Ein Schweizer in Irland

von Max E. Blunier

The Curragh of Kildare

Oh the winter it has passed
And the summer’s come at last,
The small birds are singing in the trees
And their little hearts are glad –
Ah, but mine is very sad
Since my true love is far away from me.

And straight I will repair
To the Curragh of Kildare,
For it’s there I’ll finds tidings of my dear.

Lied, das zur der Eröffnung der Pferderennen auf der Ebene
von Curragh in der Grafschaft Kildare gesungen wird.

 
Ein freier Tag im Mai

Es war an einem miesen, regnerischen Tag Anfang Mai 1963. Einmal am Tag regnet es in Irland, sagt man. Meist nur ganz kurz. ‘It’s a lovely day, isn‘t it?’, heißt das bei den Iren. Ich hatte meinen freien Tag, ein Tag, an dem man am besten die Bettdecke über den Kopf zieht und weiterschläft oder die Zeit mit einer guten Lektüre im Bett verbringt. Der Sturm peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben und ließ ein Weiterschlafen kaum zu. Also machte ich mich auf in die Küche, um noch ein bisschen etwas vom Frühstück zu erhaschen. Ray, der Chef, schaute auf die Uhr und lachte: „Hey Max, what’s wrong with you, so early up on such an unfriendly day?“ Nun, er wusste, dass ich mich an meinem freien Tag gerne länger im Bett aufhielt und in irische Zeitungen vertiefte. Denn ich hatte laut Anordnung des Managers Englisch zu lernen, und die Zeitungen gehörten wie auch das Kino zum Lernprogramm. Also war heute zwecks Weiterbildung ein Kinotag angesagt, dann vielleicht noch ein kurzer Besuch bei Terry an der Roof Bar im Royal George Hotel oder bei Paddy O’Brien im ‘Pub over the Bridge’. Ich nannte solche Tage ‘Conversation Days’. Man lernte schnell und ohne großen Aufwand und wurde dabei immer freundlich korrigiert.

Mein Vater zu Pferd, © 2010 Max BlunierTerry hatte bei uns zunächst als 1st Housekeeper im Hotel gearbeitet, sich jedoch in dem Job gelangweilt und war, als ihr das Royal George die Stelle in der Roof Bar angeboten hatte, in ihren gelernten Beruf als Barmaid zurückgekehrt. Die Roof Bar befindet sich auf dem Dach des Hotels und lässt einen Blick über die ganze Stadt Limerick bis weit ins Shannon-Delta zu. Sie war der Treffpunkt aller sportbegeisterter Limericker, und Terry liebte den Kontakt mit Menschen. An der Bar war sie näher bei der Kundschaft als bei der täglichen routinemäßigen Zimmerkontrolle im Hotel.

Während unserer kurzen Zusammenarbeit lernte ich Terry als typische Irländerin kennen, stets freundlich und hilfsbereit, immer ein sanftes Lächeln auf den Lippen oder ein paar nette Worte auf der Zunge. Sie war eine ausgesprochen schlanke Schönheit ohne dabei mager zu wirken, hatte gerade, lange Beine, die sanft zu schwungvoll gerundeten Hüften führten. Eine Taille, vom Durchmesser nicht größer als ein Dessertteller, führte zu einem wohlgeformten Busenansatz. Dann blieb der Blick für kurze Zeit auf den gleichmäßig runden Hügeln ruhen, um anschließend zögerlich nach oben zu gleiten und in einem elfenbeinfarbenen Gesicht hängen zu bleiben. Eine gerade, wohlgeformte Nase, auf der sich ein paar lustige Sommersprossen über dem Nasenbein tummelten, wurde von zwei türkisfarbenen Augen bewacht. Blonde, leicht ins Rötliche glänzende Haare umrahmten das schöne Gesicht mit den leicht gewellten, immer feuchten Lippen. Jede Modezeitschrift wäre stolz gewesen, sie auf der Titelseite zu haben. Gar nicht typisch irisch war Terrys Make-up. Selten verwendete sie Puder oder Lagen von Schönheitscreme. Dezent stimmte sie ihre Lippen auf die Farbe der Kleider ab. Die ganze Natürlichkeit der grünen Insel kam in ihrem Erscheinen zum Ausdruck. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an. Doch abgesehen vom Äußeren musste man sie schon von ihrem Charakter her gerne haben! Eine tolle Kameradin mit der man Pferde stehlen konnte und die immer zu einem Spaß aufgelegt war.

