Ein Schweizer in Irland

von Max E. Blunier

Intercontinental Hotel Corp. Ireland

Landsdowne Road, Dublin

Ich freute mich sehr auf das neue Intercontinental Hotel an der Landsdowne Road. Der Innenausbau war noch nicht ganz fertig, die Küche eine Baustelle mit herumstehenden Maschinen und Geräten, die gut verpackt in Plastikfolie und mit der Aufschrift der Schifffahrtslinie und dem Vermerk New York to Dublin gerade erst aus Amerika eingetroffen waren. Küchenchef Goldinger blieb gelassen; bis zur Eröffnung werde die Küche schon eingerichtet sein, er habe dergleichen in den Staaten mehrfach erlebt. So sei das nun einmal bei den Amis, Koordination und Organisation zur rechten Zeit bei ihnen unbekannt. „Don’t worry, wird schon irgendwie klappen,“ sei ihr Motto.

Nun, ich lasse mich überraschen. Es stellte sich heraus, dass auch zwei Chefs angestellt wurden, um bei der Eröffnung der weiteren Hotels in Limerick und Cork die Mitarbeiter zu schulen. Dazu kam als Sous Chef aus dem Libanon ein deutscher Zweimetermann namens Roland Fuchs und Peter Kistler aus dem fernen Osten.

Am Abend wurden wir von Head Chef Goldinger zu einem Welcome Drink eingeladen, und ich trank zum ersten Mal das fürchterliche, dunkelbraune, fast schwarze, bitter schmeckende, einen weißen Schaumkragen tragende Satansgetränk. Natürlich gab es viel zu erzählen und zu lachen an diesem Abend, und ich ging zurück mit einem Schwur auf der Zunge, das Gesöff mein Lebtag nicht mehr zu trinken. Wie gut, dachte ich, ist doch so ein kühles Schweizer oder Münchner Bier, klar wie die Sonne und zitronengelb, einen leichten, angenehm prickelndem Schaum, der wohlig über die Zunge dem Gaumen zufließt und gleich einem Gletscherbach sich erfrischend in die Tiefe stürzt, verglichen mit dieser zähen, dunkel bitteren Brühe! Die Irländer müssen Magenwände haben, wie regelmäßig geschruppte Badezimmerfliesen.

Ja, ich wusste noch nichts von der Philosophie irischer Getränke. Noch ahnte ich nicht, dass sich mein späteres Trinkempfinden ändern würde und auch meine Magenwände das sanfte, sämige, leicht bitter schmeckende Gesöff schätzen zu lernen wüssten.

Intercontinental war Anfang der sechziger Jahre neben Hilton eine aufstrebende Hotelgesellschaft, die im Orient und in Europa Fuß zu fassen versuchte. Ich hatte ich mich auf ein Inserat in einer Fachzeitschrift für das Gastgewerbe beworben und war prompt eingeladen worden, mich im Büro des Hotelierverein in Lausanne vorzustellen. Meine Sprachkenntnisse in Englisch waren auf Yes und No beschränkt, aber meine beruflichen Fachkenntnisse dank meines „jugendlichen Elans“ hervorragend. Mein Drang Neues zu erfahren war ungebunden. Nach dem Vorstellungsgespräch hatte ich das Flugticket im Sack und war selig. Eine ferne fremde Welt rief nach mir! Einbildung? Die Landsdowne Road liegt in Ballsbridge nicht weit von dem berühmten Landsdowne Sportstadion, wo sich die irische Nationalelf mit ausländischen Gegnern trifft, Kricketmatches ausgetragen werden und der CSI von Dublin stattfindet – Europas größte internationale Pferdespringprüfung, Treffpunkt berühmter Reiter-Asse wie Hans Günter Winkler, Tidemann, Nelson Pessoa, Paul Weier, Neckermann, Ch. Stückelberger u.v.m.

Wir hatten im Hotel alle Hände voll zu tun, mussten einkaufen, instruieren und organisieren. Wir zwei Gardemanger modellierten fleißig Butter und meißelten Eis für die kommende Eröffnung. Sie war ein voller Erfolg, die Brigade hatte hervorragende Arbeit geleistet. Die Direktion bemühte sich bis zum Küchenchef und ließ ein großes Kompliment fallen. Dann stand der Besuch von John F. Kennedy auf dem Programm. Er war gerade in Old Germany auf Besuch, ein großer Erfolg für Deutschland, denn Kennedy hatte an der Mauer vorübergehend die Staatsbürgerschaft gewechselt. Ich bin ein Berliner! Auf dem Rückflug wollte er noch seine Vorfahren in Irland besuchen, verbunden mit einem Besuch beim irischen Präsidenten. Jackie erwartete Nachwuchs und war zu Hause geblieben.

