Irisches Tagebuch 2000

Maureen mischt sich ein II

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Sonnabend, 10. Juni 2000

Zum ersten Mal ein originäres Auto von den britischen Inseln, eines, bei dem das Steuer nicht zum Export auf die rechte Seite verschoben werden muss. Rover 25 heißt der Kleine, den man bei National Car Rental für uns reserviert hat. Leuchtend rot und mit kleinen runden Doppelscheinwerfern wäre er genau der Richtige, um ihn vor dem grauen Granit von Ashford Castle abzustellen, derweil Lady ... Quatsch, vor unserem weißen Cottage macht er sich auch ganz gut. Doch zunächst die Formalitäten:

21 × 3 = 63 IR£ will die Dame am Schalter als Aufschlag für den zweiten Fahrer haben. Ganz schön happig, aber was will man machen? Mein Mädchen hat den Kreditkartenbeleg bereits unterschrieben, da dämmert mir etwas. Verzweifeltes Wühlen in den Unterlagen, doch da ist er – ein Prospekt unserer Fluglinie mit dem Hinweis, dass nämlicher Aufschlag für Aer-Lingus-Passagiere ab Deutschland auf 20 IR£ begrenzt ist. Die Dame hinter dem Schalter ist verduzt, kopiert sich das Blatt und stellt eine Rücküberweisung über 43 IR£ aus. Das sollte für den ersten Lebensmitteleinkauf reichen.

Als echtem Rover liegt unserem Auto das Linksfahren im Blut, und so kommen wir gegen 20 Uhr mit unserem beim Abflug akzeptierten Übergepäck in Tully Cross an. Dann ein Schock für mein Mädchen: das Cottage hat neue Gardinen! Denn zu diesem Übergepäck gehören sieben hübsche und entgegen jeglicher irischer Tradition auch seitlich umsäumte Gardinen für die sieben roten Cottagefenster, gedacht als Ersatz für die vergilbten Fähnchen, die dort in den letzten 10 Jahren hingen. Und nun ist uns Anne Jack zuvorgekommen und hat die vierzehn Direktoren der neun Cottages in sechs Gardinen (das Badezimmer hat noch die alten) investieren lassen. Zwar nicht ganz so hübsch wie die mitgebrachten und an den Seiten connemara-typisch abgeschnitten, aber immerhin! Ob wir es wagen können sie auszutauschen, oder ist Anne Jack dann beleidigt?

Wir stellen die Frage zurück und richten uns erst einmal ein. Im bis unters Dach gehenden ‘Living Room’ den Tisch vor die Küchentür geschoben, Stuhl darauf gestellt, hochgeklettert, Luke zum Dachboden über der Küche geöffnet und da steht sie – unsere Tasche, in die wir vor elf Monaten unsere private Cottage-Ausstattung gepackt hatten. Für dieses Jahr ist eine größere vorgesehen. Das Herunterhieven bereitet gewisse Schwierigkeiten, doch dann wird ausgepackt, eingeräumt, dekoriert und gerückt.

*  *  *

Zwei Stunden später. Im Renvyle Inn ist nicht allzu viel los. ‘Music to-nite’, Musik heute Nacht, steht an der Tür, doch Cathy Murtagh liebt Country & Western – nicht unser Geschmack. So wandern wir nach einem Anstandsguinness nach Tully Cross zurück ... und Fiddlemusik ertönt aus dem Angler’s Rest. Wir huschen hinein.

CD-CoverDúchas, nennt sich die Gruppe, ‘Heritage’ oder ‘Native Land’. Das jetzt mit ‘Erbe’ oder ‘Heimatland’ zu übersetzen, geht mir gegen den Strich. Zudem wirken die Mitglieder der Gruppe alles andere als volkstümlich: der langhaarige George, der wohl endlich erkannt hat, dass er besser Gitarre spielt als singt, ein genialer Bodhránspieler namens Seán und Danny mit seinem Knopfakkordeon. Dazu ein ‘Special Guest’ auf der Fiddle, der uns fremd ist. Die Musik ist großartig, doch wir wirken wohl etwas angeschlagen. “Tired?” fragt Seán in Richtung meines Mädchens, legt seinen Kopf auf die gefalteten Hände und grinst. Sie grinst zurück und unterdrückt ein Gähnen. “Just arrived!” Er nickt verständnisvoll, und wir klatschen nach dem nächsten Jig besonders nachdrücklich um kundzutun, dass sich das Gähnen nicht auf die Musik bezogen hatte. Doch das ändert nichts an unserer Müdigkeit und nach einem Whiskey* ziehen wir uns zurück. “Gute Nacht”, ruft uns der Bodhránspieler auf Deutsch nach.