Vor dem Kino traf ich auf Anne. Sie war Terrys Nachfolgerin als Houskeeper und wusste nicht so recht, was sie mit dem Tag anfangen sollte. Auch sie hatte frei. Also beschlossen wir, uns gemeinsam einen Actionfilm anzuschauen. Es war ein Film mit James Cagney und handelte über die amerikanische Mafia während der Prohibition von 1919–1932. Der Kleine mit dem kantigen Gesicht schlug sich mit seinen Fäusten und dem locker sitzenden Schießeisen nicht schlecht durch. Anne war stark beeindruckt und umklammerte meinen rechten Arm wie mit einer Schraubzwinge.

Nach dem Kino lud ich Anne ein, mit mir auf einen Drink ins George zu kommen, was sie gerne annahm. Sie war eine dunkle Schönheit, ein bisschen korpulent, was auf einen starken Knochenbau schließen ließ, hatte dunkelbraune, fast schwarz wirkende Augen und eine kleine runde Nase, darunter ein Kirschmund. Kohlrabenschwarze, kräftige Haare fielen gescheitelt sanft auf die kräftigen runden Schultern. Bewusst und mit sichtlichem Stolz trug sie ihre zwei festen runden Brüste durch die Gegend und erfreute sich an den verstohlenen, männlichen Blicken. Gerne schaute sie im Hotel den Köchen, vor allem Michael Kennedy, über die Schulter und drückte dabei ihren Busen an seine Schulter. Der arme Kerl, gut einen Kopf kleiner als Anne, geriet dann ganz aus dem Häuschen und sah sich schon als kommender Schwiegersohn eines stadtbekannten Architekten vor dem Traualtar, was Anne, die sich köstlich über die Erregtheit ihres kleinen, dicken Chefs der Partie amüsierte, kalt ließ. Sie hatte ganz andere Ziele im Auge.

Terry freute sich riesig über unseren Besuch und offerierte uns den ersten Drink. An der Bar saß ein mittelgroßer, vor sich hin sinnierender, wortkarger Gentleman und nippte an einem Gin Fizz. Wie in Irland üblich, stellte uns Terry mit den Vornamen vor. „Ich heiße Lester“, antwortete er, „werde aber meist Larry gerufen. I don’t care about.“ Wir unterhielten uns mit Terry über das Neuste aus dem Gastgewerbe. Nachdem Larry eine Zeit lang zugehört hatte, fragte er mich, woher ich eigentlich komme, denn ich hätte so einen fremdartigen Akzent. Ich sagte ihm, dass ich Schweizer sei und im Intercontinental Hotel als Koch arbeitete. Er bewundere die Schweiz, meinte er, und ganz besonders den jungen Joe Siffert, der ein exzellenter Autorennfahrer sei und ganz groß im Kommen. Von Siffert wusste ich aus den Zeitungen, dass er Motorradrennen bestritt, von Autorennen war mir bis dato nichts bekannt.

