Irisches Tagebuch 2003

Ar ais arís

 

Sonnabend, 7. Juni 2003

Der Brückenzoll über die Liffey beträgt jetzt 1 Euro 30, also kaum mehr als das eine irische Pfund, das man uns im Oktober ’01 abgeknöpft hatte. Auch diesmal haben wir eine ganze Stunde gebraucht, um uns aus der Dubliner Verkehrsmarmelade zu befreien. Shannon fliegt Aer Lingus ab Düsseldorf nicht mehr an, doch im Gegenzug zahlen wir nur noch halb soviel wie vor zehn Jahren.

Ar ais arís, wieder zurück, habe ich dieses Reistagebuch genannt, nicht sehr kreativ, aber mir gehen die Titel aus. Zurück in Connemara, nun schon zum 14. Mal. Doch noch sind wir nicht da.

Nach der Überquerung der Liffey sind wir aus dem Gröbsten raus und wollen uns stärken. Mother Hubbert’s bietet sich links des Weges an. Vor einem Vierteljahrhundert, als der keltische Tiger noch ein süßes kleines Kätzchen war, stand hier an der Straße nach Galway ein Caravan mit Fish & Chips, der bei den Truckern und wenigen Touristen zum Geheimtipp wurde. Nicht länger geheim, ist Mother Hubbert’s zu einer Straßenrestaurant-Kette mutiert und wirbt mit dem Motto Your meal is served with a smile. Ich passe genau auf, als uns das Mädel die Mahlzeit bringt: Sie lächelt.

Dauerregen in Dublin, und für Galway gibt es die gleiche Prognose. Doch je weiter wir nach Westen kommen, desto mehr hellt es sich auf. Regen und Sonne wechseln im Halbstundentakt. Aber selbst das Ende des Regenbogens macht die Einheitssiedlungen vor den Ortschaften nicht romantischer; auch bei den neueren hat man nicht dazugelernt.

Fáilte go Co. na Galimhe, willkommen im County Galway, heißt uns ein Schild willkommen. Die Landschaft wird hügeliger, das Grün grüner, eingerahmt durch Trockensteinmauern. Irland naht, das ‘richtige’. Nun noch das knappe Dutzend Kreisverkehre um Galway bewältigen, und wir sind auf heimatlichem Terrain. Ein erster Einkauf in Uachter Ard, und gegen halb acht fahren in Tully Cross ein, 15 Stunden, nach dem Klingeln des Weckers in Dortmund.

*  *  *

Eines langen Tages müder Ausklang

Nach anderthalb Stunden ist das Cottage eingerichtet, und gegen halb zehn betreten wir Molly’s Bar in Letterfrack. Charlie, überschwänglich wie immer, schüttelt den müden Helden die Hände, bis ihnen fast die Arme abfallen. Dezenter Franks welcome back, und da ist John Martin, den es auch in diesem Jahr mit einigen Invasoren aus East Anglia nach Renvyle getrieben hat, und der das Umarmen nicht lassen kann.

Music-to-nite, und ist der deutsche Tourist auch noch so müde, er hält durch, bis gegen eins in der Früh Amhrán na bhFíann erklingt. See you tomorrow night at Sammon’s!

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Sonntag, 8. Juni 2003

Es ist gegen halb neun, als uns der Regen weckt. Frühstück bei klassischer Musik von RTÉ 1, das braune Brot von Irish Pride macht leicht getoastet Appetit. Gibt es nicht einen Vorwand, in Brians Shop zu sprinten? Was könnte man brauchen? Eine Sonntagszeitung führt er nicht, doch Briketts für den Kamin und Streichhölzer, letztere auch, um die Kerze auf dem Frühstückstisch anzuzünden.

Brian schaut durch die regennasse Scheibe zu unserem Cottage herüber, hatte er uns doch schon gestern Abend beim Auspacken zugesehen. “Aus Germany geflohen”, erkläre ich unser Hiersein, “ein schreckliches Klima dort, viel zu heiß und trocken.” Im Dorf hat sich einiges verändert, endlich ist der graue Bauzaun weg, und das dahinter entstandene Maol Reidh Hotel passt mit seiner getürkten Bruchsteinfassade gar nicht so schlecht ins Dorfbild. “Good for the business?” frage ich. “It is”, lautet die Antwort, “it brings the people in.” Dann ziehe ich mit einem Brikettpaket und zwei Schachteln Streichhölzern von dannen.