Maureen* Nach einem Whiskey?Habe schon immer gewusst, dass gewisse Leute in gewissen Situationen nicht zählen können! M.

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Sonntag, 11. Juni 2000

Unser ausgemusterter Dortmunder Radiowecker ist installiert und hat seine Bewährungsprobe als Cottage-Radio glänzend bestanden: Radió na Gaeltachta, RTÉ – alles was das Herz begehrt. Zwei Nachrichten bestimmen den Tag: Frank Patterson, der den Meldungen zufolge berühmteste irische Tenor der Gegenwart, ist in New York gestorben, und Ms. McAleese äußert sich so deutlich wie noch nie ein irisches Staatsoberhaupt über die Moral der Politiker im Lande. In einer ‘dramatischen Rede’, wie die Sprecherin sagt, stellt die erste Frau im Staate fest, dass ‘verschiedenste Formen von Korruption die Atmosphäre mit Zynismus und Zweifeln vergiftet und das Vertrauen in die politische, administrative und geistige Führung beschädigt hätten’.

Am frühen Nachmittag machen wir eine Spaziergang nach Tully. An der Mauer schräg gegenüber dem Renvyle Inn ein Meer von Blumen. Hier kamen letzte Woche bei einem Autounfall zwei Jugendliche ums Leben. Es war mitten in der Nacht, und der Fahrer wollte seinen Freunden zeigen, wie genial er den Wagen sich um die eigene Achse drehen lassen kann. Doch der schleuderte mit der linken Seite in die Steinmauer. Die beiden links Sitzenden waren auf der Stelle tot, der Fahrer nur leicht verletzt. Die Beerdigung soll die größte seit Menschengedenken gewesen sein und der Blumenladen in Clifden machte den Umsatz des Jahres.

MaureenBeim Fahren aber auch an uns auf Irlands Straßen denken. Schließlich gehören sie uns! M.

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Montag, 12. Juni 2000

Hildegard an Gisela – Letter From Home

Liebe Gisela – angekommen, eingerichtet, vergnügt und ausgeschlafen möchte ich von den ersten Tagen hier in Tully Cross berichten. Der Flug war wie immer ok, nur für den neuen Düsseldorfer Flughafenbahnhof muss man mindestes zwanzig Minuten extra einkalkulieren. Es dauert halt, bis man hinauf, durchs Gebäude und dann wieder hinunter zum Shuttle-Bus kommt und dieser sich zwischen Ampeln, Taxis, trödeligen Fluggästen und Abholern zum ‘Depature C’ durchgeschlängelt hat. Einen Vorteil jedoch hatte der Bahnhof für uns. Mit Aer Lingus hatten wir das Privileg, bereits dort am völlig leeren Lufthansaschalter einchecken zu dürfen, so dass wir die Reisetaschen nicht mit in den Bus nehmen mussten und uns die langen Schlangen am Abflug C völlig kalt ließen.

So, mit unseren von Aer Lingus anstandslos akzeptierten 8 kg Übergewicht (Ryanair hätte pro Kilo 15 DM Aufpreis genommen!) in Shannon angekommen, erwartete uns ein leuchtend roter Rover 25, ein ‘brand new car’. Das ist ein ganz schickes Auto! Könnte auch bei der Pilcher oder Rebecca im Film mitwirken. Hoffentlich scheint noch mal die Sonne, so dass wir es auch ablichten können. Am besten vor dem Cottage mit den neuen Gardinen!

Nun zu dem üblichen und heute etwas weniger erfreulichen Thema, dem Wetter. Es ist recht trüb, windig und regnerisch. Gestern haben wir nur wenig zu Fuß unternommen. Leider soll sich der drizzle, wie der Irish Independent schreibt, in den nächsten Tagen zu einem persistent rain wandeln. Schöne Aussichten!