Nach einem Empfang bei Präsident de Valera kam Kennedy zu uns ins Hotel und spazierte am Kalten Büfett vorbei, das wir unter strengen Sicherheitsvorkehrungen zu seinen Ehren liebevoll zubereitet und aufgebaut hatten. Zwar kostete er nichts, aber es gab als Geschenk eine persönlich überreichte Halb-Dollar-Münze in Silber mit der ersten Kennedy-Prägung. Anschließend schlugen die Gäste aus der irischen High Society bis in die Morgenstunden die „Schlacht am kalten Büfett“ und gingen aus ihr souverän als Sieger hervor. Dabei waren die durch die englisch-amerikanische Küche geprägten Iren ganz froh, dass ihnen in der Küche ein paar „continental boys“ wie wir beistanden.

 
Gesundheitsscheck

Wir Ausländer hatten noch die Emigration Procedure zu absolvieren und mussten uns zum Bodycheck beim Vertrauensarzt der Einwanderungs-Behörde einfinden, damit die Arbeitsgenehmigung erteilt werden konnte. Der Check bestand wie üblich aus Blutentnahme, Pinkeln, Husten, tief Durchatmen usw. Bei fast allen klappte das reibungslos und die Bewilligung wurde ohne Umstände erteilt, nur nicht bei einem französisch sprechenden Genfer namens Josef (Schosef), der als Entremetier engagiert war. Seine abgelieferte Flüssigkeit war nicht in Ordnung und er wurde aufgefordert, sich noch mal fürs Pinkeln einzufinden oder den Vertrauensarzt aufzusuchen. Aber auch nach dem zweiten Mal war das Ergebnis negativ und wieder sollte oder besser musste er Flüssigkeit abliefern. Verärgert, dass das Wasser alles gefährdete, füllte er in die neu zugestellte Urinflasche abgestandenes Bier der Marke Harp und brachte sie sorgfältig verpackt persönlich auf die medizinische Abteilung zum „Urinary Test.“ Nach ein paar Tagen kam der Personal-Manager Lynch vorbei und bestätigte „Schosef“, dass alles in Ordnung sei und er die Arbeitsgenehmigung nun hätte.

Dass es hier Menschen gab, die wie er Lynch hießen, verwunderte mich. Lynchen war mir aus den „Seitengräbeler“ (Wildwestromanen) bekannt, die ich in meinen Pubertätsjahren zum Leid meines Vaters kiloweise verschlungen hatte. Ich wusste damals nicht, dass der Name Lynch von einer angesehenen Galwayer Familie stammt. James Lynch FitzStephen war von 1493 bis 1494 Bürgermeister von Galway. Nach einer der ältesten Legenden der Stadt soll er im Jahr 1493 seinen Sohn, der wegen der Ermordung eines spanischen Gastes, der sich an seine Verlobte herangemacht hatte, vom Gericht zum Tode verurteilt worden war, von eigener Hand aus einem Fenster seines Hauses gehängt haben. Der Henker hatte sich zuvor geweigert, das Urteil zu vollstrecken. Dadurch soll der Ausdruck lynchen entstanden sein.

 
Ennis Road, Limerick

Nach der Eröffnung des Dubliner Hotels musste ich mit unserem Sous Chef Roland nach Limerick fahren, wo eine weitere Eröffnung an der Ennis Road angesagt war. Roland übernahm die Küchenorganisation als Chef „ad interim“. Ein hervorragender Organisator, wie sich herausstellte.

