fünf Bedrooms, einen Dining Room und eine Küche. In der guten alten Zeit sei die Küche der ‘social room’ gewesen; hier habe man sich nach Anbruch der Dunkelheit mit den Nachbarn getroffen, gemeinsam musiziert, geplaudert – und so sollte es nach Margarets Meinung auch heute noch sein. Seine Mutter hingegen hatte weniger Probleme mit Pubs. Er stimme schon, dass sie manchmal etwas viel trinken, doch das liege nur daran, dass sie 800 trockene Jahre lang von England unterdrückt worden seien.

Und deshalb, fährt Johnnie fort, seien sie auch alle Rebels geworden. Anfang der 20er hatte seine Familie in Mullaghgloss die IRA bewirtet, ehe sie weiterzog. Sein Vater war anschließend aus dem Haus vertrieben und verhaftet worden, man konnte ihm jedoch nichts nachweisen und er wurde bald wieder freigelassen. Später habe seine Mutter viele schöne Lieder über diese Zeit geschrieben, die allerdings heute kaum einer singen würde. Die Nachfahren der alten Landlords könnten sich verletzt fühlen. Ganz anders seine Mutter Lena, sie hätte gesungen, was sie wollte, ganz egal wer da zuhörte!

Sein Vater Mark, erfahren wir weiter, spielte Melodeon, war ein guter Currach-Bauer und in historischen Dingen sehr bewandert. Als seinerzeit Anne Chambers Material für ihr Buch The Time and Life of Grace O’Malley sammelte, sei sie nach Mullaghgloss gekommen, und er hätte einiges dazu beigetragen und sei sogar im Anhang erwähnt worden.

Doch jede nächtliche Fahrt nach Mullaghgloss geht einmal zu Ende und wir setzen Johnnie ab. In seinem Haus ist noch Licht. Ob Margaret auf ihn wartet?

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Donnerstag, 18. Juni 1998

Es regnet auch im Paradies’, unter diesem Titel erschien vor einigen Jahren ein Buch zweier Irlandeinwanderer. Wir werfen einen Blick über unsere Halbtür und sagen uns, dass wir schon immer gerne im Paradies leben wollten.

Auf dem Weg nach Clifden nehmen wir eine Anhalterin mit und treffen sie später in Walsh’s Café Shop wieder. Nein, diesmal keine überraschende Pointe, sie stellt sich auch nicht als All-Ireland-Championisse auf einem vergessenen Musikinstrument heraus, ist einfach nur ein nettes Mädchen von der britischen Nachbarinsel auf ihrem Weg von einem Bed-and-Breakfast zum anderen. Schön, dass in diesem Land ein junges Mädchen ohne Angst zu haben als Anhalterin von Ort zu Ort ziehen kann. Wenn man die Zeitung liest, gewinnt man den Eindruck, dass Ministranten, die sich zu einem Pfarrer ins Auto setzen, sehr viel gefährdeter leben.

Zu Erquicklicherem. Wir ziehen etwas Geld aus dem Automaten an der Market Street und kaufen ein, vor allem Fisch fürs Abendessen. Soviel, wie in diesem Jahr, haben wir in Irland noch nie gekocht.

*  *  *

Twelve Bens, © 1992 Juergen KullmannAm späten Nachmittag machen wir einen Spaziergang über den Renvyle Bog. Die silbergrauen Baumstümpfe im Moor sollen 1000 Jahre alt sein, hat mein Mädchen gelesen, und fotografiert sie in Schwarz-Weiß. Ich in Farbe. Und sollte das weiße Haus in der Ferne irgendwann einmal rosa überpinselt sein, so werden wir seinen Besitzer trotz Peace Process in ein Moorloch stecken. Am Ballynakill Harbour stoßen wir auf die Straße und passieren das neue ‘Ocean Alive Heritage Centre’, das früher eine Werkstatt für Kamineinfassungen und Gartenzwerge war, denn nämliche Figuren als Leprechauns zu bezeichnen, wäre eine Beleidigung für diese intelligente Rasse. Unten am Wasser entdecken wir einen neuen Schotterweg mit drei Bänken und ein paar zerfallenden alten Booten. ‘Ocean Alive Heritage Trail’ lesen wir. Ein ‘Connemara-like-Heritage-Trail’, in der Tat!

Wir wandern nach Hause zurück, braten und essen den Fisch. Am Abend noch auf ein Pint Guinness ins Paddy Coyne’s, und das war’s.

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Freitag, 19. Juni 1998

Der Regen ist wärmer geworden, und da wir nach sieben Jahren in Connemara das Westport Haus von innen noch nicht gesehen haben, setzen wir diesen Punkt auf die Tagesordnung. Der Eintritt erschien uns stets zu teuer, doch wenn es lange genug regnet, ändern wir schon einmal unsere Meinung.

In Westport angekommen regnet es zwar nicht mehr, dennoch entrichten wir die 2×6 IR£ Admission Fee, zusammen also etwa 30 DM. Der Hausherr ist ein Enkel in 13ter Generation jener sagenumwobenen Queen of Connacht Grace O‘Malley, die sich immer wieder mit ihrer Kollegin vom britischen Weltreich angelegte. Ihre Nachfahren hingegen arrangierten sich recht bald mit der englischen Krone und ihr Sohn Theobald wurde erster Viscount of Mayo. Später gab es auch schon mal Differenzen, und so wurde der dritte Viscount 1652 exekutiert, ein Schicksal, das der dreizehnte wohl kaum zu befürchten hat. Dessen Problem dürfte eher sein, das 1730 in malerischer Umgebung an der Clew Bay errichtete Anwesen zu erhalten. Vor zwei Jahrhunderten reichte das Geld noch, um den Ort Westport um zwei Kilometer nach Osten zu verlegen und damit Platz für den Park zu schaffen, doch nun sind die Ressourcen knapper und vieles ist marode, vor allem die Decken und Wände des alten Gemäuers. In diesem Jahrhundert baute man eine Zentralheizung ein, hatte jedoch kein Geld, das Ganze halbwegs stilvoll zu realisieren, so dass die Rohre quer durch die Küche laufen.

Im Keller hat der Viscount ein Children’s Adventure Centre, ein Abenteuerzentrum für Kinder, eingerichtet. Nun denn, meint mein Mädchen, wenn man anderen Ortes einen Schotterweg mit vier Bänken und drei umgekippten Booten ‘Seaside Leisure Park’ nennt, ist das für drei Zerrspiegel, einen in einem dunklen Raum sich wiegenden ‘Herrn der Finsternis’ und eine düstere Wandelgruft noch nicht einmal übertrieben.

Draußen schielt dann und wann die Sonne durch ein Wolkenloch und lässt die Boote auf dem See vor dem Anwesen in ihren bunten Farben aufleuchten. Die Parkanlage ist großartig. Mit den Booten und der alten Steinbrücke im Vordergrund mache ich ein Foto von dem Haus. Dann sitzen wir auf den Stufen der steinernen Terrasse und blicken über den See, derweil die Jahrhunderte an uns vorbeiziehen. So mag hier vor hundert Jahren der Viscount of Westport gestanden haben und sein Töchterchen im weißen Kleid am Ufer hat sitzen sehen. Sie vertieft in ein Büchlein mit Shakespeare-Sonetten, derweil er selbst darüber nachsann, ob er es besser mit dem Count of Donegal oder dem Guinness-Erben zu Dublin verheiraten sollte.

 
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Reiseberichte Irland: Connemara 1998
© 2000 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 30.06.2006