Jetzt zum Cottage und unserer Einrichtung. Den größten Schreck bekam ich, als wir mit unserem Roten Blitz hinter dem Haus einparkten und ich erwartungsvoll die schäbigen Gardinen begutachten wollte. Da hingen NEUE!!! Stell dir das mal vor: ich renne zweimal über den Castroper Markt um neue Gardinen zu kaufen, zerbreche mir tagelang den Kopf über die Maße, umsäume sie auch noch, breche dabei eine Nähmaschinennadel ab, reise über 2000 km mit acht Kilogramm Übergewicht hier an – und nun hingen da neue! Da hatte ich ein echtes Problem, kann ich dir sagen! Als Anne Jack gestern Abend hereinschaute und ich ihr von meiner Idee mit den Gardinen erzählte und darüber lachte, dass sie die gleiche gehabt hatte, meinte sie, ich solle die meinen ruhig hinhängen: sie hätten eine better quality. Cottage No. 3 bräuchte auch dringend welche – da könne man die hier abgehängten gleich wieder aufhängen.

Unser Cottage darf sich also freuen. Tja, mit den Cottages ist es wohl wie im richtigen Leben: da kann man zur gleichen Zeit zur Welt kommen, und doch sind die Menschen und Cottages nicht gleich. Die einen bekommen immer die schönen Sachen, werden geliebt und gepflegt, und die anderen müssen nehmen, was übrig bleibt. Doch auch Anne Jack hat hier im Cottage investiert bzw. investieren lassen: Anständige Töpfe, zwei gute Bratpfannen und einen neuen Teppichboden im Schlaf- und sogenannten Kinderzimmer. Letzteres habe ich erst gestern Abend entdeckt, denn der neue Teppich sieht fast so aus, wie der alte.

Erste Kontakte mit unseren alten Bekannten: Gestern spielten Kieran & Frank im Angler’s Rest. Eine junge, local Fiddlerin war mit von der Partie, aber wohl nur zufällig. Heute Abend fahren wir nach Clifden zu Kieran und Papa Coyne. Frank meint, die Saison hätte noch nicht begonnen – sein erstes Engagement bei Lowry’s ist erst am 4. Juli – und Johnnie muss gesundheitlich aufpassen. Er war im letzten Jahr zweimal im Krankenhaus, weshalb, weiß ich nicht. Na ja, mit fast 80 Jahren ...

Am Sonnabend trafen wir George mit seiner Gruppe Dúchas. Er singt bzw. schreit nicht mehr und die Gruppe ist wirklich gut. Aber nur Instrumentalmusik und keine Coynes – das ist auf die Dauer nichts.

Heute, so gegen 15 Uhr, ich wollte gerade meinen Mittagsschlaf machen, entdeckten zwei von Jürgens Internet-Lesern unser offenes Cottage. Waren auf der Durchreise und wollten nur mal guten Tag sagen, saßen dann aber fast zwei Stunden in unserer Hall. Anfangs wollten sie keinen Tee, also habe ich keinen gekocht. Dann haben wir ihnen einen Schluck Lebenswasser angeboten, und jetzt ist die Flasche fast leer. Na ja, nicht ganz, und so richtig voll war sie vorher auch nicht. Wenn das so weiter geht mit Jürgens Internetseiten, wird er noch eine Berühmtheit. Aber die Lübecker – sie waren gestern Abend auch im Angler’s Rest – sind vielleicht doch mehr unsere Wellenlänge.

Jetzt noch eine merkwürdige Erscheinung, von der ich nicht weiß, wie sie sich weiterentwickelt. Auf der anderen Straßenseite vor dem ehemaligen Butcher-Shop – Curley ist vor drei oder vier Jahren gestorben – bohrt seit heute eine Bohrmaschine. Jürgen vermutet nach Öl, Brian tippt auf Wasser. Aber auf dem Bürgersteig? Egal, nach was die da bohren, ich hoffe nur, sie finden es bald und hören mit dem Lärm auf. Es nervt!

Bis demnächst, Hildegard und Jürgen”

Postscriptum: Ich bin ein Anhänger der neuen freien Rechtschreibung und probiere sie gerade aus. Nach dieser Variante schreibt man, wie weiland Arno Schmidt, wie man will. H.
 

MaureenDas einzige, was die von dem Schmidt gelesen hat, dürfte sein Briefwechsel mit dem Andersch von wegen Auswanderung nach Irland sein. Und dann hat er doch gekniffen, dieser Arno aus der Heide! Haben mir meine Kollegen aus Bargfeld erzählt. Und was die Dame nicht verraten hat: sie hat gleich nach ihrer Ankunft die Cottage-Fenster geputzt – wie damals in Dublin, doch diesmal von außen. M.