Saftig grüne Wiesen zogen an unserem Expresszug vorbei, übersät mit dahingeworfenen Reiskörnern, die sich blökend und neugierig die Köpfe wendend für das ratternde Ungetüm interessierten. Dazwischen standen schwarzgefleckte Kühe, die sich voller Hingabe mit dem saftigen Grün beschäftigten und dem stinkenden Ungetüm verächtlich den Rücken kehrten. Ein Herde Pferde galoppierte aufgeschreckt durch den rasenden Zug mit glänzenden, im Wind flatternden Mähnen über die Weide. Eine wahrer Augenschmaus für einen „Continental Boy“ mit Pferdekenntnissen. Wir hatten daheim Reitpferde und wurden von unserem Vater schon früh im Umgang mit ihnen geschult, aber ein solch großes Rudel auf einer uneingezäunten Wiese hatte ich noch nie gesehen und hinterließ in mir einen unauslöschlichen Eindruck. Sie flogen mit einer Eleganz und Anmut über die wie von Künstlerhand gemalten sanften Hügel, als gäbe es keine Schwerkraft. Später durfte ich dieses höchste Glück auf Erden auf dem Rücken eines irischen Pferdes auf der Curragh von Kildare selbst genießen.

Limerick erwartete uns. Auch hier war im Hotel noch nicht alles eingerichtet und so hieß es ab in die Hosen und in die Hände gespuckt! Der Manager, ein Mr. R. Kulka, war ein amerikanisierter Rumäne, sehr charmant und hilfsbereit. War ja nicht anders zu erwarten, nachdem er uns seine bildhübsche Frau vorgestellt hatte, eine waschechte Pariserin mit allem drum und dran. Hurra, dachte der Koch in mir, jetzt gibt es französische Küche und Irish Stew allenfalls für die Angestellten. Leider blieb das bis auf wenige Ausnahmen ein frommer Wunsch.

In der Fremde lernt man vieles, nicht nur Brot essen. Das mussten auch Roland und ich am Eröffnungstag erfahren, der für einem Sonntag geplant war. Wir bildeten mit den irischen Kollegen ein gutes Team, es waren nette Kerle. Zur Feier hatte sich auch der Bischof angesagt und Roland instruierte mich über die Rituale. Da ich trotz meiner katholischer Mutter protestantisch erzogen wurde, war ich mit den katholischen Bräuchen nicht so bewandert. Aus Angst, ich könnte in ein Fettnäpfchen treten, erwog ich mich zu verdrücken, sobald die hohe Eminenz auftauchte. In vielen Überstunden hatten wir mit viel Liebe die Vorbereitung für ein schönes Menü hinter uns gebracht. Wenn ich mich recht erinnere, sah es so aus:

Smoked Limerick Salmon
Dublin Prawn Cocktail
Double Consommé with Sherry en tasse
Roasted American Prime Rip of Beef
Leg of Lamb with Mint Sauce
imerick Baked Sugar Ham
Broccoli, Fried Onions. Turnips
Mashed potatoes
Shortbread Apple Pie, Sherry Trifle, Torte St. Helen.
und u.v.m.

Saubere Berufskleidung war angesagt, jeder sollte eine zweite Garnitur für den Notfall bereithalten.

Samstagabend brachten Roland, Ray und meine Wenigkeit mit Hilfe von Ben Bord (ein nettes Original) die Küche auf Vordermann. Am nächsten Tag war um 6:00 Uhr in der Früh Arbeitsbeginn, Zeit zum Putzen war dann nicht mehr.

Am Sonntagmorgen lief alles wie am Schnürchen und wir konnten der Mannschaft schon um neun eine große Teepause gönnen. Roland, Ray und ich zogen uns kurz für einen Kleidungswechsel zurück. Anschließend gab es eine Manöverbesprechung mit dem Management, die Herstellung der Speisen war zu überwachen und diverse Kleinigkeiten mussten erledigt werden. Der Bischof sollte um 11 Uhr eintreffen und verschiedene Gebäudeteile segnen, gegen zwölf dann auch die Küche, und vor seiner Teilnahme am Bankett im Speisesaal ein kurzes Gebet sprechen.

Wir harrten der Dinge, die da kommen sollten, und glaubten alles im Griff zu haben. Die Küchen-Crew konnte noch in der Pause bleiben und sollte sich um elf wieder einfinden. Es wurde elf, der kirchliche Würdenträger erschien, es wurde 11:15 h und 11:30 h – die Küchenbrigade tauchte nicht auf. Roland schickte mich in den Pausenraum, um die Mannschaft herbeizuzitieren. Kein Mensch da! Was war passiert? Waren sie nach draußen gegangen? Dort war auch keiner. Ich eilte zurück und erstattete Meldung. Lange Gesichter und fragende Blicke. Was war schiefgelaufen? Es war doch kein Streik angesagt, oder doch?

Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Bankett selbst zu servieren. Wir begannen hektisch mit den Vorbereitungen: Platten bereitstellen, Vorschneiden, Saucen aufmontieren und zusehen, dass alles schön heiß für den Service ist. Erneute Absprache: wer von uns macht gleich was? Eigentlich wollten wir „Ruhe ausstrahlen“, wenn der Bischof zum Segnen der Küchenräumlichkeiten kam, doch daraus wurde nun nichts. Und verdrücken konnte ich mich auch nicht mehr.

Punkt 11:45 h. Die Tür geht auf und in Begleitung von drei Jüngern erscheint die Eminenz. Ihre eine Hand schwingt ein rauchendes Ding, die andere sprengt irisches Wasser in alle Himmelsrichtungen. Und was sieht mein jugendliches Auge? In seinem Schlepptau umgeben von viel Prominenz den Manager, gefolgt von unserer Küchenbrigade. Ein Stein fällt uns vom Herzen und wir betrachten den „lieben Segnenden“ als Glücksbringer. Wo er die Köche wohl aufgegabelt hat?

Egal, Hauptsache, sie sind da, und so verläuft das Bankett reibungslos. Beim gemeinsamen Kaffee fragen wir unsere Kollegen, wo Sie um alles in der Welt sie gesteckt hätten und warum sie nicht um elf in der Küche waren? Die Antwort hätte simpler nicht ausfallen können: sie waren in der Kirche, denn das gehört sich nun einmal am Sonntag. Nach dem „Break“ habe der Gang zur Messe zeitlich gut gepasst und natürlich Priorität gehabt. Nur habe diese eben ein bisschen länger gedauert. Salm Max, schon wieder was gelernt, vom lieben Gott! Irische Nerven muss man haben! Take it easy, das Bankett war schließlich erst nach der Segnung angesagt!

 
Hektische Tage

Die Eröffnung war ein voller Erfolg und die Presse nicht kleinlich mit den Komplimenten an die „French“ Head Chefs vom Kontinent. Roland ging zurück nach Dublin und ich blieb zur Unterstützung Rays, der zum Küchenchef avancierte. Kaum ein Ire hatte damals die Chance, eine Lehre als Koch zu machen. Anders als wir vom Kontinent hatten sich die meisten irischen Köche vom Küchenburschen hochgearbeitet, ohne jemals eine Fachschule besucht zu haben. So fehlte ihnen viel Fachwissen, insbesondere was die französische Küche anbelangt.

Ein Bankett folgte dem anderen. Die verschiedenen Clubs und Organisationen der Region wollten sich unbedingt im neuen Hotel an der Ennis Road ein Stelldichein geben. Gut für das Hotelgeschäft, anstrengend für das Personal. Ruhetage waren vorerst gestrichen, und wir arbeiteten oft 12–13 Stunden pro Tag. Die irischen Angestellten waren gewerkschaftlich gut organisiert und beschränkten sich auf ihr Pensum von acht Stunden. Dann blieb halt das schmutzige Geschirr stehen und der Boden ungewischt. Soll doch das Management schauen! Da ich eine schmutzige Küche nicht ausstehen kann, kam es vor, dass ich bis um zwei in der Früh am der Abwasch stand oder den Küchenmob mit heißem Seifenwasser über den Boden schwang. So ging das rund zwei Monate, bis eines Nachts der Manager auf einem Kontrollgang in der Küche auftauchte und erstaunt war, mich noch anzutreffen. Am nächsten Tag gab es ein außerordentliches Meeting, und plötzlich hatten wir Personal in Hülle und Fülle.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keinen einzigen meiner freien Tage genommen. Das änderte sich auf der Stelle. Der Manager ordnete an, dass ich diese ab sofort in Anspruch nehmen und mich ein bisschen mit der schönen irischen Landschaft befassen sollte. Leichter gesagt als getan! Ich sprach kein Englisch und hatte mich bis dahin hauptsächlich auf Französisch und Deutsch verständigt.

Die Lösung lag auf der Hand. Um die Gegend mit dem Auto zu erkunden, braucht man kein Englisch. Das Autofahren, sollte kein Problem sein, denn ich besaß einen deutschen Führerschein, erworben während einer früheren Tätigkeit in Elfershausen, und hatte auch ein wenig Fahrpraxis vorzuweisen. Also organisierten der Hotelmanager und unser Head Chef Ray bei Ryan’s Rent a Car für mich einen VW 1200. Preis £1½ pro Tag.