Kildare 1963, © 2010 Max BlunierAls Larry kurz auf die Toilette verschwand, stupste mich Terry am Ärmel und sagte: „Weißt du eigentlich, wer das ist?“ „Nein, wer denn?“ „Das ist Lester Piggott, der Jockey!“ Mir sagte der Name nicht viel, doch mein Vater als Pferderennsport-Begeisterter hätte sich die Haare gerauft, dass mir eine solche Berühmtheit fremd war. Als Larry zurückkam, erzählte ich, dass mein Vater (auf dem rechts abgebildeten Foto zu Pferd) ein begeisterter Kavallerist und ‘angefressener Pferderennplatzbesucher’ war. Erst vor wenigen Tagen hatte er mir geschrieben, er würde im Frühjahr oder Sommer mit seinem Reitkollegen Kurt nach Irland kommen und ich solle mich schon einmal um eine Unterkunft kümmern. Bei der Verabschiedung gab mir Larry seine Visitenkarte und forderte mich auf, doch einmal den Rennplatz auf der Curragh oder das irische Nationalgestüt in Kildare zu besuchen.

Ich begleitete Anne nach Hause, und sie lud mich zu einem Tee ein. Ihr Vater war Architekt und zur Zeit mit seiner Frau auf der Maasdam nach Rotterdam unterwegs. Die Maasdam kannte ich sehr gut, denn 1959–60 war ich während des Winters für die Holland-Amerika-Line auf ihr gefahren und hatte allerlei auf dem Pott erlebt. Nach dem Tee machte ich einen Abstecher zu Ray in die Küche und zeigte ihm die Visitenkarte. Ray klärte mich über den Jockey auf: „Max, er ist der zur Zeit beste Jockey der Welt. Er hat mit 18 Jahren auf ‘Never Say Die’ das britische Derby gewonnen und in den letzten paar Jahren mehr als hundert Siege pro Jahr nach Hause geritten, darunter namhafte Rennen wie Epsom, l’Arc de Triomphe, Ascot und viele mehr. Der ist eine Legende! Er ist zwar Engländer, aber wir zählen ihn zu den Unsrigen, und er wird wegen seiner für einen Jockey ungewöhnlichen Größe ‘The large Fellow’ genannt! Wenn du wettest und er ist im Rennen, dann setz auf ihn, er ist ein wahrer Winner!“ Doch wetten war bei meinem bescheidenen Lohn leichter gesagt als getan, und wenn Lester Piggott ritt, stiegen die Wetten.

Ich zögerte, bevor ich fortfuhr: „Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm, er starrte mich immer so an, und man musste ihm jedes einzelnes Wort aus der Nase ziehen?“ „Nun“ erwiderte Ray, „der Trainer Paddy Prendergast hat mir mal erzählt, dass er auf einem Ohr taub ist, einem deshalb auf den Mund schaut und manches von den Lippen abliest. Das hat ihn wohl recht wortkarg gemacht, doch er ist ein Prachtkerl und hervorragender Sportler, manchmal auch ein bisschen exzentrisch. Einmal riss er, nachdem er seine eigene verloren hatte, einem Kopf-an-Kopf neben ihm reitenden Konkurrenten die Peitsche aus der Hand und ritt zum Sieg. Das brachte ihm eine saftige Buße ein. Jedenfalls sind die Journalisten immer scharf auf eine Story von Lester, und er gehört zu den Größten seiner Zunft, nicht weniger als der legendäre Richardson oder William Lee Shoemaker, Pete Taffee, McCarron und Willie Burke usw.“

Ich war stark beeindruckt und stolz, eine solche Koryphäe getroffen zu haben, und nahm mir vor, bei Gelegenheit ins Mekka des irischen Pferderennsport auf die Curragh-Ebene zu fahren. Wer weiß, vielleicht würde ich das markante, stille Faltengesicht dort noch einmal treffen.

 
Das Rennen von Kildare

Der Besuch meines Vaters war angesagt. Ich meldete meinen Urlaub an, mietete ein Auto bei Ryan-Rent-A-Car und fuhr Ende Juni nach Dublin, um meinen Vater und seinen Reitkollegen Kurt am Flughafen abzuholen.