Renvyle Beach 1853‘The times they are a-changing’ sang einst Bob Dylan, doch manches ändert sich nicht. Gab es je einen Sonntag nach unserer Ankunft, an dem wir nicht am Renvylestrand waren? Der Regen hat kapituliert, droht zwar dann und wann mit ein paar schwarzen Wolken, holt sie aber stets wieder zurück. 16 Grad Lufttemperatur versprach der Wetterbericht heute morgen, die Wassertemperaturen waren den Meteorologen der Erwähnung nicht wert. Dennoch, kleine Kinder tollen nicht nur am Strand herum, sondern auch im flachen Wasser. Ihre Eltern erfreuen sich an dem munteren Treiben – wir auch.

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Montag, 9. Juni 2003

Einigermaßen erholt von der langen Autofahrt am Sonnabend nehmen wir die fünfzehn Meilen nach Clifden auf uns. Frank, der deutsche Gärtner von Kylemore Abbey, mag das Städtchen nicht mehr. Wir trafen ihn gestern Abend im Angler’s Rest.

Arg baustellig ist Clifden zur Zeit, die Idylle vergangener Jahre fürs erste dahin. Großräumige Absperrungen um zu renovierende Gebäude machen den ruhenden und nicht ruhenden Verkehr noch dichter und die Parkplatzsuche zum Problem.

Kevin Barry hat sein Hotel geschlossen; es soll abgerissen werden und einem Bürogebäude weichen, erzählt uns eine Obst- & Gemüsehändlerin, die in einem Hotel am Bodensee ihr Geld verdient hatte und nach einem Unfall nach Irland zurückgekehrt ist. Sie kennt unser Cottage und fragt, ob es nicht ‘a bit too basic and cold’ sei. Wenn sie wüsste, was wir in den letzten Jahren alles angeschleppt haben, um es ‘a bit more cosy’ zu machen! Außerdem habe es eine versteckte Heizung und einen wunderbar qualmenden Kamin, erläutern wir ihr. Sie lacht. Eigentlich hatten wir in ihrem Schuppen neben der Tankstelle nur Schutz vor dem strömenden Regens gesucht, doch das geht wohl nun nicht mehr. Und so erwerben wir ein paar Nektarinen, auch wenn sie im SuperValu billiger sind.

Lunchtime. Wir speisen typisch irisch (Lassagne mit Chips, Kraut- und grünem Salat) und erledigen so gestärkt die wirklich wichtigen Einkäufe: eine Wäscheleine (die hinter dem Cottage ist gerissen), einen Salzstreuer (der bisherige ist vermutlich auf Wanderschaft in ein Nachbarcottage gegangen), 10 Kleider- resp. Hosenbügel für € 2,90 (die fünf, die das Cottage in diesem Jahr aufzuweisen hat, sind etwas wenig für zwei Personen), eine Schere (die bis gestern Abend noch vorhandene ruinierte ich beim Beschneiden der verlausten Rosen neben der Tür) und ein Radiergummi, mit dem ich dieses Gekritzel korrigieren kann.

*  *  *

Am Abend im Paddy Coyne’s, der einstigen Basis der Dúchas. An der Wand hängen noch Fotos von der Gruppe; sie hat sich im letzten Jahr aufgelöst. Danny Brouder, ihr genialer Akkordeonspieler, soll nun in Limerick sein Spiel treiben, Seán, der nicht minder geniale Bodhránist, ist abgetaucht und M. G., der nie begriff, dass zwischen Singen und Bellen ein Unterschied besteht, sucht dem Vernehmen nach einen wie immer gearteten Neuanfang.