 
Road Traffic Act 1933 Ceadúnas Tiomána

Gleich in der Früh zog ich mit Ray los, um das gemietete Auto bei Ryan’s Rent a Car in der O’Connell Street abzuholen. Das Büro befand sich im ersten Stock eines Gebäudes direkt neben dem legendären Royal George Hotel. Nachdem ich die nötigen Formulare mit Rays Hilfe ausgefüllt hatte, verlangte der Mitarbeiter meinen Führerschein. Voller Stolz zog ich das wichtige Dokument aus der Tasche und legte es dem Burschen direkt unter seine Nase auf den Tresen. Es hatte mich viel Geld gekostet: 13 DM die Stunde, und mindestens 13 Stunden hatte ich mit meinem Fahrlehrer absolviert, ehe ich zur Prüfung zugelassen wurde. Vor Aufregung und Vorfreude war ich dann bei Rot über die Kreuzung am Kurpark in Bad Kissingen gebrettert, so dass eine zweite Prüfung angesagt war und ich weitere 4 Std. zu je 13 DM plus Prüfungsgebühr locker machen musste.

In Irland war das alles viel einfacher, hatte ich mir sagen lassen. Hier war seinerzeit zur Erlangung einer Driving Licence noch nicht einmal eine Fahrprüfung erforderlich. Wenn man älter als 16 Jahre war und nicht über 70, die Verkehrsregeln beherrschte und mit Hilfe eines Freundes oder Bekannten etwas Fahrpraxis nachweisen konnte, erhielt man gegen Zahlung eines bestimmten Geldbetrages den begehrten Schein. Da sollte es mein mit viel Mühe und für viel Geld erworbenes Dokument wohl erst recht tun!

Stirnrunzelnd betrachtete der Mann hinter dem Schalter das Papier, wendete es mehrmals zwischen den Fingern und schüttelte den Kopf. Schließlich teilte er Ray mit, dass meine Fahrerlaubnis in Irland leider nicht anerkannt sei und ich einen irischen oder internationalen Führerschein benötigte. Ich konnte es kaum glauben: sonst waren die Iren vom deutschen Perfektionismus doch immer so angetan! Und da sollte ein ‘German Document’ nicht gelten? Ray stellte ihm noch ein paar Fragen, bevor wir uns höflich verabschiedeten.

Als wir wieder draußen waren, kam Ray in Fahrt. „So Max, jetzt besorgen wir uns die Bewilligung bei unserem Freund Pat auf der Polizeistation, der wird dir einen irischen Führerschein verschaffen.“ Die Polizeistation lag, wenn ich mich recht erinnere, an der Ecke Patrick Street / Denmark Street, und man musste einige Treppen hinuntersteigen, um in das Refugium von Pat Masterson und seinen Kollegen einzutauchen. Eine kleine Glühbirne erhellte den düsteren Raum mit einem spärlichen Licht, die Fenster gaben den Blick frei auf die vorbeimarschierenden Beine der Passanten auf dem Gehsteig. Fest verankert an der Wand stand ein mächtiger, bis an die Decke reichender Tresor, der mit einem massiven Schloss versehen war, aus dem eine einem Ruder ähnliche Kurbel ragte, die die Dicke der Schließtür erahnen ließ. Daneben stand ein Kleiderständer, behangen mit Uniformteilen. Die Mitte des Raums wurde von einem Tisch aus massivem Holz eingenommen, drumherum vier Stühle: einer für den Delinquenten und die anderen für den Verhörrichter, den Protokollführer und einen Zeugen. Unter dem größten Fenster befand sich ein Bürotisch mit einigen abschließbarer Schubladen für den Postenchef.

Pat war anwesend und freute sich sehr, uns zu sehen. Die Begrüßung dauerte etwas länger als gewöhnlich, denn Pat musste seinen Kollegen den ‘Bekannten aus Schweden’ vorstellen. Dabei meinte er natürlich mich, denn Switzerland war für Pat Schweden – was soll’s, es tönt ja auch so ähnlich. Nachdem mich dann jeder kannte und wusste wo ich arbeitete, setzte Pat seine Amtsmiene auf, holte seine blaue Schirmmütze mit dem grauweißen Muster vom Kleiderständer, ordnete noch schnell ein paar herumliegende Papiere auf seinem Pult und fragte mit ernstem Blick nach unserem Anliegen.