Die Fahrt von Limerick nach Dublin führte über eine holprige Überlandstraße. Hatte man die Stadt an der Shannonmündung hinter sich gelassen, ging es weiter über Nenagh, Roscrea und Portlaoise auf die flache und grüne Hochebene von Kildare. Hier konnte es schon einmal vorkommen, dass die Straße durch ein Meer von Schafen führte. Dann drosselte man die Geschwindigkeit und die Herde teilte sich wie ein Reißverschluss und machte die Straße frei zur Durchfahrt. Kaum hatte man die ersten Schafe passiert, schloss sich am Heck der Reisverschluss auch schon wieder.

Am Flughafen holte ich meine Besucher ab. Natürlich war der gemietet Wagen, ein VW Käfer 1300, viel zu klein für vier Personen nebst Gepäck, denn Kurt hatte seine Frau mitgebracht und die beiden waren andere Fahrzeuge gewöhnt. Im Hotel bemühten wir uns um ein größeres Auto, was in der Hochsaison gar nicht so einfach war. Aber es klappte.

Blicke vom Royal George Hotel Limerick 1963, © 2010 Max BlunierMein Vater und Kurt hatten bereits alles geplant und wollten beim alljährlichen Rennen auf der Curragh of Kildare mit dabei sein. Also besorgten wir uns gleich am nächsten Tag im Büro der Irish Horse Racing Association am Merrion Square Tickets für das Irish National Derby. Seit Tagen wurde im Radio, im Fernsehen und in den Pubs von nichts anderem mehr gesprochen, und vor den Wettbüros standen in langen Schlangen die Wettlustigen. Am Sonntag fuhren wir von unserem Hotel an der Dubliner Landsdowne Road Richtung Kildare. Es gab noch keine Autobahn. Zwar wurden die Straßen im Grossen und Ganzen gut unterhalten, doch ab und zu erwischte man eine, die mit Schlaglöchern nur so übersät war. Quer durch die Stadt führte die unsere an der Guinness Brauerei vorbei nach Naas und dann weiter nach Newbridge in der Grafschaft Kildare. Eine wunderbare Gegend: rechts und links saftige grüne Wiesen, darauf wie gemalt eine Herde Schafe, daneben ein paar Pferde, die sich genüsslich am saftigen Gras erfreuten. Ab und zu sah man ein paar Apprentices (Jockey-Lehrlinge) im gestreckten Galopp oder leichtem Trab über die flachen Wiesen preschen.

Je näher wir Kildare kamen, desto mehr nahm der Verkehr zu. Pferdekutschen, Autos und Busse aus allen Gegenden Irlands sowie England, Nordirland und Frankreich rollten dem einen Ziel zu, dem Rennplatz auf der Curragh-Ebene von Kildare. Wir wurden auf einen Parkplatz dirigiert. Kurt erkundigte sich im perfekten Englisch anhand der Platzkarten nach dem Eingang. Laut schreiend wiesen vor dem Stadion die Buchmacher auf ihre schwarzen Tafeln. Es war eine Sprache von einem anderen Planeten, in einem Crescendo wurden Zahlen und Wörter heruntergeleiert, als ob der Weltuntergang nahte. Der Eintritt ins Stadion überwältigte mich, ich glaubte in ein früheres Jahrhundert katapultiert worden zu sein. Heerscharen von Gentlemen mit schwarzen Zylindern, Melonen oder Schirmmützen im Schottenmuster liefen im Cut oder Stresemann herum, am Revers eine farbige Nelke oder Rose. Ausgerüstet mit Schirm oder Stock, die Startlisten in der Hand und den Trenchcoat über dem Unterarm, stolzierten sie mit einer dicken Churchill oder teuren Shagpfeife im Mund in Richtung Rennplatz. Ein Gentleman begrüßte den Hut lüftend mit einer leichten Verbeugung eine Dame, gesellte sich für ein kurzes Fachsimpeln zu einem der vielen Grüppchen, um dann wieder in der Menge zu verschwinden.