Und die Band des heutigen Abends? Zwei der drei Jungs sind waschechte, wenngleich trockene Iren, verrät uns ein Insider. Mit ihren wilden Haarschöpfen sehen sie aus wie die Furey Brothers vor dreißig Jahren. Sie singen und spielen Gitarre, der erste auch Mandoline und der zweite Mundharmonika im Stil Bob Dylans. The Times Are Not A-changin’! Der dritte im Bunde, ein Guinness trinkender, kahler Deutscher mit kleinem Kinnbart, streicht furios über die Fiddle. Angereist sind sie in einem ausrangierten gelben VW-Postbus mit Hamburger Kennzeichen und haben in diesem Sommer zweimal pro Woche ein Engagement im Paddy Coyne’s. Fahrende Musikanten des frühen dritten Jahrtausend mit Irish Folk des späten zweiten.

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30. Dezember 1963

Ein seltsames Schimmern erschien gestern Abend am Himmel, am Horizont begegneten sich Himmel und Erde. Über Nacht fällt Irland in ein Zeitloch. Wir wachen auf am Vor-Sylvestertag des Jahres 1963. Es muss der Vor-Sylvestertag des Jahres 1963 sein, denn das nachfolgend bekundete Ereignis ist unter diesem Datum im Kreditbuch des verstorbenen Paddy Coyne verzeichnet:

Dem Gast im ortsüblichen Hotel gelüstet es zum Frühstück nach Eiern mit Speck. Verflixt, keine Eier da, das konnte der Koch ja nun wirklich nicht ahnen! Der Küchenjunge wird in Paddy Coyne’s Grocery Store geschickt. Aufatmen, Paddy hat noch drei Eier auf Lager, und der Küchenjunge schleicht sich durch die Hintertür ins Hotel zurück. ...

So heute Vormittag beobachtet, doch der geschäftliche Vorgang wurde bereits unter dem Datum 30. Dezember 1963 in Paddy Coyne’s Kreditbuch festgehalten, das 40 Jahre später zerfleddert auf der Fensterbank des Pubs liegen wird. Die einzige Unstimmigkeit: Im Kreditbuch wird das Renvyle House Hotel genannt, während der Küchenjunge aus dem Maol Reidh kam, das es vor 40 Jahren noch gar nicht gab.

*  *  *

Die Zeitspirale hat sich weitergedreht, wir sitzen auf einer Bank hinter der Mauer des Friedhofs von Mullaghgloss und schreiben den 10. Juni 2003. Paddy Coyne schreibt schon lange nichts mehr in sein Kreditbuch, ist vor rund 15 Jahren gestorben. Uns gegenüber die folgende Inschrift an einer Grabeinfassung:

Life is eternal / Love will remain / In God’s own name / We will meet again.

Es ist das Grab eines anderen Paddy Coyne, das von Johnnies jüngerem Bruder, der vor anderthalb Jahren im Alter von 80 starb. Noch steht kein Stein auf dem Grab, statt dessen ein Guinnessglas und darin ein kleines Fläschchen des schwarzen Gerstensaftes. Auf dein Wohl, Paddy.

*  *  *

Kurz nach zehn huschen wir ins Paddy Coyne’s, geführt von Gerard, einem Sohn des früheren Dorfkönigs. Mein Mädchen studiert in einem Reiseführer Wanderrouten. Ich schreibe ein bisschen in diese Kladde, blättere zwischendurch in einem vor 12 Jahren in der Connemara West Press erschienenem Heft. ‘Einige Erinnerungen an die 30er, 40er und 50er Jahre’ lautet ein Kapitel, in dem sich der damals 82-jährige Sheddy Feeney aus Rossadillsk bei Cleggan an ein Gedicht über das von De Valera eingeführte Kindergeld erinnert ... und der Probleme, die einem Mann daraus erwachsen konnten:

In the year ’32
Dev entered the Dáil,
He said that this land
Was too large for us all.
He passed this act
And they all signed it down
To every babe born
He would give a half crown.

I was a young single man
And tired of life,
One night I went out
In search of a wife.
I married a widow
And soon settled down
To do my endeavour
To make a half crown.

The job wasn’t easy
As many man think,
The first night I started
I ne’er slept a wink.
And my wife she keeps at me
And calls me a clown
Saying I’m doing nothing
To make the half crown.

     

Since the blooming thing started
I’m nearly half dead,
The other night I broke down
All the springs in the bed.
And the wife she keeps at me
Saying me she will drown
If I don’t do something
To make the half crown.