Well, mein Driver Ray erklärte ihm das Problem, und ich musste meinen Führerschein erneut zeigen. Dabei verstand ich nur ein paar englische Brocken, die sich in die irische Konversation mischten: „I know, I see, no problem, of course ...“ Doch es funktionierte! Er nahm den Telefonhörer in die Hand, wählte mit dem Bleistiftende eine Nummer, sprach dann ein paar irische Sätze in die Sprechmuschel, worauf er angespannt lauschte. Ab und zu machte er sich auf einem Zettel ein paar Notizen und bedankte sich mehrfach. Zum Schluss legte er den Hörer mit einer eleganten Handbewegung auf die Gabel. Nun befeuchtete er seine Finger mit der Zunge, zog ein Formular aus einer nicht einsehbaren Schublade des massiven Tisches, füllte sorgfältig ein Dokument aus und setzte mit einem gekonnten Schnörkel seine Unterschrift darunter. Schließlich überreichte er uns das Formular mit einer ausführlichen Erklärung auf Irisch und Englisch. Dann holte er zur Verabschiedung seinen ‘Chapeau’ von der Ablage und begleitete uns zur Tür.

Driving LicenceNachdem wir uns ordentlich bedankt hatten, entließ er uns aus seinem Reich. Wir fuhren zur Stadtverwaltung und siehe da, der Ausweis lag im Verkehrsbüro schon bereit. Nach einem kurzen Blick auf das Formular musste ich nur noch die Geldbörse zücken und ein paar Guineen hinlegen. Wie viele genau, weiß ich leider nicht mehr. Egal, jetzt war ich im Besitz einer irischen Driving Licence, ausgestellt für die Dauer vom 9. Sept. 1963 – 8.Sept. 1964!

Am nächsten Morgen stand ich schon kurz nach Büroöffnung bei Ryan’s Rent a Car am Tresen, präsentierte meine neue Errungenschaft und nahm die Bestätigung des Mietvertrages für den Leihwagen in Empfang. Den Wagen sollte ich um die Ecke herum bei einer Autovermietung in der Shannon Street vollgetankt abholen. Dort wurden mir der Schlüssel von einem hellblauen, fast neuen VW 1200 überreicht und die verschiedenen Instrumente und Funktionen ausführlich erklärt. Viel verstand ich mit meinem Englisch nicht, doch glücklicherweise kannte ich das Fahrzeug aus Deutschland, wo mein Onkel eine VW-Werkstatt in Bischofsheim in der Rhön besaß. Auf seinem Werkhof hatte ich auch schon die eine oder andere Schwarzfahrt unternommen.

Ray hatte versprochen, mir noch ein paar Fahrstunden zu geben, doch zum Intercontinental (heute Jurys Hotel) musste ich erst einmal ohne seine Hilfe kommen. Und das im Linksverkehr! Stolz bestieg ich den gemieteten fahrbaren Untersatz und machte mich in Richtung O’Connell Street auf, bog dann links zur Sarsfield-Kreuzung ab und fuhr über die Sarsfield-Brücke zum Hotel. Geschafft! Anschließend setzte sich Ray zu mir und machte mich mit den irischen Verkehrsregeln vertraut.

 
‘Verkehrsmarmelade’

Traffic Jam – wenn man mag, kann man es wörtlich mit ‘Verkehrsmarmelade’ übersetzen – nennt man in Irland einen Verkehrsstau. Und eine solche Verkehrsmarmelade rührte ich gleich an meinem zweiten Tag als Autofahrer an.

Nach der Einführung durch Ray in die Geheimnisse des irischen Straßenverkehrs wagte ich mich am nächsten Tag wieder allein hinter das Steuer. Ich fuhr über die Sarsfield-Brücke auf die O’Connell-Kreuzung zu, um dort in die Clare Street abzubiegen und über sie zur Dublin Road zu gelangen. Auf der Brücke stotterte der Motor ein bisschen. Ich maß dem keine Bedeutung zu, verstand auch nicht viel von Motoren. Der Tank war ja voll, der Wagen fast neu, was sollte da schon nicht stimmen? Kurz vor der Kreuzung stotterte der Motor erneut, so als habe er sich eine Erkältung eingefangen. Schließlich ein Aussetzer und ein kurzes Wiederanspringen. Das wiederholte sich zweimal, dann war es endgültig vorbei. Die Kupplung tretend rollte ich noch sanft bis zur Mitte der Kreuzung. Aus und vorbei!