Und erst die Damen! Wie auf eine Magerwiese gesät ein Blumenmeer von farbigen Hüten in allen Farben, mit Früchten oder übergroßen Blumengebinden aufgesteckt, manchmal ein Gesicht hinter einem Schleier versteckt – vielleicht, um nicht erschreckt zu werden von der mutmaßlichen Schönheit der Trägerin. Mit einem Glas Champagner, Whiskey oder Gin Fizz in der Hand stolzierten die Schönen und Reichen in ihren blauen, pinkfarbenen, schwarzen, irisch-grünen oder rosaroten Garderoben auf spitzen Stöckelschuhen über den sattgrünen Rasenteppich.

Bevor wir uns zum Vorführring begeben konnten um einen Überblick von den vierbeinigen Teilnehmern zu bekommen, wurde unser Blick von einer Gestalt aus Tausend und einer Nacht angezogen. Direkt unter uns verdeckte ein großer Schirm aus Straußenfedern in Regenbogenfarben den Blick auf die Rennbahn. Im gleichmäßigen Rhythmus schwenkte der Träger das Straußendach über dem Kopf, seinen Oberkörper in ein weißes, kragenloses Hemd gehüllt und um den Hals Stammeszeichen aus Gold oder Tierknochen. Dazu trug er eine mit goldenen Sternen und bunten Pferdeköpfen bestickte ärmellose Jacke. Um seine Hüften wippte ein farblich abgestimmter Federrock, unter dem in dunkle Stiefeln gestopft weiße Pluderhosen hervorschauten. Den Kopf zierte ein mit bunten Edelsteinen bestücktes Perlen-Stirnband, in dem gefärbte Straußenfedern steckten. Mit einem Feuerhorn und Fernglas im Lederetui über der Schulter schwenkte er im Rhythmus der irischen Bagpipemusik tanzend mit der rechten Hand sein Straußendach, eingeklemmt unter dem anderen Arm ein Regenschirm. Ab und zu stellte er den Schirm auf den Boden, zog Wettkuverts aus der Tasche seiner Jacke und schrie„I gotta horse!“

Sein unübersehbarer Auftritt schenkte ihm viel Aufmerksamkeit. Am mit weißen Holzlatten eingesäumten Vorführring stand er plötzlich neben uns, deutete auf ein Pferd, das an uns vorbei geführte wurde, und sagte mir etwas, was ich nicht verstand. Vermutlich war es sein Pferd. Kurt sprach ihn an, und der Fremde stellte sich als Prinz Monolulu vor, er vertrete sein Land Abessinien als Botschafter. Das Pferd sei Relko, der Favorit, und wir sollten auf ihn setzen. Relko sei Sieger des Epsom Derby und in Topform. Außer Relko standen noch Vic Mo Chroi, Tiger, Taigogan, Christmas Island, Pathalon, Lock Hart, Final Move, Ragusa und andere berühmte Pferde auf der Startliste.

Die Jockeys marschierten in ihren farbigen Reitjacken mit ihren Peitschen in den Vorführring. Ein buntes Bild. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Trainer oder Besitzer wurden die Reiter elegant von ihren Stewarts mit der freien Hand in den Sattel gehoben. Bei den Pferden kam Nervosität auf, die Spannung wuchs. Das lange Warten wurde durch ein kurzes Aufbäumen oder Ausschlagen mit der Hinterhand unterstrichen. Zitternd vor Aufregung wurden die tänzelnden Pferde mit geblähten Nüstern die Köpfe stolz in die Höhe reißend von den Stewards an das Start Gate geführt. Alles rannte an den eingesäumten Turf, um möglichst nahe am Geschehen zu sein. Und wie fast täglich einmal in Irland, setzte der Regen ein. Die Regenschirme entfalteten sich wie ein farbiges Feuerwerk.

