Ein Schweizer in Irland

von Max E. Blunier

Limerick 1963

The City of the Broken Treaty

City of the broken Treaty, Stadt des gebrochenen Vertrags wird Limerick genannt. 1691 wurde sie von den Truppen Wilhelm von Oraniens belagert, konnte aber nicht eingenommen werden. Man schloss ein Waffenstillstandsabkommen und handelte mit Patrick Sarsfield, dem Anführer der sie verteidigenden Jakobiten, einen Vertrag aus, in dem den Katholiken die freie Religionsausübung zugesichert wurde. Der Vertrag wurde nicht eingehalten, und das Ergebnis war eine Massenauswanderung.

Angeblich wurde dieser Vertrag beim Treaty Stone an der Thomond Bridge unterzeichnet, einem unregelmäßigen Kalksteinblock, der einst zum Anbinden von Pferden diente. Das veranlasst viele Limericker, lieber über die Sarsfield- oder Shannonbrücke zu fahren, als den kürzeren Weg über die Thomond Brücke zu nehmen. Wenn er gezwungen sei am Treaty Stone vorbeizufahren, erzählte mir unser Mitarbeiter Tom, würde er immer auf die andere Straßenseite schauen, denn da hätten die Iren einen heroischen Kampf um die Brücke geführt. Lieber schließe er die Augen als einen Blick auf den Stein zu werfen, dem könne man nicht trauen.

 
Stadt und Fluss

Wie Dublin, Cork und viele irische Dörfer und Städte liegt Limerick an einem Fluss. Der Shannon entspringt in den Cuilcagh Mountains im südlichen Teil Nordirlands, fließt zunächst durch ein unterirdisches Höhlensystem und erblickt dann in der Grafschaft Cavan als „Shannon Pot“ das Tageslicht. Mit seinen 370 Kilometern ist er der längste Fluss Irlands und vermählt sich, nachdem er die Limericker Brücken passiert hat, unterhalb der Stadt weitausladend mit dem Atlantischen Ozean. Allerdings ist der Wikingersiedlung wegen des Gezeitenstroms trotz ihrer großen Vergangenheit der Anschluss an die Weltmeere verwehrt geblieben.

Mir gefiel die Stadt auf den ersten Blick und ich verliebte mich in den Shannon. Es gab für mich keine schönere Freizeitbeschäftigung, als am Gestade des Shannons zu verweilen, den Anblick von Ebbe und Flut zu genießen und den ein- und auslaufenden Fischerbooten nachzuschauen. Wenn früh morgens die ersten Fischer unterhalb des Steam Boat- oder Bischop’s Quay ihren Fang löschten und die Fische angeboten wurden, erwachte die Stadt und wurde lebendig wie ein junges Fohlen, das zum erstenmal die Freiheit auf der Weide erlebt. Ein Gestikulieren begann, ein Wedeln mit Segelmützen oder selbstgestrickten Kappen, ein wildes Fuchteln mit den Händen. Seltsame Zeichen und Wörter in englischer und gälischer Sprache wurden unter lautem Geschrei ausgetauscht. Die Fische wechselten vom Boot auf eine Zweiradkarre, bespannt mit einem schlanken, vollmähnigen Connemara-Pony, oder direkt auf den Lieferwagen eines Fischhändlers. Manchmal musste ich mich beeilen noch rechtzeitig in der Küche zu erscheinen, damit die Hotelgäste nicht auf ihr Breakfast mit Scrambled Eggs, Bacon, Sausages and Smoked Clipper Fish warten mussten.

Shannonmouth 1963, © Max. E. BlunierWandert man rechts am Shannonufer den O’Callaghan Strand entlang, so erreicht man einen Schilfgürtel mit einem wunderbaren Sandstreifen. Vogelschwärme ziehen landauswärts ihre Kreise und setzen sich im Schilfgürtel nieder. Wenn sich die Sonne dann langsam vom Tag verabschiedet, wird der Betrachter unweigerlich vom Gesang der brütenden oder nistenden Vögel in den Bann gezogen. Ein einmaliges Schauspiel für Auge und Ohr; aus einem sanften, zaghaften Piepsen wird ein plötzlich aufkommendes Crescendo, das sich zum klangvollsten Orchester erhebt und mit der am Horizont sinkenden Sonne allmählich leiser wird und plötzlich verstummt. Zurück bleibt Ruhe und Zufriedenheit, umrahmt vom leise flüsternden Wind, der vom Ozean kommend sich in der Flussmündung verirrt hat und mit der einlaufenden Flut den Shannon hinaufzieht.