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Dienstag, 13. Juni 2000

Die Besichtigung des viktorianischen Gartens von Schloss Kylemore, seit 1920 als Kylemore Abbey bekannt, steht auf dem Programm. Die Tage des kostenfreien Geheimzugangs sind gezählt: ein Parkplatz und Kassierhäuschen unten an der Tullywee Brücke. Der Entritt kostet IR£ 3.30 pro Nase, sofern man sich auf die Besichtigung des Gartens beschränkt.

Die Geschichte des am sonnigen Westhang des Doughruagh gelegenen etwa 3,5 ha großen Gartens ist einem Faltblatt zu entnehmen, das abzuschreiben ich zu faul bin. Die Mauer, die ihn umgibt, kommt einer Festungsmauer gleich, und eines ist kein Leprechaun-Latein: betritt man ihn durch das Osttor, so lässt der Wind augenblicklich nach und die Temperatur steigt um einige Grade. Der Hauptweg, der bis 1865 die öffentliche Straße nach Letterfrack war, teilt den Garten in Ost-West-Richtung, ein von den Bergen kommender Bach, von Mitchell Henrys Bäumen gesäumt, ihn in Nord-Süd-Richtung. In der Nord-Ost-Ecke oben am Hang die Fundamente der alten Glashäuser, die nun wieder aufgebaut werden, links davon das restaurierte Haus des Obergärtners und (oben rechts im Bild) der weniger komfortable Schuppen mit den Unterkünften seiner Gehilfen.

James Garnier hieß der erste Obergärtner. Den jetzigen, bzw. denjenigen, den wir ob seines Auftretens so nennen, treffen wir bei den an der höchsten Stelle des Gartens gelegenen Wassersammelbecken: ein bärtiger Mann mit intellektueller Ausstrahlung, in den sich mein Mädchen verlieben könnte, wenn sie es nicht anderweitig wäre. Er erklärt uns die Sache mit der Bewässerung – soweit bei dem Klima erforderlich – und die irischen Wirtschaftsprobleme der letzten fünfhundert Jahre. Dass die Wirtschaft derzeit boomt und die Preise steigen (wir nicken und denken an die Eintrittsgebühr) sei uns wohl bekannt, doch abseits der Städte sei alles besonders teuer. Ein Preis, den man zu zahlen hätte, um in einer Landschaft wie dieser arbeiten zu dürfen. “It’s your choice”, schließt er und hat die seine getroffen. 150 Menschen aus der Umgebung beschäftigen die Nonnen von Kylemore, und da relativiert sich das Lästern über die Eintrittspreise ein wenig.

Doch sind sie nicht doch etwas hoch, wenn man zu einer Spezies gehört, die Kylemore nicht auf der Durchreise besucht, sondern sich hier zu Hause fühlt und des öfteren in den Gärten lustwandeln möchte? Und so frage ich später am Eingang der Abbey, ob es so etwas wie seasonal tickets sprich Saisonkarten gibt. “Sorry, leider nicht”, meint das Mädchen hinter dem Tresen, doch sie wolle die nächst höhere Instanz fragen. Ich warte und sie kommt nach einer Weile mit selbiger zurück. Also trage ich mein Anliegen erneut vor: dass wir seit zehn Jahren hier jeden Juni verbringen und uns noch an Zeiten erinnern, in denen admission fee ein Fremdwort in Kylemore war. Natürlich hätten wir Verständnis dafür, dass es ohne Eintrittsgeld nicht geht, wo man doch so vielen Menschen aus der Umgebung Brot & Arbeit gibt, doch bei wiederholtem Besuch stets den vollen Betrag zu entrichten sei etwas viel für unsere Kasse. Die Dame nickt verständnisvoll, denkt nach und hat eine Idee. Vielleicht könne man uns als Ortsansässige deklarieren, dann gelte ein Sondertarif. Sie würde mal die nächst höhere Instanz konsultieren. Nach einem längeren Telefonat mit dieser reicht sie uns einen Zettel herüber. Ich schreibe unsere Namen darauf, und seither stehen wir auf der Liste der Locals und dürfen das Gelände für IR£ 2.00 betreten. *