Now I resemble
A half hungry goose
Every bone in my body
Half broken and loose.
And the neighbours do pass me
And say with a frown:
“Twill be the cause of your death,
that blooming half crown”.

Now all you young men
You’ve heard what I’ve said,
Make sure of your wife
Before taking her to bed.
And don’t let them tell you
Like my wife told me,
You can’t knock a half crown
Out of three score and three.

Über das Studium dieses Gedichts ist das Guinness ausgetrunken und wir bereiten uns zum Aufbruch vor. “Regine!”, ruft da mein Mädchen. Die Lübecker schauen durch die Tür, haben, wie sie sagen, schon seit drei Tagen nach uns Ausschau gehalten. So wird es dann doch wieder bis nach Mitternacht.

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Mittwoch, 11. Juni 2003

Auf nach Westen – oder besser Norden, auch wenn die Stadt Westport heißt. Sie weiß nicht, ob sie uns mit Regen oder Sonne empfangen soll, doch der Regen scheint auf der Verliererseite zu stehen, auch wenn er dann und wann zu einem neuen Versuch ansetzt.

© Paul GuilfoileUnsere Einkäufe halten sich in Grenzen: zwei County-Galway-Aufkleber für die in Deutschland verbliebenen Autos. Wir bekommen sie im gleichen Souvenirshop, in dem wir 1992 schon den ersten erstanden hatten. Bei allem Auf und Ab des keltischen Tigers hat dieser Laden am Oktagon überlebt. Dann schlendern wir durch eine antiquarische und eine weniger antiquarische Buchhandlung, bis sich schließlich der Hunger meldet. Mini Chickenfilet Baguettes, offeriert ein kleines Restaurant in der neuen Market Lane Passage, preiswert und lecker.

Wir verlassen die Stadt. Am Kai hat sich ein angelnder Rollstuhlfahrer mit seinem Gefährt zentimetergenau an der Wasserkante positioniert. Befände sich der Uferstreifen in Privatbesitz, so müsste der Eigentümer für jeden noch so leichtsinnig verursachten Unfall haften. Daher ist nun auch der Weg über das Anwesen von Westport House zur Stadt durch ein zwei Meter hohes Tor mit schwerem Vorhängeschloss verbarrikadiert. Der Marquess of Sligo, sein Vorfahre Colonel John Browne heiratete einst eine Ur-Urenkelin der legendären Grace O’Malley, sah sich nicht mehr in der Lage die exorbitanten Prämien für die Haftpflichtversicherung zu zahlen und will sich nicht von jedem, der sich auf seinem Grund und Boden den großen Zeh stößt, finanziell ausnehmen lassen.

*  *  *

Später Nachmittag. Wir sind wieder auf Renvyle und sitzen windgeschützt in einer kleinen Mulde auf dem Hügel oberhalb des Lettergesh-Strandes. Unten schäumt die Flut gegen die Abbruchkante.

Zwei Fischer legen ein Netz aus, nach einem System, das wir nicht verstehen. Beginnend an einer Boje in Ufernähe lassen sie es ins Wasser gleiten, während sie weiter in die Bucht hinaus rudern. Hunderte von Metern – kann denn ein Netz so lang sein? Schließlich kehren sie ohne Netz ans Ufer zurück und ziehen das Boot an Land.

*  *  *

Es wird Abend und wir sind im Paddy Coyne’s, so ein Pub across the road ist gar zu verlockend. Wir sitzen am Kamin – mein Mädchen packt noch einen Brikett aufs Feuer – und beobachten Gestalten an der Bar, bei denen Gertrude Degenhard unverzüglich zur Zeichenfeder gegriffen hätte. Aus ihrer Mitte dringt ein unverständliches Stimmengeknatter, der Stotterer des Dorfes. Kaum jemand versteht ihn, doch jeder spricht ihn an und hört zu. “A poor man”, erklärte uns Johnnie vor einiger Zeit. Der Mann habe eine hervorragende Stimme und könne klar und deutlich singen. Er stottere nur beim Reden, keiner wisse warum.