Auch die alten Docks und die Shannon Bridge faszinierten mich. Wenn sich die Sonne gegen Abend blutrot am Horizont verabschiedete und bei Ebbe das Flussbett zum Vorschein kam, das traurig dem abfließenden Wasser nachblickte um sich nur kurze Zeit später wieder gierig mit dem hereinfließenden Nass vollzusaugen, lag eine traumhaft schöne Stimmung über der Stadt. Während die müden Fischer die einlaufende Flut nutzten, um mit ihrem Fang noch schnell den Hafen oder eine Mole zu ergattern, empfand ich Freundschaft, Behaglichkeit und innere Zufriedenheit. Langsam kam die Stadt zur Ruhe, und die letzten Connemara-Ponys zogen in flottem Trab heimwärts zu den Cottages auf dem Lande.

Wie oft war ich dann wohl in „Paddy’s Pub over the Shannon Bridge“, „for a drink and a half“. Father O’Brien war oft da, und wenn er genug intus hatte, sang er die schönsten altirischen Lieder. Als unbegabter Sänger sollte ich Schweizer Jodellieder zum besten geben, Dart mit ihnen spielen oder mich zum katholischen Glauben bekehren lassen. Wenn dann noch der Detektiv Pat Masterson auf seinem Polizeifahrrad vorbeikam, vergaß man des öfteren die Zeit, denn Paddy O’Brien war der Bruder von Father O’Brien und mächtig stolz, eine so angesehene Persönlichkeit zum Bruder zu haben. Paddy hatte dann immer noch Stout in den Emailleschüsseln unter dem Guinnessfass, das man nicht stehen lassen durfte. Denn wenn die Dirty Old Bitch zu den ‘late hours’ um Mitternacht aus dem Shannon steigt, muss ‘Clean House’ sein. O Jesus, never mind!

O God! und wenn dann die Bauern mit ihren Pferden und Traktoren die Shannon Bridge versperrten und streikten, weil die Milchpreise zu tief waren – worauf die Brotpreise stiegen, weil das Korn aus Übersee im Hafen von Cork festlag –, konnte man als Father den Pub doch nicht verlassen! Das könnten die guten Glaubensbrüder ja sehen und denken, man würde den Streik unterstützen. Und am Ende würden die Leute gar die Messe meiden!

Max. E. Blunier 1993Den Flughafen von Shannon vor der Haustür, profitierte Limerick bis in die 60-er Jahre vom Verkehr über den Atlantik, denn die Transatlantik-Maschinen mussten zum Auftanken den letzten Flugplatz vor Amerika ansteuern. Mit dem Aufkommen der Jets verlor Shannon an Bedeutung. Irland, der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem Kontinent hinterherhinkend, bemühte sich diesen Verlust mit enormem Aufwand gut zu machen. Es wurde billiges Bauland angeboten. Der Beitritt zur EU brachte den ersehnten Reichtum, doch der Preis war hoch. Die schönsten Landschaften und manch unberührter Strand wurden bereits zubetoniert.

So fand ich zwanzig Jahren später den einst wundervollen, unberührten Silver Strand im County Wicklow mit Bungalows und Caravans zugepackt. Residents Only!, für den gewöhnlichen Fußgänger- und Strandwanderer gesperrt. Schade! Die Bauhyänen hatten ganze Arbeit geleistet, die beruhigende Musik der Wellen durch Ballermanngeschrei und Rapmusik zum Schweigen gebracht. Wie stumm und kläglich ist doch der Gesang der Natur geworden. Alle gehen an den Strand, und doch keiner hört mehr hin. Das Flüstern, das Singen, das Jubeln, das Klatschen der Wellen – alles geht unter im Gestank von Rauch und wird überdeckt durch dröhnenden Lärm. Das Mahnen der Schöpfung nimmt niemand zur Kenntnis! Was muss geschehen?

 
Wo sind die Strandkobolde geblieben?