*  *  *

Am Abend in der Central Bar. Es ist viel voller und gemütlicher als gestern Nacht in Barry’s Hotel, doch Johnnie, er hat gerne viel Volk um sich, meint immer noch, es sei ‘very quiet’. Und dann bricht unser Weltbild zusammen: Kieran, dessen ‘Guinness is good for you’ uns seit so vielen Jahren begleitet, trinkt Wasser, ein Pint nach dem anderen. Er sieht unsere ungläubigen Mienen. “Is it really good for you, Kieran?” Er grinst: “It is!” Wilde Spekulationen! Besitzt er vertrauliche Informationen, nach denen die Garda heute Nacht am Abzweig nach Cleggan Alkoholkontrollen durchführt? Die Straße müssen wir auch fahren, also nur Bitter Lemon! “Hard times come again no more”, singt Kieran und trinkt fleißig weiter, Pint für Pint Wasser statt Guinness.

Auf dem Heimweg nach Mullaghgloss erzählt uns Johnnie die wahre Geschichte. Kieran war beim Zahnarzt und muss bei absolutem Alkoholverbot Tabletten schlucken.

Maureen* Da hat er aber etwas ausgelassen, ist ihm wohl peinlich. Auf die Sache mit dem Lokalrabatt ist er massig stolz, doch sein Mädchen hatte ursprünglich eine noch viel bessere Idee, wie sie meinte, nämlich künftig ganz ohne Entgeld in den Garten zu gelangen.

Da gab’s zu Zeiten meiner Vorfahren eine Straße, die ging durchs Osttor in den Garten und durchs Westtor wieder hinaus. Doch das ist jetzt verrammelt. Also stapften die beiden den Trampelpfad außen um die Mauer herum zum Westtor, um über die vergessene Straße einen von den Nonnen nicht kontrollierten Zugang zum Garten zu finden.

Kaum zu erkennen war die alte Straße im feuchten Urwalddschungel am Hang des Doughruagh, doch dann wurde es lichter. Sie kletterten über ein Gatter und kamen ins Freie. ‘Beware of the bull’ lasen sie hinter sich am Zaun. Großes Aufatmen, die Gefahr gebannt. Denkste! Vor ihnen ein Schotterweg zur offiziellen Straße, doch über ‘Private Property’ – worauf zwei Hunde großen Wert zu legen schienen. Ich mag die Köter auch nicht! Angeleint, was auf besondere Heimtücke schließen lässt, und die Leinen so lang, dass sie das ganze Areal beherrschten. Da nahmen sie es lieber mit den im Dickicht lauernden Bullen auf und marschierten den Weg zurück.

Und der Obergärtner ist natürlich eine Obergärtnerin. Anne Golden heißt sie. M.

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Mittwoch, 14. Juni 2000

Nachdem wir gestern wohlbehalten den Bullen und Hunden entkommen sind, wollen wir heute dem Heiligen Patrick dafür Dank sagen und ihn auf seinem Berg besuchen. Acht Jahre lang haben wir ihn links liegen lassen, wenn wir nach Westport fuhren, doch nun ist es soweit. Wir passieren die Ruine von Murrisk Abbey, und dann kommt auch schon der Parkplatz, auf dem heute nur wenige Autos stehen.

Knapp 800 Meter hoch wohnt der Heilige, auf einem Berg, so kahl, wie alle anderen. Achthundert Meter klingt nicht nach viel, aber der Aufstieg ist nicht ohne. Eine steile Geröllpiste, von Tausenden von Pilgern pro Jahr zermürbt. Je höher man kommt, desto grandioser wird die Aussicht auf die Clew Bay mit ihren unzähligen flachen Eilanden und Sandbänken. Vor mehr als vierhundert Jahren wurde sie von Gráinne Ní Mháille auf Clare Island am Ausgang der Bucht kontrolliert. Ein feindliches Schiff wäre nicht weit gekommen.

Wir steigen bergan und rutschen bei jedem Schritt vorwärts einen viertel Schritt zurück. Klingt nach einem Passionsweg, auch wenn wir nicht barfuß gehen. Andere auch nicht, es sind wohl Touristen wie wir. Schließlich frage ich mich, ob das Unternehmen überhaupt weise ist. Vielleicht, oder sogar sehr wahrscheinlich, hat sich der Heilige den Wohnsitz da oben nur deshalb ausgesucht, WEIL ER SEINE RUHE HABEN WILL! Dann wäre es unklug, ihm auf den Wecker zu fallen. Mein Mädchen ist der gleichen Ansicht, und so beenden wir die Expedition vor dem letzten steilen Anstieg zum zuckerhutartigen Gipfel, setzen uns auf einen Felsen und beobachten, wie sich der weniger einfühlsame Teil der Menschheit auf die Spitze quält. Und gerade jetzt schiebt St. Patrick eine graue Wolke über jene Uneinsichtigen. Es geschieht ihnen Recht, und ich halte die Szene mit dem Teleobjektiv fest.