Dann eine Durchsage! Alles verharrte einen Augenblick, um einem erstaunten Raunen Platz zu machen. Plötzliche Hektik bei den Besuchern. Viele rannten in Richtung der Büros der Buchmacher. Der Prinz war verschwunden. Was war geschehen? Relko, der Favorit, war von seinem Besitzer aus dem Rennen genommen worden. Den Grund erfuhr ich erst später. Der Jockey Yves Saint Martin und sein Stewart hatten auf dem Weg zum Startplatz bemerkt, dass Relko auf der Hinterhand stark lahmte. Der Besitzer wurde durch den Jockey verständigt, der Veterinär herbeigerufen und nach eingehender Untersuchung beschlossen, das Pferd aus dem Rennen zu nehmen. Der Start wurde um 15 Minuten verschoben.

Der Regen war stärker geworden. Wir zogen uns auf die Tribüne zurück, um das Geschehen von dort aus zu verfolgen, als der große Häuptling plötzlich wieder unter uns war. Er hatte sich in wärmere Kleidung geworfen und drückte uns sein Bedauern über den Rückzug des Favoriten aus. Der Sprecher gab bekannt, dass der Start in wenigen Minuten erfolgen werde und die Pferde sich bereits am Start befänden. Die Pferdebegleiter lösten die Leinen und begaben sich aus dem Turf. Kaum waren sie hinter dem Absperrzaun verschwunden, stieg die Spannung. Ein dumpfes Trommeln ausgelöst von Pferdehufen näherte sich der Tribüne und wurde von den Wänden zurückgeworfen. Tief gebeugt und die Arme dem Rhythmus der Gangart des Pferdes angepasst, gaben die Jockeys mit kurz gehalten Zügeln dem Pferd das Tempo an. Kaum an der Tribüne vorbei geprescht, sah man das Feld im langgezogenen Bogen auf die gegenüberliegende Gerade einbiegen, ein leicht auseinandergezogenes Feld. Die Hufe hämmerten ihren Takt auf den leicht durchnässten Boden.

Die Durchsage der Positionsplätze und Startnummern der Pferde wurden immer schneller und waren für ein ungeschultes Ohr kaum noch zu verstehen. Dann das Einbiegen in die Zielgerade vor der Tribune. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die Pferde streckten unter Peitschenhilfe ihren eleganten Körper, als wollten sie sich Pegasus gleich mit Schwingen dem Ziel entgegenstürzen. Plötzlich preschte auf der Innenbahn ein Pferd von der dritten oder vierten Position an dem Feld vorbei und kam mit fast zwei Längen Vorsprung ins Ziel. Ragusa, der Drittplazierte vom Epsom Derby, hatte mit seinem australischen Jockey Garnet Bougoure das Rennen gewonnen, auf den Folgeplätzen Vic Mo Chroi und Tiger. Ragusa wurde von Paddy Prendergast trainiert, einem Irländer. Er gehörte zu den führenden Trainern auf der Insel und wurde auf dieselbe Stufe wie der legendäre Vincent O’Brien gestellt. Schade, dass bei dem Rennen Lester Piggott nicht am Start war. Er bereitete sich für den l’Arc de Triomphe in Paris vor und hatte verzichtet.

Wie ich erst viel später erfuhr, war Prinz Monolulu auf fast allen großen britischen Rennplätzen zu Hause und galt im Fachjargon als ‘Racing Tipster’, was so viel bedeutet wie Ratgeber für Pferderennen, Tippgeber. Er war ein gern gesehener Gast auf den Inseln, reiste ohne Apanage oder Leibwächter von einem Rennen zum andern, hatte einen großen Bekanntenkreis und war immer freundlich und zuvorkommend. Er lebte seit mehreren Jahren auf den Britischen Inseln und war der wohl am besten bekannte Farbige. Eigentlich hieß er Peter Carl Mackay und stammte von Karibikinsel St. Croix. Der Name ‘Prinz Monolulu’ war frei erfunden und diente nur seiner Publizität. Durch seine Anwesenheit bekamen die Rennplätze ein besonderes Ambiente. Er war bei unserem Zusammentreffen bereits 82 Jahre alt und starb anderthalb Jahre später.