Da kommt mir Jerry und die Geschichte von Paul Goldin, dem berühmten Hypnotiseur aus Cork, in den Sinn. Die Geschichte könnte in einem Pub entstanden sein. Ist sie aber nicht! Ich nenne meinen ‘Helden’ Jerry, weil er im Alltag einen so berühmten Name wie die meisten guten Irländer trug, die McSweenys, McMahons, McDonnells, O’Donohues, O’Flahertys oder wie sie alle heißen. Jerry war ein guter Koch. So schnell und fahrig, wie er sprach und arbeitete, war auch sein Auftreten, doch bei allem war er stets hilfsbereit und freundlich. Er war sehr belesen, besonders was die Sportseite betraf.

Zu jener Zeit sprach alles von einer Boygroup, die mir bis dahin völlig unbekannt war, aus Liverpool kam und mit langen Haaren und „verrückter“ Musik die Jugend in ihren Bann zog. The Beatles! Da ich mich für die Haartracht der Beatles nicht begeistern konnte, wollte ich einen Gastroschnitt, d.h. à la GI ziemlich kurz über der Rübe abgesäbelt. Ich suchte den Friseur meines Chefs in der O’Connell Street auf. Mit dem Englisch, das ich von unserem Cashier Girl Kathleen gelernt hatte, bat ich den Künstler um die gewünschte Dienstleistung. Da bereits ein eleganter, gepflegter Herr mit braunem Teint auf dem Stuhl saß, musste ich mich eine Weile gedulden.

Der Fremde musterte mich mit interessiertem Blick im Spiegel, erkannte an meiner Aussprache, dass ich ein Ausländer war, und fragte höflich nach meiner Herkunft. Wir machten einander bekannt, und nachdem wir ein paar französische Wörter gewechselt hatten, forderte er mich auf seine Show zu besuchen. Dann verabschiedet er sich, und ich nahm auf dem vorgewärmten Stuhl Platz. Den Fängen des Figaros ausgeliefert, erkundigte ich mich bei dem Scherenartist, was denn das für eine Show sei? Mit ernstem Gesicht und erstauntem Ausdruck meinte er: „Ja kennen Sie denn nicht den berühmten Hypnotiseur von Cork? Das ist Paul Goldin, berühmt weit über alle Grenzen. Wohnt unten in Cork in einer traumhaft schönen Villa. Den müssen sie unbedingt sehen, ein einzigartiger Künstler!“

Bis dahin kannte ich, und das auch nur vom Hörensagen, einen Rinaldi aus der Schweiz und hatte mal ein Buch über den Entfesslungskünstler Houdini gelesen. Dieser Paul Goldin erschien mir ganz sympathisch. Zurück im Hotel erzählte ich meinen Mitstreitern, nachdem sie meine Frisur begutachtet hatten, von dem Zusammentreffen. Jerry war begeistert und wusste über Goldin Bescheid. Gleich am nächsten Freitag wollten wir seine Show besuchen. Unsere Empfangsdame Mary organisierte die Eintrittskarten. Da es noch zwei Tage bis zur Vorstellung waren, wurde viel darüber geredet. Horrorgeschichten in verschiedenen Varianten kamen mir zu Ohren, zum Beispiel über Scheintote, die nicht wieder aus der Trance aufgewacht waren, und über von Krankheiten geheilte Besucher. Alles wurde diskutiert und in den buntesten Farben geschildert. Ängstlich geworden fragte ich meine Englischlehrerin, ob sie Jerry und mich begleiten würde? Begeistert sagte sie zu, und ich war froh, auf ihren Beistand zählen zu können.

Der Abend der Wahrheit kam, und wir fanden uns zur Show in der Dancing Hall ein. Stolz, den großen Paul Goldin persönlich getroffen zu haben, setzte ich mich mit meiner Begleitung in eine der vordersten Reihen. Der Meister erklärte den Zuschauern allerlei über Hypnose und bat um freiwillige Versuchskaninchen. Jerry meldete sich auf der Stelle, ich aber zögerte. Als schon fünf Teilnehmer auf der Bühne standen, bat er, es möchten sich doch noch mehr melden. Kathleen setzte ihren Ellbogen ein und raunte mir zu, ich solle doch auch gehen. Ich war alles andere als begeistert, aber mein Ego ließ es nicht zu, dass ich mir eine Blöße gab. Also begab ich mich mit gemischten Gefühlen auf die Bretter, die an diesem Abend die Welt bedeuteten.