Ein neuer Rücken gesellt sich dazu und gälische Wortfetzen dringen an mein Ohr: “Pinte amhán!” Das muss ich auch mal probieren, mein Guinness ist sowieso gerade alle. Ich gehe mit dem leeren Glas zum Tresen:

“Pinte eile, le do thoil – ein weiteres Pint bitte.”
“Amhán – eines?”
“Amhán – eines!”

Das mit dem ‘eile’ (ein weiteres) war wohl nicht verständlich. Lag sicher an mir, ist aber auch egal. Jetzt genieße ich erst einmal das gälisch georderte Guinness.

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Donnerstag, 12. Juni 2003

Es waren einmal drei Touristen, die kamen, lang ist’s her, nach Clifden. Sie stärkten sich, verließen Clifdens Hintertür in Richtung Roundstone Bogs – und suchten den Hafen. Bis sie schließlich auf einen Eingeborenen stießen, der ob der Frage, wie weit es noch bis zum Hafen sei, ausgesprochen verduzzt aus der Wäsche schaute. Dies war vor mehr als einem Jahrzehnt, und wir sind jenen Weg seither nie wieder gegangen – bis heute.

Wir parken vor dem Pub an der Brücke über den Owenglin River und wandern die schmale Straße links hinter ihr hoch. Owenglin, hier wurde der schöne Name An Abhainn Glinne (der Fluss des Tales) verballhornt. Ein Mann, vom Habitus ein deutscher Aussteiger, arbeitet in seinem Garten und pflanzt Kohlrabi. Da sehen wir endlich einmal, wozu Lazybeds gut sind, denn in den Furchen zwischen den Hochbeeten, auf denen er sein Gemüse pflanzt, steht knietief Wasser, durch das er seinen Gummistiefeln stapft. Warum die Beete wohl Lazybeds heißen? Vielleicht zeigt der Begriff, was einst die britische Aristokratie von der ‘faulen’ bäuerlichen Bevölkerung hielt, die auf ihnen ihre Kartoffeln anbaute.

Die Straße wird zum Schotterweg, die letzten Ausläufer der Clifden Bay liegen hinter uns und unter uns sehen wir die Roundstone Bogs. Hier sollte vor einigen Jahren ein ‘Airstrip’, ein Landestreifen für Flugzeuge eingerichtet werden. Umweltschützer, allen voran Michael Gibbins, protestierten, und das Projekt scheint in der Versenkung verschwunden zu sein. Hoffentlich kramt es keiner mehr hervor. Doch es gab auch andere Vorschläge, aus denen nichts wurde: Thomas Colville Scott, ein englischer Reisender, der 1853 noch Connemara kam um für einen potenziellen Käufer das zur Versteigerung anstehende Anwesen der Familie Martin zu besichtigen, empfahl die Moore zu entwässern und dort Milchbauern anzusiedeln.

Für uns geht es nun bergab, die Moore wandern aus dem Blickfeld und die Schotterpiste bekommt wieder Asphalt. Die ersten Häuser tauchen auf, dem Drumherum nach kleine Farmen. Noch eine halbe Meile, und wir stehen an der N 59 und gehen entlang der Straße nach Clifden zurück.

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Freitag, 13. Juni 2003

Hildegard an Gisela – Postcard From Home

Liebe Gisela – Wir sind nun schon seit fast einer Woche hier im Cottage und fühlen uns unter den lokalen Pubnasen pudelwohl. Nur ist mir die Umstellung auf vierzehn Grad und Regen nicht so recht bekommen. Habe seit vorgestern Halsschmerzen und fühle mich etwas grippig. Die Behandlung der Krankheit mit Guinness und Whiskey scheint aber Erfolg zu haben, ich spüre eine deutliche Besserung.

Die SuperValu-Einkaufstaschen für dich sind besorgt, ansonsten geht alles The Old Ways, um den Titel eines Buches zu zitieren, das uns Regine empfahl, Jürgen aber schon besaß. Was wir bislang getrieben haben? Nun ja: Bogway, Westport, Clifden, Killary Way, Kleiner Patrick. Und sonntags Musik mit Frank & Kieran bei Sammon’s gegenüber. The same procedure as every year.