Da stand ich nun mitten auf der Kreuzung und versuchte, den Motor erneut zu starten. Ein die Ohren nervendes, unangenehmes Knirschen des Anlassers, doch nichts rührte sich. Jetzt würde sicher ein Hubkonzert ansetzen, begleitet von nicht sehr wohlwollenden Fingerzeichen. Aber nichts geschah! Kein Hubkonzert, im Gegenteil, die anderen Verkehrsteilnehmer boten mir Ihre Hilfe an und schoben mich über die Kreuzung an den Straßenrand. Derweil hatte sich im Mittagsverkehr ein Stau gebildet. Da tauchte ein Gesetzeshüter auf, stellte sich auf die Kreuzung und löste das Verkehrschaos mit ein paar Handzeichen und Trillerpfiffen auf. Dann kam er auf mich zu. In meinen Gedanken sah ich ihn zu einem gespitztes Bleistift und Strafzettel greifen, doch beim näheren Hinsehen erkannte ich meinen neuen Freund Pat vom Polizeiposten. Ich erklärte ihm die Situation so gut ich konnte. Auf seine Anweisung hin inspizierten wir gemeinsam den Motorraum, aber ohne einen Schaden feststellen zu können.

Nun hat bekanntlich jedes moderne Auto in der Nähe des Lenkrades eine Benzinuhr, so auch der VW-Käfer. Pat, ein wahrer ‘Allround Man’, bat mich, mich hinters Lenkrad zu setzen und den Motor erneut zu starten. Und da geschah es: rein zufällig fiel mein Blick auf die Anzeige mit dem kleinen, weißen Zeiger – und dieser wies auf das Wort Empty. Jetzt war alles klar. Aber so ganz doch nicht! Warum war kein Benzin im Tank? Es war mir doch bei der Wagenübergabe groß und breit erklärt worden, ich hätte ihn beim Zurückbringen mit vollem Tank zu übergeben, da ich ihn auch so übernehmen würde. Mit meinen mäßigen Englischkenntnissen war es nicht einfach, meinem Helfer diesen Sachverhalt zu erklären. „Stay here Max, I’ll be back in few minutes“, sagte er zu mir, schwang sich auf seinen an der Wand lehnenden Drahtesel und radelte davon.

Nach ca. 15 Minuten tauchte er mit einem Kanister wieder auf, gefüllt mit der dringend benötigten Motorenessenz. Er erklärte mir, er wäre mal eben zur Autovermietung geradelt und hätte den Chef gesprochen, der seine Entschuldigung ausrichten ließe. Ich solle zurück zur Garage fahren, wo der Wagen dann aufgetankt würde. Außerdem könne ich ihn wegen dieser Unannehmlichkeit einen Tag länger behalten. Ich bedankte mich bei Pat ganz herzlich für die Hilfe und wollte ihn für den Aufwand entschädigen, hatte aber nicht mit dem Stolz eines irischen Garda gerechnet. Das sei doch Ehrensache gewesen, und zudem sei ich mit Ray Barriscale befreundet, denn er sehr gut kenne und schätze. Es würde ihn aber freuen, wenn ich mit ihm bei Gelegenheit nach Feierabend in Paddy’s Pub einen ‘Drink and a half’ nehmen würde ...

So sind die Iren: immer hilfsbereit. Doch jetzt fuhr ich erst einmal zum Tanken und erfuhr, dass mir aus Versehen der falsche Wagen ausgehändigt worden war. No problem, kann ja mal passieren! Und dann startete ich erneut in den Abendverkehr.

Mitunter musste ich von Limerick zum Intercontinental nach Cork. Zirka 2½ Stunden dauerte die Fahrt, und unterwegs begegneten mir nicht mehr als ein Bus oder ein bis zwei PKWs. Die Chance auf ein Connemara-Fuhrwerk zu stoßen war höher als ein Auto zu Gesicht zu bekommen. Ganz anders in Dublin, dort wimmelte es zur Mittags- und Abendzeit nur so von Kraftfahrzeugen und in der O’Connell Street war der Teufel los. Ich habe mich oft gefragt, von woher die vielen Autos in die Stadt kamen.