Nach dem Einlauf genossen wir noch die Stimmung auf dem Rennplatz, verdrückten einen Hamburger und suchten dann unser Auto auf, um nach Dublin zurückzufahren. Am nächsten Tag wollten wir das irische Nationalgestüt in Kildare besuchen.

 
Das Irish National Stud

Von Dublin kommend musste man in den 1960-er Jahren kurz hinter der Ortschaft Kildare von der Überlandstraße auf der Höhe des ‘Muschelhauses’ links in eine kleine Seitenstraße Richtung Tully einbiegen. Autobahnen gab es in Irland noch nicht. Dieses Muschelhaus war mit Stroh gedeckt und die schneeweiße Fassade mit farbigen Mosaiken aus Meermuscheln tapeziert. Es lag direkt an der Straße und war kaum zu übersehen. Leider habe ich kein Foto gemacht. Kurt, auf den ich mich verlassen hatte, ist verstorben und seine Fotos wurden, wie ich kürzlich erfuhr, nach seinem Tod vernichtet.

stutenweide, © 2010 Max BlunierEine holprige Straße führte gesäumt von Rhododendrensträuchern zu einem großen Torbogen. Hier mussten wir uns für die Besichtigung anmelden. Reguläre Führungen für Touristen gab es nicht, jeder konnte sich aber die Weiden ansehen. Durch die Stallungen führte – wenn es ihm genehm war – der Stallmeister persönlich. Der machte gerade, wurde uns gesagt, sein Mittagschläfchen und würde nicht vor 14:30 Uhr ansprechbar sein, wir könnten uns aber in der Zwischenzeit den japanischen Garten ansehen.

Kildare zu besuchen ohne den japanischen Garten gesehen zu haben, kommt fast einer Sünde gleich. Der Garten hat zwanzig Stationen, die den Weg des Menschen durch das Leben symbolisieren. Wandert man durch das ‘Tor des Vergessens’ über ‘Pfad des Lebens’, taucht man umgeben von Rhododendren, uralten Bäumen und neu gezogenen Bonsai in eine unbeschreibliche Blumenpracht beiderseits des Weges ein. Dann geht es durch den ‘Tunnel der Unwissenheit’ über die ‘Brücke der Verlobung und Heirat’ in das ‘Labyrinth des Ehrgeizes’. Hat der Besucher auf dieser faszinierenden Wanderung die rote ‘Brücke des Lebens’ passiert, wandelt er im ‘Garten des Friedens’, der die Gelassenheit des Alters ausstrahlt. Bei einer Tasse Tee ließen wir uns anschließend im Teehaus von den unvergesslichen Eindrücken einholen und genossen die entspannende Wirkung des Getränks.

Stallmeister, © 2010 Max BlunierZurück im Gestüt, wurden wir von einem älteren Herrn mit einem Gehstock erwartet. Er hatte sich seiner Wichtigkeit bewusst in sein Sonntagsgewand geworfen und begrüßte uns mit der Freundlichkeit eines irischen Landlords. Seinen Nachnamen verstanden wir nicht so recht, es klang wie Kelly oder Kennedy. Also nannten wir ihn bei seinem Vornamen Brendan. Auf unserem Weg zu den Stallungen, den wir wegen seiner Gehbehinderung gemächlich gingen, erzählte er uns die Geschichte des Gestüts:

Im Jahr 1900 kaufte Oberst William Hall-Walker dem Farmer und Pferdezüchter James Fay seine Farm und Pferdezucht in Tully ab. Schon seit Anfang des 14. Jahrhunderts wurden auf der Curragh-Ebene Pferde gezüchtet, die so bekannt waren, dass sich sogar der Malteser Orden hier eindeckte. Oberst Hall-Walker war ein hervorragender Pferdekenner und im englischen Polosport bestens bekannt. Sein Geld verdiente er unter anderem im Kunsthandel. Er begann Vollblüter zu züchten und konnte in den Jahren 1904–14 sieben Classic-Gewinner aufweisen.