Tschüss, Hildegard”

 
Der Chronist fährt fort

Von wegen 14 Grad und Regen! Welche Elfenart derzeit für das Wetter zuständig ist, kann ich nicht eruieren, doch sie will es uns zeigen. “Der erste Sommertag seit Mitte April!” sagen alle, die hier dauerhaft wohnen.

Wir wandern auf den Spuren der alten Famine Road von Rosroe in den Killary-Fjord. Der Weg ist in diese Richtung schöner als von Leenaun aus und man kann problemlos am Kai parken. Das war schon vor hundert Jahren der Fall, und so ging anno 1903 die königlich-britische Flotte hier vor Anker, wo bereits eine Kutsche auf König Edward VII und seine Queen Alexandra wartete. Eine Coach Tour für das königliche Paar durch Connemara war angesagt, im Leenane Hotel hängen noch Fotos von dem Ereignis.

Uns aber passiert nur ein einsames bürgerliches Pärchen, im Turboschritt, derweil wir auf einem Stein hockend den Blick über den steilen, unwirtlichen Hang des Cnoc Maol Réidh gleiten lassen, dem ‘kahlen, glatten Berg’. Schimmernd wie grüner Samt seine Flanke, wenn aus einem Wolkenloch das Sonnenlicht darüber gleitet, wirkt er aus der Ferne schwarz wie eine Kohlenhalde. Keine Ansiedlung, kein Haus, keine Ruine, keine Schafe. Kein Weg dorthin – nichts!

Vielleicht doch? Diese grüne Fläche dort oben mit den immer noch erkennbaren Furchen abwärts – das müssen Lazybeds gewesen sein. Ein zweiter Blick über das Wasser: oberhalb des Ufers scheint es einen Weg gegeben zu haben, aus dem Nichts kommend und im Nichts endend. Vielleicht setzte einst jemand per Boot hinüber, legte ein Stück Uferweg an und darüber ein Kartoffelfeld. Drei Bäume an einem Bach macht mein Mädchen mit ihren etwas besseren Augen aus. Dort muss eine Hütte gestanden haben, da ist sie sich sicher.

Stimmt, und nicht nur eine Hütte gab es dort. Im 18./19. Jahrhundert war die Gegend um Salrock dicht besiedelt und jenseits des Fjords schmiegte sich das Dorf Uggool an den steilen Hang des Maol Réidh. Ein seltener Name, schreibt P.J. Joyce 1913. Glaubt man alten Geschichtenerzählern, so bedeutet Uggool soviel wie Höhle, was kaum für die Lebensqualität in den Häusern gesprochen haben dürfte. Die Lazybeds haben sie überdauert.

Weiter geht es. Tief unten das Wasser, der Pfad mitunter arg schmal, sich dann und wann in den Kehren zu einem Plateau ausweitend. Schließlich sehen wir vom letzten dieser Plateaus aus die sich den Berg herunterziehende Mauer, vor der wir von Leenaun kommend einst aufgegeben hatten. Dabei sieht der Weg um den Felsen zwischen uns und der Mauer gar nicht so gefährlich aus, wie es seinerzeit von drüben aus den Anschein hatte. Er ist es auch nicht. Dann führt ein Fußtritt über die Mauer und der Hungerpfad wird zu einem Feldweg, der auch von weniger hungernden Gestalten am Steuer eines Geländewagens zu bewältigen ist.

Devil‘s Torfabstich, © Hildegard Vogt-KullmannWir aber verlassen die Hungerstraße und steigen querfeldein zur ‘Upper Road’ hoch, einem kaum noch erkennbaren Weg, der in den Salrock-Pass übergeht. Der Teufel hat ihn geschaffen, als er versuchte den Heiligen Roc, wer immer er auch gewesen sein mag, an Ketten über den Berg zu schleifen – vielleicht zu seiner Mutter, die nicht weit von hier hinter Leenaun ihren Torfabstich hat. Was aus dem Unternehmen und dem Heiligen geworden ist, weiß ich nicht, doch war der Pass in der Folge bei ortsansässigen Schmugglern recht beliebt. Da wir nichts zu schmuggeln haben, genießen wir lieber die grandiose Aussicht, ehe wir nach Salrock hinunter steigen.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2003
© 2004 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 24.01.2007