 
Learning English

Ray ist also Küchenchef. Er spricht ein gutes Französisch, und so können wir uns hervorragend unterhalten. Ich mag ihn und seine korrekte, manchmal mit irischem Humor durchzogene Art. Er war in Lausanne gewesen und hatte dort in einem Gastgewerbebetrieb mit Bäckerei gearbeitet. Seine Hobbys sind Golfen und Pferdewetten. Schon bald hat er eine Wettcrew zusammen, und täglich werden eifrig die letzten Seiten der Tageszeitung studiert. Pounds, Shillinge und Pennys wechseln ihren Besitzer. Langsam werde auch ich in die Wettregeln eingeführt, jedoch in französischer Sprache. Der Manager bekommt mein sprachliches Manko mit und erklärt der ganzen Equipe, dass mit dem Schweizer von nun an nur noch auf Englisch kommuniziert werden darf.

Eine schwere Zeit kommt auf mich zu. Ich gehe ins Kino oder ins Pub, kaufe mir Zeitungen, die ich nicht lesen kann, oder vergrabe mich in Arbeit. Frei nehme ich mir kaum noch, denn was soll ich außerhalb des Hotels schon tun? Fußball und Kricket spiele ich nicht! Mit dem Leihwagen werde ich mobil, könnte Irland kennen lernen. Toll, aber ohne Begleitung? Sprachkurse finden meist während meiner Arbeitszeit statt. Margaret, das Cashier Girl, kriegt das spitz, will vielleicht gerne mal mitfahren und fragt Ray, ob es nicht möglich sei, dass ich sie bei Gelegenheit nach Hause begleite. Ob er mich mal fragen würde? Mit verschmitztem Lachen unterbreitet mir Ray das schwierige Anliegen. Natürlich bin ich nicht abgeneigt, die junge hübsche Dame mit ihren stahlblauen Augen und einem Wimpernaufschlag wie Marilyn Monroe mit französischem Charme zu begleiten, aber die Sprachbarriere bereitet mir arge Sorgen. Am nächsten Abend ist es dann soweit und ich darf den Kavalier spielen. Ist da ein irisches Abenteuer im Anzug?

Nach getaner Arbeit treffen wir uns am Lieferanteneingang und los geht’s, natürlich unter den interessierten Augen meiner Wettkollegen. Kaum sind wir um die Ecke des Hotels, nimmt sie mich unter ihre Fittiche und der Sprachkurs nimmt seinen Lauf: „We go over the bridge“. Dann an der Kreuzung: „That’s a corner and now we go to the left up to the O’Connell Street!“

Der Fortschritt ist frappierend. Wir laufen und laufen, und ehe wir die Stadt verlassen haben, hat sich mein Wortschatz verdoppelt. Die nächste Lektion folgt auf dem Fuß. Bei den letzten Häuser zieht mich Margaret unverhofft in einen durch ein schmiedeisernes Gitter geschützten Hauseingang und fragt unmissverständlich: „Please, Max would you kiss me?“ Schon ist es passiert, zwei Arme umschlingen mich und ich habe meine erste Lektion in irischer Lippengymnastik hinter mir. Bestimmend und doch zart und voller Wärme drängt sie mich in die Ecke, so dass ich nicht flüchten kann. Dabei habe ich noch einen langen Nachhauseweg vor mir. Ich setze mein ganzes Können ein, und Margaret ist glücklich, mit einem Frenchman geflirtet zu haben.

Am nächsten Tag wissen alle Kolleginnen von meinen nächtlichen Strapazen. Zur Freude meines Chefs und meiner selbst wird der Sprachkurs regelmäßig weitergeführt und zeigt enormen Erfolg. Ja, so sind sie, die Irländerinnen, manchmal wild und draufgängerisch, dabei offen und ehrlich und immer hilfsbereit. Ich liebe sie über alles! Die Sache hat nur einen Haken: meine Freundin aus der Schweiz kommt im Herbst als Au-pair-Mädchen nach Irland, und so werde ich die Englischstunden spätestens dann absetzen müssen. Margaret zeigt Verständnis, und wir haben noch viel zusammen gelacht und gescherzt. Sie war eine gute Lehrerin.

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Ein Schweizer Koch in Irland – © 2006 Max E. Blunier & Jürgen Kullmann