Paul begann einen jeden von uns tief in die Augen zu schauen und bis drei zu zählen. Einer nach dem andern setzte sich wie geheißen auf seinen Stuhl oder legte sich auf den Boden und wurde dann mit einem besonderen Auftrag bedacht. Nur bei mir wollte die Müdigkeit nicht wie angekündigt in die Beine und über den Bauch in das Hirn klettern. Außer einem kleinen Kribbeln in der Magengegend spürte nichts Ungewöhnliches. Ich blieb putzmunter. Paul bat nochmals, mich zu entspannen, und ich antwortete auf Französisch und versprach es zu versuchen. Plötzlich war ihm alles klar, er hatte das Problem erkannt: er machte die Hypnose auf Englisch und ich dachte französisch. Das konnte ja nicht klappen! „Sorry that’s a Frenchmen, and it can not work in another language“, entschuldigte er sich bei seinem Publikum. „I will send him back on his seat!“ Meine Vorstellung war zu Ende. Zum Glück, denn jetzt konnte ich Jerry beobachten. Er stand da, wie bestellt und nicht abgeholt, ließ seinen Kopf hängen wie ein Esel in der Mittagssonne ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken. Ein Häufchen Elend gleich einem Bettler in der Wüste, der auf einen Groschen hofft.

Ein Medium musste ein Lied singen, ein anderes fluchen wie ein Bierbrauer, ein älterer Herr kniete vor seinem Stuhl und machte der Sitzgelegenheit, seiner einzig Geliebten, eine Liebeserklärung, als könnte er alle Jungendsünden damit tilgen. Jerry wurde aufgefordert, in der Stadt einen „Leprechaun“ zu suchen und in die Show zu bringen. „Jerry Hot-Smoker“ fegte davon, als hätte er Feuer unter dem Hintern. Er rannte die Strasse hinauf und hinunter, suchte hinter den Abfalltonnen, in den Telefonkabinen, Toiletten, Hoteleingängen und ließ sich durch nichts aufhalten. Leider ohne Erfolg. Er sprach Leute an und fragte nach dem Kobold. Auch unser Hotel ließ er nicht aus, kam zu unserem Barmann Michael und erkundigte sich nach dem unscheinbaren Männchen. Er müsse es doch gesehen haben. Der gute Michael verstand die Welt nicht mehr. „Jetzt hat es den armen Jerry auch erwischt“, dachte er, „schon sein Vater hat ab und zu gesponnen, wenn er zu tief ins Glas geschaut hat. Armer Kerl! Auf jeden Fall muss mit dem Chef gesprochen werden, damit er ihn im Auge behält!“

Nach zirka 30 Minuten tauchte Jerry wieder in der Halle auf und behauptete, er hätte das grüne Männchen gesehen, aber nicht fangen können. Paul holte ihn mit einem kurzen Schnippen der Finger aus der Trance. Verdutzt blickte er in den Saal und konnte nicht verstehen, warum gelacht wurde. Schweiß stand auf seiner Stirn, erschöpft tupfte er ihn mit seinem Hemdsärmel ab.

Am nächsten Tag kam der Manager in die Küche und erkundigte sich nach Jerrys Wohlbefinden. Der alte Barmann hatte nichts von der Show gewusst und den Direktor auf das seltsame Verhalten des quirligen Kochs aufmerksam gemacht. Wir klärten die Sache auf, und es mangelte in den folgenden Tagen nicht an Gesprächsstoff. Doch Jerry konnte sich an nichts erinnern und ließ sich nicht überzeugen. Er stritt vehement ab, jemals auf „Leprechaunsuche“ gewesen zu sein, und beharrte drauf, die ganze Zeit in seinem Sessel die Show genossen zu haben. Von da an hieß es bei jeder erdenklichen Gelegenheit in der Küche: „Du suchst doch nicht etwa einen „Leprechaun“?

Ich weiß nicht, was aus Jerry später geworden ist, doch sollte Ihnen abends in Limerick ein quirliger, drahtiger Kerl mit Beatlesfrisur und Schnurrbart über den Weg laufen, der eine „Number One“-Zigarette ohne Filter im Mundwinkel hängen hat und seinen „Leprechaun“ sucht, kann es sich nur um Old Jerry handeln. Nur nicht ansprechen, denn sonst kommen die Kobolde nicht mehr nach Limerick.

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Ein Schweizer Koch in Irland – © 2007 Max E. Blunier & Jürgen Kullmann