Beim Abstieg kommen wir erneut an Reek’s Coffee Shop vorbei, wie dem handgemalten Pappschild an einer Feldsteinmauer zu entnehmen ist. Davor ein junger Mann, der auf einem Gaskartuschenkocher Tee zubereitet und ihn zum Verkauf anbietet. Irland, das Land der Heiligen, Sonderlinge und Unternehmer. Sollten wir zu einer dieser Kategorien gehören, dürfte es weder die erste, noch die letzte sein.

Wir kaufen in Westport ein, erklären beim Geldabholen einer einheimischen Dame die Bedienung des Bankautomaten und drücken für sie die Knöpfe. Angst, dass wir ihre Geheimnummer erspähen, scheint sie nicht zu haben. Dann geht es an den heimatlichen Herd: Backkartoffeln, Crab Claws, Knoblauchsauce und ein bunter Salat. Dazu zwei Pints Guinness aus dem Angler’s Rest gegenüber.

*  *  *

Es wird dunkel. Ein Torf-Brikett-Feuer im Kamin, eine Kerze auf dem Tisch, eine zweite auf dem Sims. Mein Mädchen singt ‘Three Scores and Ten’ und ich greife zur Mundharmonika.

And it’s three score and ten boys and men
     Were lost from Grimsby Town,
From Yarmouth down to Scarborough
     Many hundreds more were drowned.
Their herring craft and their trawlers,
     Their fishing smacks as well,
Alone they fight the bitter night
     And battle with the swell.

Nur die Elfen draußen vor der Tür hören zu, und das ist auch gut so.

MaureenWo er Recht hat, hat er Recht! M.

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Donnerstag, 15. Juni 2000

Die Maschinerie auf der anderen Straßenseite wird abgebaut – man hat wohl gefunden, was man suchte. Wir fahren derweil nach Clifden und ich erwerbe das Kleine Handbuch irischer Elfen. Laut Klappentext kann es die großen wissenschaftlichen Werke nicht ersetzen und beschränkt sich auf jene Arten, denen der Mensch üblicherweise begegnet, soll aber für eine erste Klassifizierung und Zuordnung recht nützlich sein. Verhaltensmaßregeln für den Fall einer Begegnung werden gleichfalls gegeben.

Am Feenteich, © Hildegard Vogt-KullmannAnschließend wandern wir bei grauem Himmel ein Stück die Trasse der alten Galway-Clifden-Eisenbahn entlang, beginnend dort, wo sie vor Clifden zum letzten Mal die heutige N 59 kreuzte. Der Himmel wird zunehmend dunkler, Mohnblumen leuchten am Wegesrand und links unter uns zeigt sich Loch na Baile, Seerosen auf dem unbewegten Wasser. Teichrosen, korrigiert mich mein Mädchen, Seerosen haben ein kräftigeres Gelb.

Wir steigen zum Wasser hinab und sie macht ein paar Fotos. Welche Art von Elfen hier wohl wohnt? Ich ziehe das soeben erworbene Handbuch zu Rate. Die Umgebung spricht für den Wohnsitz einer Watershee, ein Elf weiblichen Geschlechts von meist von recht tückischer Art. Nur wer ein Kreuz oder geweihtes Amulett bei sich trägt, ist davor gefeit, durch ihren süßen Gesang in ein Moorloch oder einen See gelockt zu werden. Wir haben zwar kein Amulett zur Hand, doch gestern Abend heiligen Knoblauch gegessen und hören womöglich deshalb keinen süßen Gesang.

So ist es auch kein Elf, der uns aufhält, sondern ein Zaun quer über dem Bahndamm mit einem Tor, auf das ‘Private Property’ gemalt ist. Und weil dagegen weder Knoblauch noch geweihte Amulette helfen, kehren wir um.