Seine unkonventionelle Methode, Pferde nach der Konstellation der Sternzeichen zu züchten, hatte also Erfolg. Zu jener Zeit ließ er auch den japanischen Garten bauen, der sehr bald zu einer Touristenattraktion wurde. 1915 schenkte er das Gestüt der britischen Krone, wurde dafür geadelt und erhielt den Titel Lord Wavertree. In der Folge nannte sich das Gestüt British National Stud Company, bis es 1943 mit 360 Hektar angrenzendes Land der irischen Regierung übergeben wurde, die daraus 1946 die Irish National Stud Company Ltd. machte.

Die Stuten und die Hengste werden strikt getrennt in verschiedenen Stallungen gehalten. Die Besamung der Stuten und die Aufzucht der Fohlen erfolgt nach konventioneller Art, d.h. die Stuten werden bis heute durch einen Hengst gedeckt. Eine künstliche Befruchtung ist verpönt.

Für den Ablauf des Liebesleben der Pferde in der Deckstation ist der Stud Teaser des Gestüts zuständig. Er stellt fest, wenn eine Stute paarungsbereit ist und legt fest, mit welchem Hengst sie gedeckt wird. Stimmt die Sternenkonstellation, wird die Befruchtung vollzogen. Der Paarungsvorgang wird gefilmt und in der Deckstation registriert. Über alles wird akribisch genau Buch geführt. Sollte die Paarung nach einer bestimmten Frist erfolglos gewesen sein, entfällt das Deckgeld (inzwischen € 2.000–7.000 pro Bestallung).

Stute mit Fohlen, © 2010 Max BlunierDie Fach- und Pferdekenntnis meines Vaters beeindruckte den Stallmeister so sehr, so dass er uns noch etwas zeigen wollte. Jede Stallung hat ihren eigenen Stallchef, der für die Sauberkeit und andere Dinge verantwortlich ist. Bei den Boxen der Mutterstuten gab Brendan in irischer Sprache eine Anweisung an den zuständigen ‘Horseman’, der kurz darauf eine Stute mit Fohlen aus dem Stall führte. Der Stallmeister erklärte uns, die Stute sei ein Nachkomme aus der Zucht mit dem berühmten Hengst und Derby-Gewinner von 1955 Panaslipper. Wir sollten mal auf die Gangart von dem Fohlen achten, hier zeichne sich schon jetzt etwas besonders ab. Freigelassen auf der Koppel konnten wir die Gangart des Fohlens bewundern. Schnurgerade, den Blick weit nach vorne gerichtet und mit den Vorderbeinen die Luft durchschneidend zog es in elegantem Galopp seine Kreise um die Mutter. Wenn das kein Champion wird?

Nachdem er uns noch ein paar Stories erzählt und die Hengst-Station gezeigt hatte, verabschiedete sich Brendan mit dem Hinweis, er müsse seinem Bein nun etwas Ruhe gönnen. Die Verletzung habe er sich in jungen Jahren durch einen Sturz beim Reiten zugezogen, 42 sei er damals gewesen. Der Bruch hätte sich als so kompliziert herausgestellt, dass er seither nur noch auf dem Besenstiel durch die Küche reite. Wir verabschiedeten uns, nicht ohne seine Bemühungen mit einem Trinkgeld zu entschädigen. Auch dem Stallburschen steckte ich ein paar Schillinge zu. Der verriet mir mit ernster Miene, dass es sehr selten sei, dass der Chef vor fremden Leuten eine Stute mit Fohlen aus dem Stall führen lasse. Ganz offensichtlich verstünden wir etwas von Pferden – womit wohl nur mein Vater gemeint sein konnte.

Das Kapitel ‘The Curragh of Kildare’ wurde freundlicherweise von Arthur Ryf, Erlach durchgesehen.

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Ein Schweizer Koch in Irland – © 2010 Max E. Blunier & Jürgen Kullmann