*  *  *

Am Abend sind wir wieder in Clifden. Nachdem mein Mädchen aus purer Neugier Braised Lamb Shank bestellt hat, weiß sie, was das ist: eine Art gekochte Lammhaxe, die sie nicht mag. Doch die Central Bar ist nicht weit, und dort spielen heute Abend die Dúchas. George heißt übrigens gar nicht George, sondern Michael Casey, ist aber – abgesehen von der Haarlänge – der gleiche George, der früher zusammen mit Charlie O’Malley auftrat und seine Gitarre auf der Harley Davidson spazieren fuhr. Seán, der Bodhránspieler, wohnt an der Sky Road, hat in alten Zeiten mit einem ‘Long Fellow’ im Paddy Coyne’s Celtic Rock gespielt, bevor der Pub dann schließen musste um es nach drei Jahren aufs Neue zu versuchen. Ob wir uns seiner erinnerten? Mein Mädchen beschließt, sich zu erinnert zu haben. Auch Gerard, der Landlord und Sohn des seligen Paddy Coyne, spielte damals mit.

Rappelvoll ist die Central Bar, hinter der Theke Milch-und-Honig, der man ihre zwei Kinder nicht ansieht. Eigentlich ist kein Sitzplatz mehr frei, doch Seán hat nichts dagegen, dass wir uns an seinen Bodhrán-Tisch setzen, darauf ausgebreitet eine Palette diverser Klöppel und unterschiedlichster Streichel-Besen. Doch mitunter peitscht er auch mit ihnen auf seinen ziegenfellbespannten Holzrahmen ein. Virtuos Danny, der Akkordeonspieler, und solange Michael George singt, ist die Musik einfach Spitze.

Maureen... denn so gut wie er blöke ich schon lange! M.

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Freitag, 16. Juni 2000

Der Sommer hat sich zurückgemeldet und einen Sack Wind mitgebracht. Wir sitzen auf einem Stein am fast menschenleeren Glassilaun Strand, sehen zu, wie der Wind eine Sandwolke vor sich her treibt, bis sie über dem Meer verschwindet. Es ist Ebbe, was den Strand unendlich weit und die kleine Insel zu Fuß erreichbar macht. Doch der Wind bläst uns den Sand in die Nasen. So wandern wir über den feuchten Spülsaum nach Westen, eine geschütztere Stelle zu finden.

Eine seltsame Erscheinung über der Kuppe des Mweelrea auf der anderen Seite der Fjordmündung gibt uns ein Rätsel auf, bis mir mein Mädchen scharfsinnig klar macht, dass es sich bei dem, was ich für eine seltsam geformte Wolke hielt, zweifelsfrei um einen irischen Elf handelt. Wir ziehen unser Handbuch zu Rate und stellen fest, dass hier ein Luftgeist, ein Sheerie, sein Unwesen treibt. Gleichfalls eine recht heimtückische Spezies, doch wenn man einen Hufnagel bei sich hat, soll man vor ihm sicher sein. Ein Zahnimplantat wirkt offensichtlich auch.

*  *  *

7:30 Uhr p.m., halb acht am Abend. Der Wind hat nachgelassen und die Sonne am fast wolkenlosen Himmel ändert ihre Farbe von gelb nach orange. Wir besuchen die ‘Lübecker’ auf ihrem Hügel oberhalb von Tully. Als wir die kiesige Zufahrt hochgehen, steigt uns Rauch in die Nasen, doch keine Destille wird angeheizt, sondern Rainer rodet vier Quadratmeter seiner Wildnis um einen Baum zu pflanzen. Auch Regine hat uns schon erspäht und kommt aus der Haustür.

Nun sitzen wir in ihrem Wohnzimmer, unter uns Tully im Abendlicht – ein wenig wie das Dorf aus Local Hero. Zehn Jahre wohnen sie schon hier, wenngleich nicht das ganze Jahr über. Rainer öffnet eine Flasche Rotwein, und wir erfahren eine Menge über die Gegend und die Menschen und wie sich die Zeiten geändert haben. Manches davon haben wir in den letzten acht Jahren selbst mitbekommen, auch wenn wir nur den Juni hier verbringen. Nach zwei Stunden ist die Flasche leer* und wir wandern heim, beschließen den Abend bei einem Pint Guinness im Paddy Coyne’s.

Maureen*... wobei hinzuzufügen ist, dass an dem Wein nur die Gäste genippt haben! M.

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Reiseberichte Irland: Connemara 2000
© 2001 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 27.07.2006